"Werthester Gevatter!"

Musterbriefe aus dem Jahr 1875

Liebe Leserin, lieber Leser!

Die folgende kleine Briefauswahl ist entnommen einem Büchlein, das ich auf einem Flohmarkt hier in Winningen am Moselufer erworben habe:

Alois Josef Ruckert: Briefsteller für Volks- und Fortbildungsschulen. Anleitung zum richtigen Briefschreiben mit mehr als 200 ausgearbeiteten Briefen und Geschäftsaufsätzen. Würzburg: Wilhelm Keller 1875.

Die in dieser Musterbriefsammlung enthaltenen Texte sind aufschlußreiche Momentaufnahmen zu den Lebensverhältnissen im ländlich-katholischen Milieu Süddeutschlands der Gründerzeit. Du kannst (als Lehrer oder Lehrerin) Schüler und Schülerinnen mit dieser reizvollen sozial- und kulturgeschichtlichen Quelle traktieren, Du kannst sie aber auch einfach nur zum Vergnügen lesen und Dich im Zeitalter elektronischer Briefe via E-Mail über die Distanz des damaligen altväterlich-betulichen Briefstils zu unseren heutigen Schreibgewohnheiten amüsieren. Nun will ich Dich aber nicht länger aufhalten und wünsche Dir eine unterhaltsame Lektüre!

Dein Dir gewogener Herausgeber
Klaus Graf

PS: Eine Abbildung des Titelblatts und das Vorwort des Buchs findest Du in Ulrich Harschs wunderbarer Bibliotheca Augustana.


pocci-schreiber



Nr. 131 Ein Mädchen vom Lande an eine Freundin in der Stadt.

Geliebte Julie!

Große Freude haben Deine lieben Zeilen mir und meinem guten Manne bereitet. Hiefür, und insbesondere für die unserer Kleinen zum Geschenke gemachten Spielwaaren unsern Dank! Du solltest sehen, wie Klara sich daran ergötzt. Bald hascht sie nach der großen, bald nach der kleinen Puppe; jetzt kramt sie ihren Hühnerhof, dann ihre Küche oder den Kaufladen aus. Bald ruft sie den Papa, bald mich hinzu und wird nimmer satt des Spielens.

Mit Vergnügen sehen wir Deinem Besuche in nächster Woche entgegen und werden uns bemühen, die Lichtseiten des Landlebens Dir vorzuführen. Deiner angekündigten Naschhaftigkeit kann bis dahin vollkommen Genüge geschehen; denn Beeren aller Art fangen jetzt auch in unserm Garten zu reifen an. Mein Mann hat Dir auch schon eine Beschäftigung zugedacht: die Fütterung der französischen Kaninchen. Das sind allerliebste Thierchen, an denen Du große Freude haben wirst. Auch steht ein zierlicher Rechen für Dich bereit zur Mithilfe auf Wiese und Kleefeld. Spaziergänge in den nahen Wald, wo Du Erdbeeren in Hülle und Fülle finden wirst, dürften Dir ganz besonders angenehm sein.

Als interessante Neuigkeit erfahre ich soeben, daß Herr Verwalter Spitzfelder auf dem Lindenhof sich mit Fräulein Rosa Emsig, Gouvernante bei Herrn von Faulstich, verlobt hat.

Solltest Du Lust haben, schon am nächsten Mittwoch Deine Reise hierher anzutreten, so wirst Du von Elbstadt an Gesellschaft haben in der wackeren Frau des hiesigen Lehrers Rohrmann, die Dir von früher noch in guter Erinnerung sein wird.

Mit großen Vergnügen sehen wir Deiner Ankunft entgegen. Unter vielen herzlichen Grüßen an die lieben Deinigen empfehle ich mich mit meinem Manne Deiner steten Freundschaft und verbleibe

Deine

unwandelbare Freundin
Elly.

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Nr. 96. Dank für geleistete Hilfe bei einem Brande.

Hochgeehrter Herr Ruppert!

Bei dem gefährlichen Brande dahier wäre ohne Zweifel mein ganzes häusliches Anwesen ein Raub des wüthenden Elementes geworden, wenn nicht Sie mit Ihrer gut geschulten Feuerwehrmannschaft so rechtzeitig eingetroffen wären und durch rasches, vernünftiges Eingreifen den Flammen Einhalt geboten hätten. Am Tage des Unglücks war ich zu sehr aufgeregt und beschäftigt, um Ihnen noch meinen Dank auszusprechen. Dies thu' ich anmit brieflich, da ich zur mündlichen Abstattung desselben jetzt nicht vom Hause abkommen kann. Möge der Allgütige Sie in seinen Schutz nehmen, daß bei Ausübung Ihres menschenfreundlichen. aber gefahrvollen Berufs, Sie stets unversehrt bleiben! Möge nie der schreckenvolle Ruf Feuer! aus Ihrem Besitzthum erschallen! Haben Sie die Gewogenheit, auch der gesammten Feuerwehr meinen herzlichsten Dank abzustatten. Lebenslang werde ich mich nennen

Ihren
dankbaren N.

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Nr. 19. Ein Mädchen erkundigt sich um einen Platz als Ladnerin.

Hochgeehrter Herr Gründer!

Vor Allem muß ich um Entschuldigung bitten, daß ich mir erlaube, Ihnen mit diesen Zeilen lästig zu fallen. Ich bin die 18jährige Tochter des Seilers N. v. U. Wir sind unser 8 Geschwister und ist der Verdienst meines Vaters nicht immer zur Erhaltung so großer Familie hinreichend. Deßhalb finde ich es billig, nach einer Erwerbsquelle Umschau zu halten. Wie ich vernahm, verheirathet sich Ihre Ladnerin in Kürze, wodurch deren Stelle in Erledigung kommt. Darum gestatte ich mir ganz ergebenst, Sie zu bitten, mich mit dieser Stelle zu betrauen. Im Rechnen, in der Buchführung und Correspondenz habe ich mir einige Geschicklichkeit erworben und bin gerne bereit, eine Probezeit bezüglich meiner Brauchbarkeit im Geschäfte zu bestehen. Sie werden durch gütige Beantwortung dieses Schreibens und durch Erfüllung meiner Bitte mich und die Meinen zu großem Danke verpflichten. Mit vollkommenster Hochachtung verharrt

Crescenzia Feller, Seilerstochter.

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Nr. 91. Ein Lehrling gratulirt seinem ehemaligen Lehrer zum neuen Jahre.

Sehr verehrter Herr Lehrer!

Gestatten Sie mir, daß ich beim Anfange des neuen Jahres Ihnen die Gefühle und Wünsche, die ich für Sie hege, ergebenst ausspreche. Sie haben der Güte und Liebe, die Sie mir von jeher erzeigten, dadurch die Krone aufgesetzt, daß Sie mich Herrn Gernet, meinem nunmehrigen Prinzipal, als Lehrling empfahlen. Jetzt werde ich erst gewahr, was ich Ihnen Alles verdanke. Keine Mühe war Ihnen zu viel, mir die besten Schulkenntnisse beizubringen, auf alles Nützliche mich aufmerksam zu machen und zur redlichen Pflichterfüllung mich anzuspornen. Gott segne Sie für Ihre Mühen und Ihre Güte und lasse Sie noch eine lange Reihe von Jahren in Ihrer nützlichen Berufsthätigkeit ein glückliches Leben führen. Mit der Bitte, mir auch fernerhin Ihre Gewogenheit zu erhalten, bin ich

Ihr
dankbarer Schüler
Romuald Then.

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Nr. 104. Ein Vater ermahnt seinen Sohn.

Lieber Oskar!

Ganz unsäglichen Schmerz hat es mir gemacht, als ich erfahren hatte, daß Dein Lehrherr mit Dir unzufrieden sei und zwar aus Gründen, die zu hören ich nimmer erwartete. Unter Thränen hast Du mir bei Deinem Fortgehen die heilige Versicherung gegeben, Deinen Eltern und Dir selbst Ehre zu machen und Gott stets vor Augen zu haben. Deine Mutter ist untröstlich und weint Tag und Nacht über Deine Verirrungen. Ist die Liebe zu Gott und zu Deinen Eltern in Deinem Herzen erstorben, dann fahre so fort! Du bist auf dem besten Wege, ein schlechter Mensch zu werden, Schande auf Dich und auf uns zu häufen! Wenn aber die Thränen Deiner Eltern Dein Herz noch rühren können, und wenn Du noch im Stande bist, ein kindlich=frommes Vater unser zu beten: dann bedenke Deinen Fehler, verlaß' die schmutzige Gesellschaft, die Du zu lieben scheinst und kehre zurück auf die Pfade der Tugend! Folge Deinem Meister der es gut mit Dir meint! Höre auf meine Ermahnungen und trockne die Thränen Deiner Mutter! Ich werde mich bald persönlich von Deiner Besserung überzeugen.

Dein betrübter Vater N.

[S. 118-119] Lehrvertrag

Die Endunterzeichneten haben heute den folgenden Vertrag geschlossen:

§ 1. Herr Steinschleifer Johann Bär in K. nimmt den Sohn Eugen des Herrn Tapezierers Franz Papp als Lehrling in sein Geschäft auf, gegen die Verpflichtung
a) demselben alle zu diesem Geschäfte nöthigen Anleitungen zu geben;
b) ihn zu keinen anderen Geschäften zu verwenden;
c) ihn zum Besuch der Fortbildungsschule und des vorgeschriebenen Religionsunterrichtes anzuhalten;
d) ihm vollständige und gute Kost und entsprechende Wohnung mit Bett zu geben;
e) ihn nach drei Jahren von seiner Lehrzeit freizusprechen.

§ 2. Herr Tapezierer Franz Papp macht sich dagegen verbindlich, das Lehrgeld im Betrage von 360 Mark in 3 jährlichen, Weihnachten fälligen, gleichen Raten, die erste Rate Weihnachten 1875, zu zahlen, sowie für anständige Bekleidung zu sorgen und Zahlung aller etwaigen Krankheitskosten zu leisten;

§ 3. Der Lehrling verspricht Treue, Gehorsam und gute Aufführung.

§ 4. Für allen Schaden und Nachtheil, den Eugen seinem Lehrherrn zufügen sollte, ist dessen Herr Vater Bürge.

§ 5. Sollte der Lehrling vor der abgelaufenen Lehrzeit, aus was immer für Gründen, aus der Lehre treten, so ist für das laufende Jahr das Lehrgeld zu entrichten.

§ 6. Falls der Lehrherr aus triftigen Gründen den Lehrling zurückschicken sollte, so wird das Lehrgeld nach Verhältniß der Zeit, die er bereits gelernt hat, berechnet.

Zur Bekräftigung ist dieser Contract von beiden Contrahenten unterzeichnet.

K., den 1. Januar 1875.

Johann Bär.
Franz Papp.

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Nr. 107. Warnung vor Dingung einer schlecht beleumundeten Person.

Werthester Schwager!

Gelegentlich einer Begegnung mit dem Boten N. erfuhr ich, daß Du im Begriff seist, den sogenannten Langenfritz aus O. als Knecht zu dingen, und habe nichts Eiligeres zu thun, als Dir davon abzurathen. Fritz ist ein sehr verrufener Bursche und steht wegen mehrerer schlimmen Vorkommnisse in starkem Verdacht. Dabei ist er höchst unwissend, roh, raufsüchtig und dem Trunke ergeben. Auch in sittlicher Hinsicht hat er sich schon vergangen. Hier stand er bei 2 Bauern im Dienst und konnte ihn keiner brauchen. Bewahre Dich noch bei rechter Zeit vor Schaden und nimm lieber keinen Knecht, als diesen! Sei mit den Deinen von uns Allen herzlichst gegrüßt und laßt bald etwas von Euch hören!

In Liebe
Dein Schwager Guido.

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Nr. 85. Dank für die Besorgung eines Auftrags.

Liebe Frau Dörmühl!

Für die rasche, freundliche Besorgung der Wolle und Seide, sowie des Stickmusters, statte ich Ihnen meinen verbindlichsten Dank ab. Die von Ihnen getroffene Farbenauswahl ist überraschend genau und geschmackvoll, und wird sohin die Stickerei eine recht nette werden. Ich wünsche nur, daß auch Sie mir bald eine Gelegenheit zur Erweisung eines Freundschaftsdienstes geben, daß ich wenigstens theilweise für die Ihnen so häufig verursachten Mühen meine Schuld abtragen kann. In Freundschaft und Liebe

Ihre treue
Johanna Gerlach.

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Nr. 108. Eine Schwester auf dem Lande macht ihrer Schwester in der Stadt Vorwürfe.

Liebste Schwester!

Heute muß ich im Auftrag der Eltern einige ermahnende Worte an Dich richten. Von verschiedener Seite wurde uns kund gethan, daß Du seit einiger Zeit so gar nobel daher kämest. Das betrübt die Eltern sehr; denn Hochmuth, sagen sie, kommt vor dem Fall. Zwar hoffen wir, daß die guten Grundsätze des Hauses in Deinem Herzen feste Wurzeln gefaßt haben werden und daß Du das Sprüchwort beherzigest: Der Krug geht zum Brunnen, bis er bricht. Du hast eine gute Stelle; da sieh zu, Dir etwas zu erübrigen und hänge Deinen Lohn nicht an unnütze Kleider und theueren Schmuck. Bedenke, daß unsere Familie arm ist und es sich daher für Dich nicht schickt, die große Dame spielen zu wollen. Sei froh, wenn Du Gelegenheit hast, Dir Geld zu sparen; später wirst Du schon eine nützlichere Verwendung für dasselbe finden. Werde nicht ungehalten wegen dieses Schreibens und sei überzeugt, daß unsere Eltern es gut mit Dir meinen. Deßgleichen

Deine aufrichtige Schwester
Franziska

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Nr. 79. Ein Soldat schreibt aus der Kaserne nach Hause

Theure Eltern und Geschwister!

Ich bin nun 3 Wochen in der Caserne und geziemt es sich wohl, daß ich einmal etwas von mir hören lasse. Mein Befinden ist, Gott sei Dank! gut. Ich bin bei der 5. Compagnie, in welcher sehr große Ordnung und Pünktlichkeit herrscht. Der Hauptmann ist zwar im Dienst sehr streng, aber außer demselben sehr wohlwollend. Auch der Feldwebel ist ein wackerer Mann, der mich gut leiden kann. Da derselbe Familie hat, wird es ihm ein Gefallen sein, wenn Sie einmal einen Korb voll Eier und Butter an ihn schicken. Ich besuche allabendlich die Unteroffiziersschule, wo mir die in der Volksschule gewonnenen Kenntnisse große Vortheile gewähren. Grüßen Sie den Herrn Lehrer bestens und sagen Sie ihm, daß ich erst jetzt einsehe, wie gut er gethan hat, mich öfter seinen Ernst fühlen zu lassen. Nun danke ich ihm von ganzem Herzen dafür. Ich schäme mich manchmal ordentlich für manchen Kameraden, der nicht einmal im Stande ist, einen Brief zu schreiben oder ihn zusammenzulegen und zu adressiren. Nächstens mehr! Herzliche Grüße an Sie und alle Bekannte von

Ihrem dankbaren Sohn
Julian.

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Nr. 89. Ein Soldat schreibt aus der Garnison seinem Vater zum Geburtstage.

Viele Jahre hatte ich das Glück, Ihnen zum Jahrestage Ihrer Geburt mündlich meine Gratulation ausdrücken zu können. Heuer ist das nun anders, da die Pflicht gegen das Vaterland mich in die Caserne gerufen hat. So will ich denn brieflich aus kindlichem Herzen Ihnen meine Liebe und meinen Dank aussprechen für Ihre Sorge und Güte. Gott beschütze Sie und gebe Ihnen auf noch viele Jahre Wohlsein und Glück. Was mich betrifft, so werde ich durch ordentliches Betragen und gewissenhafte Pflichterfüllung in meinem jetzigen Berufe Ihren Wünschen und Hoffnungen möglichst entsprechen. -

In den letzten 3 Wochen war ich durch die täglichen Exerzierübungen bei großer Hitze recht angestrengt. Uebrigens gefällt mir das Casernenleben ganz gut und begreife ich nicht, wie Mancher vor dem Soldatenleben eine so große Scheu haben kann. Freilich, mit leeren Taschen bei der austrocknenden Hitze und den vielen ermuedenden Uebungen ist das Leben gerade nicht beneidenswerth. Ich hoffe, bald einmal Sie oder die Mutter hier zu sehen. Es ist doch Alles wohl zu Hause? Was gibt's Neues? Grüße an die liebe Mutter und die Geschwister! Mit kindlicher Liebe

Ihr dankbarer Sohn
Bruno.

Nr. 90 Antwort zu vorigem Briefe.

Lieber Sohn!

Ich danke Dir vielmal für Deine Glückwünsche zu meinem Geburtstage und lebe der Ueberzeugung, daß Du nicht bloß des Herkommens wegen, sondern aus Deinem ganzen Herzen mir gratulirt hast. Es gefällt mir, daß Du als Soldat gewissenhafte Pflichterfüllung Dir zum Grundsatze gemacht hast. Aber erfülle nicht nur die Pflichten Deines edlen Berufs, sondern auch die gegen Gott und gegen Dich. Der Soldat ist in großen Städten gar vielen Gefahren ausgesetzt und mancher hoffnungsvolle Sohn ist körperlich und moralisch zu Grunde gerichtet in die Heimat zurückgekommen. Ich baue auf Deinen Charakter, daß du als ganzer M a n n überall dich zeigest. Pflege keinen Umgang mit glaubenslosen unsittlichen Buben!

Auf Allerheiligen wird Deine Schwester Katharina Dich besuchen; für mich und die Mutter ist jetzt die Reise zu beschwerlich. Wir sind alle gesund. Als Neuigkeit theile ich Dir mit, daß des Bürgermeisters Franz hoffnungslos am Typhus darnieder liegt. - Anliegend empfängst du zwei Zinsabschnitte zu je 3 1/2 fl. [Gulden] Dieselben müssen Dir als Taschengeld ausreichen bis zur Ankunft Katharina's. Nun halte Dich wohl und mache Deinem alten Vater Ehre! Sei von uns Allen herzlich gegrüßt, insbesondere von

Deinem treuen Vater N.

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Nr. 106. Eine Witwe ermahnt ihren Sohn, der als Student in einer Stadt ist.

Mein lieber Hermann!

Vor kaum acht Tagen habe ich Dir 20 Mrk. geschickt und heute erhalte ich Deinen Brief, worin Du schon wieder Geld wünschest. Geld, nichts als Geld! Das ist Dein tägliches Gebet. Ich kann gar nicht begreifen, was Du damit anfängst. Du scheinst es geradezu muthwillig zu vergeuden. Weißt Du nicht, daß an jedem Kreuzer, den ich Dir sende, der saure Schweiß langer Nächte haftet? Welche Versprechungen hast Du mir gemacht? Was hast Du Deinem seligen Vater am Sterbebette gelobt? Ich brauch Dich nicht daran zu erinnern. Kannst Du wünschen, daß ich bitter darben soll, indeß Du meine hart verdienten paar Sparpfennige verschwendest? Sei mäßig, eingezogen und fleißig! Bewahre ein reines Herz und hüte dich vor schlimmer Kameradschaft! Nach Ablauf dieses Monats werde ich selbst nach S. kommen und über Deinen Lebenswandel und Deine Kenntnisse die genauesten Erkundigungen einziehen. Wenn ich Unangenehmes hören werde, kommst Du wieder hierher, um unter meiner Aufsicht ein Handwerk zu erlernen. Vorderhand bekommst Du keinen Pfennig. Hüte Dich aber, Schulden zu machen! Deinen Hausherrn habe ich ersucht, das Geld für die nothwendigsten Auslagen vorzustrecken. Ich hoffe, daß Du in Dich gehen und nicht die letzten Lebenstage Deiner Mutter verkümmern wirst.

Deine betrübte Mutter.

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Nr. 123. Abschied eines in den Krieg ziehenden Soldaten.

Beste Eltern!

Soeben wurde der vorauszusehende Befehl zum Ausmarsche ertheilt. Morgen früh geht's an die Landesgrenze gegen den Feind. Seien Sie wegen meiner nicht besorgt! Gott wird mit mir sein, so lange ich ihn vor Augen habe, und ohne seinen Willen fällt auch kein Haar von meinem Haupte. Zwar ist mein Herz schwer beim Gedanken, Ihnen nicht zum Abschiede den Kuß der Liebe und Dankbarkeit geben zu können; aber muthig schlägt es wieder, wenn ich bedenke, daß ich meine Kraft aufbieten darf gegen die Frechheit eines übermüthigen Feindes. "Mit Gott, für König und Vaterland!" Das ist mein Wahlspruch, liebe Eltern! Leben Sie wohl, lassen Sie sich nicht bange um mich sein! Mag kommen, was da kommen will, Ihr Segen, Ihre Ermahnungen, werden mich überall begleiten. Gott schütze Sie und das bedrängte Vaterland! Adjeu!

Ihr dankbarer Sohn
Oskar.

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129. Brief an einen Verwandten.

Lieber Gevatter!

Wie kommt es, daß Du so lange kein Lebenszeichen von Dir gibst? Ist Deine Tinte eingefroren oder die Feder verrostet? Schon bist Du mir die Beantwortung zweier Briefe schuldig und nun kommt noch ein dritter: Da sieh Du zu, fertig zu werden! Hoffentlich bist Du doch mit den werthen Deinigen munter und wohlauf? Ein besonderes Vorkommniß wird sich auch nicht ereignet haben, da ich wol in diesem Falle hievon benachrichtigt worden wäre!

Bei uns geht auch Alles seinen gewohnten Gang. Dein Pathe Anselm wurde heuer aus der Werktagsschule entlassen, und ich habe vor, denselben zum Schulfache zu thun. Er hat viel Talent, insbesondere auch zur Musik, und will ich ihn zur Vorbildung im Herbste in die Präparandenanstalt [Lehrerseminar] L. schicken. Was meinst Du hiezu? -

Unsere Feldfrüchte stehen ausgezeichnet; auch der Weinstock und die Obstbäume berechtigen zu besten Hoffnungen. Meinen Viehstand habe ich durch eine Prachtkuh englischer Race vermehrt. 10 junge Schweinchen verkaufte ich zum Durchschnittspreis von 20 Mark per Paar.

Wolle den Wachsbleicher B. benachrichtigen, daß ich noch einen Vorrath von circa einem Centner Bienenwachs habe, das ich zu billigem Preise abgebe.

Auf baldige Post hofft
Dein Emil.

Nr. 130. Antwort zu vorigem Briefe.

Werthester Gevatter!

Um Dir zu beweisen, daß weder meine Feder eingerostet, noch meine Tinte eingefroren, auch um mein Gewissen nicht mit noch größerer Briefschuld zu belasten, bin ich veranlaßt, das Versäumte nachzuholen. Doch muß ich Dich vorher noch ob meiner Saumseligkeit um gütige Entschuldigung bitten. Es geht mir eben wie unzähligen Anderen: ein Brief, der nicht s o f o r t beantwortet wird, bleibt oft über Ungebühr liegen; aber aufgeschoben ist bei mir nicht aufgehoben!

Es freut mich, daß Deine Familie gesund ist. Auch uns fehlt, Gott sei Dank! nichts.

Bezüglich der Berufswahl meines Pathen habe ich jedoch nicht Deine Gesinnung, bin vielmehr erstaunt, daß er sich dem Lehrfache widmen soll.

Selbstverständlich habe ich nichts gegen diese Berufswahl an und für sich; denn der Lehrerstand ist ein hoher und heiliger und gerade in der Jetztzeit fühlt man recht seine Nothwendigkeit. Aber - leider! - dieser Stand nährt seine Leute schlecht. Da trifft das Sprüchwort zu: "Der Gaul, der den Haber verdient, bekommt ihn nicht." Es ist in der That eine Schande für unser Jahrhundert, daß es die Lehrer, denen wir unser Theuerstes, unsere Kinder, anvertrauen, so geringe besoldet und ist es zu wundern, daß der bereits sehr bedenkliche Lehrermangel nicht noch schneller um sich greift, umsomehr als die Zeitverhältnisse es talentvollen jungen Leuten ermöglichen, ohne viel Aufwand an Zeit und Geld sich schneller eine bessere Stellung zu verschaffen. Solange die Schulstellen nicht so dotirt sind, daß sie ihren Mann in einfach bürgerlicher Weise ernähren, scheint es mir eine überaus große Verantwortung für Eltern, ihre Kinder diesen Beruf ergreifen zu lassen. Ich habe diese Frage mit dem hiesigen Lehrer besprochen und theilt er ganz entschieden meine Ansichten. Willst Du durchaus, daß Anselm kein Oekonom [Landwirt] werde, so gib ihn in die Lehre zu einem tüchtigen Geschäftsmann! Ich komme am 18. ds. auf den Getreidemarkt in Sch., stelle wie gewöhnlich beim "Reiter" ein und sollte michs freuen, wenn Du gleichfalls kämest. Wir können dann uns ausführlich über Verschiedenes besprechen. Bis dahin haltet Euch alle wohl! Die herzlichsten Grüße von Haus zu Haus!

Dein aufrichtiger Gevatter
Wilhelm Herkert.

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seit 29.9.1998
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