Schlachtengedenken im Spätmittelalter

Riten und Medien der Präsentation kollektiver Identität

©Klaus Graf 1989, 1997




Ein Eintrag in dem 1432 angelegten Liber statutorum opidi Dursten [Anm. 1] der Stadt Dorsten im kölnischen Vest Recklinghausen galt der Abhaltung des sogenannten Streitfeiertags. Der Stadtbucheintrag beginnt mit lateinischen Gedenkversen, die von der Verjagung der Herren von Merveldt durch das Dorstener Schwert zwei Tage nach Thomas 1382 berichten. Es folgt der Beschluß von Bürgermeister, Schöffen und Rentmeister der Stadt Dorsten: Alljährlich soll man am Montag vor dem Mittwinterabend, also am strytvyrdages avent, am Abend feiertäglich läuten und Vesper und Vigilien begehen. Dabei soll der acht Männer gedacht werden, die in diesem Streit tot geblieben sind, sowie all jener, die um der Stadt willen gestorben sind oder noch sterben werden. Der Stadtbote hat Bürgermeister, Schöffen und Rentmeister bei Strafe von zwei Quarten Weins aufzufordern, an Vesper und Vigilien teilzunehmen und danach zu den Gräbern zu gehen, zunächst zum Friedhof vor St. Nikolaus-Feld und danach zum Kirchhof. Der Dienstag, der eigentliche Streitfeiertag - stryd vyrdage -, soll bei Strafe von drei Schillingen wie ein Sonntag gefeiert werden mit Feiertagsgeläut und einer Messe, nach Ausweis der historien dar up gemaket. Nach der Messe soll man in einer wonnetliker herliker processyen das Heilige Kreuz und die Bilder Mariens, des Hl. Nikolaus und des Hl. Georg innerhalb der Mauern umhertragen, wobei die Gildekerzen die Prozession anführen sollen, bei Strafe von drei Schillingen. Der Stadtbote fordert Bürgermeister, Schöffen und Rentmeister auf, an der Prozession und zwei Messen in der Kirche, einer Seelenmesse und einer Marienmesse, teilzunehmen, einen Heller zu opfern und zu den Gräbern zu gehen. Es folgt eine Bestimmung über die Verteilung der ausgesetzten Rente von 25 Schillingen an die geistlichen Dignitäre. Der Rest des Präsenzgeldes fällt den Armen zu. Außerdem sollen vier Kerzen vor dem hl. Sakrament, vor dem Marien-, dem Nikolaus- und dem Georgsbild aufgestellt werden.

Noch ein zweiter Eintrag des Dorstener Stadtbuchs handelt von der Streitfeier. Neu sind die Bestimmungen über Armenspende und das Gastmahl. Armen Leuten soll man ein Pfennigbrot und Heringe geben. Am Abend sollen sich die Ratsfreunde auf dem Rathaus eine behorliche Mahlzeit bereiten lassen. Darüber hinaus geladen werden: der Pastor, sein Kaplan, der Richter, der Freigraf, die Altbürgermeister außerhalb des Rats sowie der Rentmeister und der Sekretär. Nach der Mahlzeit soll man für jene beten, die in dem Streit und bei anderen Anlässen für die Stadt gefallen sind. Aus den nun folgenden Hexametern erfährt man, daß acht Dorstener und sechs Feinde gefallen sind.

Als am 28. Februar 1588 Dorsten glücklich einen feindlichen Anschlag im sogenannten Kölner Krieg abwehren konnte, verlegte man den Streitfeiertag auf diesen Termin. 1771 wurde er zusammem mit anderen Feiertagen aufgehoben.

Beide Statutenbucheinträge enthalten als Anhang eine Namensliste der Gefallenen. Die ältere Liste des ersten Eintrags beginnt mit den acht Namen der 1382 Getöteten. Danach werden bei weiteren Fehden und Auseinandersetzungen für die Stadt Gefallene aufgeführt - von verschiedenen Händen des 15. Jahrhunderts nachgetragen. Die Überschrift der jüngeren Liste gibt an, daß die nachstehenden bei der Verteidigung des gemeinen Besten - commune bonum - der Stadt Dorsten getötet wurden.

Soweit die Verhältnisse in der westfälischen Kleinstadt Dorsten. Bei dem vorgestellten städtischen Schlachtengedenken handelt es sich nicht um einen Einzelfall; ähnliche Schlachtenjahrtage sind in zahlreichen ober- und niederdeutschen Städten nachweisbar, von der stadtgeschichtlichen Forschung jedoch noch nicht vergleichend in den Blick genommen worden.

Die Konzentration auf den städtischen Bereich bedarf natürlich der Rechtfertigung. Immerhin hat Georges Duby in seiner nun auch übersetzt vorliegenden Studie Der Sonntag von Bouvines die Wirkung und das Nachleben der Schlacht am 27. Juli 1214 untersucht, und dabei festgestellt, daß als eigentliches Denkmal, als wahre Erinnerungsstätte der Schlacht ein vom französischen König gestiftetes Gotteshaus zu gelten hat, in dem immerwährende Danksagungen gesungen werden sollten [Anm. 2]. Die Praxis, auf Schlachtfeldern und zur Erinnerung an Schlachten Gedächtniskapellen, -kirchen oder gar Klöster zu errichten, war weitverbreitet.

Daß Schlachten vielfach Kristallisationspunkte nationalen Bewußtseins waren (und sind), braucht hier ebensowenig ausgeführt zu werden wie die früh- und hochmittelalterliche Vorgeschichte der hier vorzustellenden Schlachtenerinnerung.

Als Herzog Gerhard von Jülich am Hubertustag 1444 einen Sieg über Geldern davontrug, stiftete er zum Dank eine Ritterbruderschaft, den St.Hubertus-Orden. Bezeichnenderweise fehlt jedoch in den Statuten dieses Ordens jeder explizite Hinweis auf ein Schlachtengedenken [Anm. 3]. Verkürzt könnte man formulieren: dynastisch-aristokratisches Schlachtengedenken ist exklusive "Privatfrömmigkeit", genossenschaftlich-gemeindliches Schlachtengedenken ist öffentliche Demonstration einer Sakralgemeinschaft. Landesherren und Städte konnten aber auch Hand in Hand arbeiten. Typisch scheint mir die Kooperation nach der Schlacht von Puchheim 1422. Die siegreichen bayerischen Herzöge stifteten eine Gedächtniskapelle und der Münchner Rat einen Jahrtag.

Meine Betonung des genossenschaftlich-gemeindlichen Aspekts stützt sich nicht zuletzt auf die Beobachtung, daß außer den Städten, soweit ich sehe, nur noch die Schweizer Landgemeinden in ähnlicher Weise ausgeprägte Schlachtenjahrtage, die sogenannten Schlachtjahrzeiten, gekannt haben. Diese Feiern, die jedoch zum Teil ebenfalls auf städtische Gedenktage zurückgehen, haben in der Schweizer Forschung viel Beachtung gefunden. Der Schweizer Volkskundler Richard Wolfram schreibt etwa: "Durch die Schlachtjahrzeit wird die volkliche Geschlossenheit, wie sie in den Kriegen zutage trat, nun auch in friedlichen Zeiten herbeigeführt" [Anm. 4]. Da ihm die deutschen Schlachtengedenktage nicht bekannt waren, glaubt Wolfram, diese Art der Totenehrung sei in anderen Ländern ohne Beispiel.

Über die Genese jener Stadtfeste, die der Erinnerung an Schlachten oder Überfälle gelten, läßt sich feststellen, daß die vorgenommene Ritualisierung aus der Praxis der Memoria ableitbar ist. Die Bedeutung der Memoria für früh- und hochmittelalterliche Gemeinschaften als, wie Otto-Gerhard Oexle formulierte, "soziales Handeln, [...], das Lebende und Tote verband" [Anm. 5] ist in den letzten Jahren zur Genüge betont worden. Das Schlachtengedenken ist zunächst liturgische Memoria für die Gefallenen, und so erklären sich im Ritus von Dorsten nicht nur die Gefallenenliste, die man eher in einem Jahrtagsverzeichnis vermuten würde, sondern auch die begleitende Armenspende und das gemeinsame Mahl.

Schlachtengedenken, seinem Ursprung nach nicht eine Ereigniserinnerung, sondern ein Gedenken an die Toten des Handlungs- und Widerfahrniszusammenhangs Schlacht, konstituierte die Stadt als Erinnerungsgemeinschaft. Der materiellen Fürsorge, die der Frau und den Kindern eines für die Stadt gefallenen Bürgers gewährt wurde, entsprach die spirituelle Fürsorge durch das Totengedenken für jene, die sich für die Stadt aufgeopfert hatten.

Der ältere Eintrag im Stadtbuch von Dorsten bestimmt den Streitfeiertag ausschließlich als Ereignis der kirchlichen Liturgie, als kirchlichen Feiertag mit Prozession. Das Festmahl der Honoratioren wird erst im jüngeren Eintrag erwähnt. Die städtischen Schlachtenjahrtage gehörten somit ursprünglich zum liturgischen Leben der Stadt; sie entwarfen die Stadt als "Sakralgemeinschaft". Neben der Jahrtagsstiftung für die Gefallenen sind auch Meß- und Kapellenstiftungen zum Dank für den glücklichen Ausgang von Belagerungen oder Überfällen auf die Stadt zu berücksichtigen. Die ursprünglich als liturgische Dankfeste konzipierten Jahrtage zum Gedenken an überstandene Belagerungen und Überfälle waren oft mit der Verehrung des Tagesheiligen oder Stadtpatrons verbunden, auf dessen Beistand - Fürbitte oder Schlachtenhilfe - die Rettung zurückgeführt wurde. Bereits zum Jahr 1200 bezeugt Arnold von Lübeck, der Braunschweiger Stadtpatron, der hl. Auctor, habe die Stadt vor den Truppen eines Belagerungsheeres gerettet, indem er einem der feindlichen Heerführer des nachts erschienen sei. Stärker engagierte sich der Dortmunder Stadtheilige St. Reinold bei einem Überfall auf die Stadt im Jahr 1377, als er wie ein Ballspieler auf der Stadtmauer stand und die ankommenden Steinkugeln zurückschlug. Für den Nördlinger Gedenktag anläßlich eines geplanten (oder nur eingebildeten) Überfalls 1440 hat Hans Christoph Rublack beispielhaft gezeigt: "Religiöse Vergegenwärtigung der Vergangenheit floß in eins mit der religiösen Deutung der Gegenwart" [Anm. 6].

Das Beispiel Dorsten sollte auch verdeutlichen, daß Schlachtengedenken keine Angelegenheit nur der größeren Städte war. Die Gedenktage stellten vielfach das Stadtfest dar. Zu nennen wären das Steigfest in Amöneburg, der Sturmtag in Belecke, der Crailsheimer Stadtfeiertag sowie die oberrheinischen Gedenktage: der Schweizerfeiertag in Stockach, der Schweizertag in Tiengen und die Waldshuter "Chilbi". In Stockach wurde 1705 sogar die Vereidigung der Amtsträger auf den Schweizerfeiertag gelegt, der an die erfolglose Belagerung durch die Eidgenossen 1499 erinnerte.

Ausschlaggebend war nicht die "objektive" Bedeutung der erinnerten Auseinandersetzung, sondern die dadurch gegebene Möglichkeit, aller zu gedenken, die ihr Leben für die Stadt gelassen hatten, und dieses Gedenken im öffentlichen Raum zur Geltung zu bringen. Für die These, daß es nicht um die "historische" Erinnerung an ein bestimmtes Ereignis ging, sondern um die "exemplarische" Erinnerung an eine überstandene Gefahr oder den Opfermut der Vorfahren, spricht nicht nur das Zusammenfassen der Erinnerung an die Ereignisse von 1382 und 1588 in Dorsten, sondern auch die wiederholt beobachtbare Erscheinung, daß der ursprüngliche Anlaß eines Gedenktages in Vergessenheit geraten oder von einem anderen Anlaß in der Überlieferung überlagert werden konnte. Im Jahrzeitbuch des Heiliggeistspitals in Freiburg im Breisgau wird zum 29. Juli Der burger jorzit die an dem stritt wurden erschlagen erwähnt - daß es sich um ein Ereignis des Jahres 1299 handelt, ist erst von der mordernen Forschung erschlossen worden.

Schlachtengedenktage müssen als Teil des civic ritual verstanden werden, als Teil jener Handlungsgrammatik, die städtischem Leben eine Form gab und die ein labiles Gleichgewicht zwischen Rat und Gemeinde aufrecht hielt. In Schlachtengedenktagen wurde städtische Identität als bedrohte und verteidigte Identität präsentiert.

Den Begriff "Präsentation der Identität" übernehme ich von Hermann Lübbe [Anm. 7], da er mir griffiger als verwandte Formulierungen - etwa "Demonstration des Selbstverständnisses" - scheint.

Die Erinnerung wurde weitgehend von der Obrigkeit gesteuert und war daher stets gefährdet, mit dem Appell an die bürgerliche Eintracht die Herrschaft der Führungsschicht abzusichern. Die Obrigkeit verfolgte didaktische Zwecke, wenn sie - durch Gedenkreden oder Predigten - den Ratsmitgliedern und der Gemeinde ein warnendes oder anspornendes historisches Exemplum vor Augen führte: als Ansporn zu innerstädtischer Solidarität und zu Heldentum, als Warnung vor bürgerlicher Uneinigkeit und vor Verrat einerseits und vor fürstlichem Hegemoniestreben und vor adliger Anmaßung andererseits. Dabei konnten historiographische Aufzeichnungen einbezogen werden. Der Berner Rat beauftragte 1487 den Stadtschreiber, den Bericht über die Schlacht bei Murten aus der Berner Chronik Diebold Schillings abzuschreiben, damit er am Jahrtag in der Kirche verlesen werden könne. In der Reichsstadt Metz ließ der Rat 1477 eine Kapelle mit Meßstiftung zur ständigen Erinnerung an den gescheiterten Überfall des Herzogs von Lothringen im Jahr 1473 errichten. Eine Stellungnahme der Geistlichkeit regte an, bei der jährlichen großen Prozession zu der Kapelle eine kurze Unterrichtung über den Hergang vorzutragen, damit auch die Jugend unterrichtet würde. Wie in dem von Rublack untersuchten Nördlinger Beispiel wurden im Medium der Festpredigt die städtischen Grundwerte eingeschärft. In einer undatierten, wohl 1525/30 entstandenen Anweisung für den Prediger ließ der Rat die Metzer Bürger zur Einigkeit und zur Wachsamkeit gegen neue religiöse Lehren aufrufen.

Die Einbeziehung von Ansprachen läßt erkennen, daß nicht nur die Jahrtage in den Sog obrigkeitlicher Didaxe gerieten. Wer nur die Ritualisierung anläßlich des Jahresgedenkens in den Blick nimmt, übersieht, daß sich um das historische Ereignis einer Schlacht oder eines Überfalls ein ganzer Kranz von Erinnerungsmedien legte. Um ihre Verzahnung deutlich zu machen, lautet der Titel meines Beitrags denn auch "Riten und Medien der Präsentation kollektiver Identität".

Eine ganze Reihe gegenständlicher Erinnerungszeichen vergegenwärtigte im Lüneburger Stadtbild die Ursulanacht des Jahres 1371, als ein nächtlicher Überfall durch Herzog Magnus von Braunschweig die städtische Freiheit bedrohte. Ich zitiere aus dem Inventar der Kunstdenkmäler: "Der Opfermut der in der Ursulanacht gefallenen Bürger verlangte, daß man ihr Andenken späteren Geschlechtern in dankbarer Ehrung überlieferte. Die vornehmsten Toten, die beiden Bürgermeister und die drei Ratmannen, erhielten daher, jeder an dem Platze, wo er von Feindeshand bezwungen war, einen Gedenkstein. [...] Die Wappenschilder der gefallenen Bürger und Ratsherren wurden in der Hauptkirche der Stadt am nordöstlichen Pfeiler des Chors angebracht, in ihrer Nähe die erbeuteten Fahnen und andere Siegeszeichen. In der Verlängerung der nördlichen Seitenschiffe zu St.Johannis wurde eine Kapelle angebaut zu Ehren der Hl. Ursula und der elftausend Jungfrauen, deren hülfreicher Mitwirkung man den Sieg vom 21. Oktober wesentlich zuschrieb. Derselbe Tag wurde zu einem Gedenkfeste der Stadt erhoben. [...] Hauptmomente der stürmischen Zeit wurden im Bilde festgehalten. [...] Eine in Holz geschnitzte Figur an einem Giebel der Großen Bäckerstraße dankt der Sage, die den Kern der geschichtlichen Begebenheiten bald mit einem reizvollen Phantasiegewande umspann, ihren Ursprung: sie verewigt das Bild des tapferen Bäckers, der in der Ursulanacht 22 Feinde erschlug. [...] Eindrucksvoller als die geschriebene Überlieferung geben alle diese Erinnerungszeichen kund, daß die Bürgerschaft die Abwehr der herzoglichen Tyrannei als ihren Freiheitskrieg auffaßte [...]" [Anm. 8].

Inschriften, Gedächtnistafeln, Ereignisbilder, auch gegenständliche Erinnerungszeichen wie eingemauerte Kanonenkugeln, sollten Geschichte im öffentlichen Raum präsent halten. Zu den Erinnerungsmedien gehörte mitunter auch besonderes Gebäck, das am Gedächtnistag gebacken wurde. In Amöneburg wurden die "Steigerwecken" an die Kinder verteilt; in Crailsheim gab es bei der Stadtfeier aus Anlaß der Aufhebung der Belagerung der Stadt durch die Reichsstädte 1380 ein Gebildbrot, die sogenannten "Horaffen".

Historiographische Aufzeichnungen der "Stadtbuchchronistik", Zeitsprüche und -lieder sowie schriftlich - als Chronikerzählungen - oder mündlich tradierte historische Überlieferungen, gemeinhin als historische "Sagen" [Anm. 9] bezeichnet, waren die literarischen Formen, in denen die paradigmatischen Geschichten von der Störung des städtischen Friedens durch innere oder äußere Bedrohung bleibende Gestalt gewannen.

Aus dem Bereich der sogenannten Stadtbuchchronistik sei nur die kurze Schrift des Lüneburger Stadtschreibers Hinricus Kule über die Geschehnisse der Ursulanacht des Jahres 1371 erwähnt, die im Stadtbuch, dem "großen Donat", eingetragen wurde. Im Anschluß an die Gefallenenliste steht der entscheidende Hinweis auf den "Sitz im Leben" des Textes, nämlich die Erwähnung des vom Rat angeordneten Totengedenkens für die Gefallenen.

Historiographische Berichte über Belagerungen oder Überfälle sind den (inzwischen nun schon gut bekannten) Berichten über innerstädtische Unruhen zur Seite zu stellen und zwar als Bestandteil jener Verständigung, der die Stadt als Lebens- und Normengemeinschaft begründete. Zwar wurden in der Forschung verschiedentlich Einzeltexte interpretiert, doch erscheint mir wichtiger noch die vergleichende Perspektive, die auf ein Korpus einschlägiger Texte zielt.

Die Berichte sowohl über innerstädtische Konflikte als auch über Fehden und Belagerungen zeigen die Stadt als Unfriedensgemeinschaft, beide Texttypen präsentieren städtische Identität narrativ als Geschichten von Bedrohung und Verteidigung. Diese Konfliktgeschichten beschreiben jedoch keinen kontingenten, zufälligen Ablauf als tragisches oder glückliches Geschehen. Sie bieten vielmehr Exempla für das Zusammenleben in der Stadt. Ihren exemplarischen Wert erhielten die erinnerten Ereignisse nicht zuletzt dadurch, daß sie als Extremsituationen beispielhaftes Verhalten - sei es vorbildliches Heldentum, sei es abschreckenden Verrat - freisetzten.

Das wiederkehrende Muster - um nur einige zu nennen: der standhafte Bürgermeister, die tapfere Zunft, die sich aufopfernden Frauen, die Bienenkörbe als Kriegslist - läßt erkennen, daß es um beispielhafte Züge geht. Nur sie werden überliefert, erinnert, erzählt.

Das ins Auge gefaßte Textkorpus müßte auch jene meist spät überlieferten Texte über Fehden und Belagerungen erfassen, die man gemeinhin als "historische Sagen" bezeichnet und zugleich auch jene Chronikerzählungen, die sich als fiktiv erwiesen haben. Ritus und historische Überlieferung stehen in einem symbiotischen Verhältnis zueinander: Die Geschichte erklärt den Ritus, der Ritus wiederum verbürgt die Wahrheit der Geschichte. Über die Erzählungen in Magdeburger Geschichtsquellen im Zusammenhang mit der Schlacht bei Frose 1278 schrieb Gustav Hertel: "Daß die Sage von Ottos IV. Gefangenschaft und Befreiung in Magdeburg sich lebendig erhielt, hat wohl seinen Grund darin, daß alle Jahre zum Andenken an den Sieg von Frose Spenden an die Armen und die Klöster verteilt wurden, also immer wieder Gelegenheit gegeben wurde, die Begebenheiten sich wieder vorzuführen" [Anm. 10].

Bei der Betrachtung der Riten und anderen Medien des Schlachtengedenkens darf natürlich der Hinweis auf einen Sachverhalt nicht fehlen, der die Symbolbedeutung des Gedenkens zumindest zum Teil verständlich macht. Städtisches Gedenken an geplante und wirkliche Überfälle von Fürsten und Adligen war ein Teil jenes Angstsyndroms, das auch das politische Handeln der Städte bestimmte. Ich nenne nur die Stichworte "Fürstenangst" und "Adelshaß". Überfälle von Fürsten auf Städte oder städtische Niederlagen wurden zu warnenden Exempla, die zu einem tiefen Mißtrauen gegenüber den Fürsten und dem Adel beitrugen.

Überfälle und Niederlagen verstand man als Anschläge auf die städtische Identität, auf die städtische Ehre. Nur wenn man, mit Bourdieu zu sprechen, das "symbolische Kapital der Ehre" in Rechnung stellt, kann man verstehen, weshalb in Nördlingen Jahr für Jahr die Erinnerung an einen Überfall der Grafen von Öttingen auf die Stadt 1440 begangen wurde, von dem nicht einmal sicher ist, ob er überhaupt geplant war oder ob er nur in der Einbildung der Nördlinger Ratsherren bestanden hat.

Heldentum besiegt die Angst. Nicht eingehen kann ich auf die Problematik eines agonalen, d.h. am Kriegertum und am Kampf orientierten städtischen Selbstverständnisses. Vorarbeiten, etwa über städtische Kampfspiele, fehlen, soweit ich sehe, für den außerschweizerischen Raum. Zu fragen wäre, in welchen Formen und bei welchen Gruppen kriegerisches, heroisches, heldisches Ethos in der Stadt wirksam wurde.

Die Teilhabe am städtischen Kampfruhm konnte die Identität und Ehre von Familien, aber auch von Handwerkergruppen begründen. In zahlreichen Schlachten- und Belagerungsüberlieferungen wird die besondere Tapferkeit einer bestimmten städtischen Gruppe hervorgehoben, die zum Dank besonders privilegiert wird. Die Zunftüberlieferung und die amtliche Überlieferung stützen einander: dem Vorrang der Zunft entspricht der Vorteil der Stadt, die den anderen Zünften ein Vorbild und Exempel vorhalten kann. Die Anlagerung von gruppenspezifischen Riten und Überlieferungen an die gruppenübergreifende Erinnerung zeigt das Wechselspiel zwischen Gruppen- und städtischem Diskurs und ergänzt die etwa von Jörn Reichel aufgestelte These, daß äußere Bedrohung in einer differenzierten städtischen Gesellschaft ein gruppenübergreifendes Wir-Bewußtsein [Anm. 11] bzw. anders formuliert einen gesamtstädtischen Eigen-Diskurs entstehen lasse. Grundwert dieses Diskurses war die innere Einigkeit, und das hieß in der Stadt zuallererst: Einigkeit zwischen Bürgermeister und Rat einerseits und der Gemeinde andererseits. Riten und Texte als Medien historischer Erinnerung waren ein Bestandteil des ausbalancierten Systems von Standortbestimmungen und Rangansprüchen innerstädtischer Gruppen. Der über die äußere Bedrohung hergestellte gruppenübergreifende Konsens, dem im städtischen Eigen-Diskurs der Entwurf eines idealen Miteinander entsprach, war dabei freilich stets gefährdet, als Werkzeug der Herrschaftsansprüche der Führungsschicht vereinnahmt zu werden.

Abschließend möchte ich versuchen, die vorgestellten Schlachtengedenktage kurz in der Festkultur des Mittelalters zu verorten. Ihrem Ursprung nach sind sie den auch im außerstädtischen Bereich üblichen Festen mit religiöser Sinngebung zur Seite zu stellen; die Ritualisierung konnte auf Vorbilder im Bereich der Memoria und der kirchlichen Dankfeste zurückgreifen. Die Aufladung mit politischer Bedeutung ließ das Schlachtengedenken zu einem in manchen Städten besonders bevorzugten Medium der Präsentation gemeindlicher Identität werden. Zu erinnern ist an den Befund, daß in kleineren Städten die Schlachtfeier das Stadtfest schlechthin bedeutete. Die Schlachtfeiern sind den anderen, noch nicht zusammenfassend untersuchten Festen zur Seite zu stellen, die ein Ereignis im jährlichen Ritus vergegenwärtigten - etwa die Gründung der Stadt oder einen innerstädtischen Konflikt. So beging man etwa im 16. Jahrhundert in Speyer das Andenken an den Severinstag, einen niedergeschlagenen Bürgeraufstand aus dem Jahr 1330, als großes Ratsfest [Anm. 12]. Wichtig ist bei diesem Festtyp die Symbiose mit narrativen Formen der Erinnerung und vermittelt über diese auch mit gegenständlichen Erinnerungszeichen, die ja der Erklärung durch eine Erzählung bedurften. Nur die im Medium der Erzählung erfolgende Traditionsbildung garantierte den sogenannten historischen Festen ihren spezifischen Sinn als vermeintliche oder wirkliche Erinnerung an ein bestimmtes Ereignis.

Anmerkungen

[1] Im folgenden gebe ich nur die nötigsten Zitatnachweise. Alle weiteren Angaben finden sich in meinem Beitrag: Schlachtengedenken in der Stadt, in: Die Stadt im Krieg (=Die Stadt in der Geschichte 15, Sigmaringen 1989), S. 83-104. [zurück]

[2] Georges Duby, Der Sonntag von Bouvines (Berlin 1988), S. 152. [zurück]

[3] Theodor Josef Lacomblet, Archiv für die Geschichte des Niederrheins 1 (Düsseldorf 1832), S. 399. [zurück]

[4] Richard Wolfram, Studien zur älteren Schweizer Volkskultur (Wien 1980), S. 91. [zurück]

[5] Otto Gerhard Oexle, Memoria und Memorialbild, in: Memoria (=Münstersche Mittelalter-Schriften 48, München 1984), S. 384-440, hier S. 394. [zurück]

[6] Hans-Cristoph Rublack, Eine bürgerliche Reformation: Nördlingen (=Quellen und Forschungen zur Reformationsgeschichte 51, Gütersloh 1982), S. 15. [zurück]

[7] Hermann Lübbe, Geschichtsbegriff und Geschichtsinteresse. Analytik und Pragmatik der Historie (Basel-Stuttgart 1977), S. 168; vgl. auch Klaus Graf, Exemplarische Geschichten. Thomas Lirers "Schwäbische Chronik" und die "Gmünder Kaiserchronik" (= Forschungen zur Geschichte der Älteren Deutschen Literatur 7, München 1987), S. 21. [zurück]

[8] Die Kunstdenkmäler der Provinz Hannover III, 3/2 (Hannover 1906), S. 8f. [zurück]

[9] Vgl. Klaus Graf, Thesen zur Verabschiedung des Begriffs der ,historischen Sage', in: Fabula 29 (1988), S. 21-47. [zurück]

[10] Gustav Hertel, Untersuchungen über die älteren Brandenburger Chroniken, in: Forschungen zur Deutschen Geschichte 19 (1879), S.212-234, hier S. 234. [zurück]

[11] Jörn Reichel, Der Spruchdichter Hans Rosenplüt (Stuttgart 1985), S. 221. [zurück]

[12] Wilhelm Harster, Die Verfassungskämpfe in Speier während des Mittelalters I, in: Zeitschrift für die Geschichte des Oberrheins 38 (1885), S. 210-320, hier S. 301-305. [zurück]

Nachwort

Erstveröffentlichung des Textes in: Feste und Feiern im Mittelalter. Paderborner Symposium des Mediävistenverbands, hrsg. von Detlef Altenburg/Jörg Jarnut/Hans-Hugo Steinhoff, Sigmaringen: Thorbecke 1991, S. 63-69. Inzwischen konnte ich rund 60 Schlachtengedenktage im deutschsprachigen Raum (ohne die Schweiz) ermitteln. - Auf zwei instruktive Fallstudien sei besonders aufmerksam gemacht: Karljosef Kreter, Bürger - traut nicht den Fürsten!, Hannoversche Geschichtsblätter NF 46 (1992), S. 11-69 und Matthias Lentz, Stadtbürgerliche Gedächtniskultur. Schlachtengedenken in Lüneburg im späten Mittelalter und in der frühen Neuzeit, masch. Staatsarbeit Bielefeld 1994. Vgl. jetzt auch Klaus Graf, Die Crailsheimer Stadtfeier, Mitteilungsblätter des Crailsheimer Historischen Vereins 12 (1997), S. 33-42 mit weiteren Hinweisen. Zu Bildzeugnissen und Inschriften vgl. Renate Neumüllers-Klauser, Schlachten und ihre 'memoria' in Bild und Wort, in: Bild und Geschichte. Studien zur politischen Ikonographie. Festschrift für Hansmartin Schwarzmaier zum fünfundsechzigsten Geburtstag, hrsg. von Konrad Krimm/Herwig John, Sigmaringen 1997, S. 181-196. Zu Gedenktagen vgl. Michael Mitterauer, Anniversarium und Jubiläum. Zur Entstehung und Entwicklung öffentlicher Gedenktage, in: Der Kampf um das Gedenken. Öffentliche Gedenktage in Mitteleuropa, hrsg. von Emil Brix/Hannes Stekl, Wien/Köln/Weimar 1997, S. 23-89, vor allem S. 39-42 zu Schlachtengedenktagen.

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