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Dezember 2001
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EINSPRÜCHE

Nichts geht über die Grundrechte

Dieter Grimm kritisiert behutsam die Schwächung des Verfassungslebens

Von Kurt Sontheimer

Dieter Grimm gehört zu den eher spärlichen Verfassungsrechtlern, die den Kreis ihrer geistig-beruflichen Interessen sich nicht durch rein Juristisches verengen lassen. Schon früh hat er sich für eine Berücksichtigung politikwissenschaftlicher und soziologischer Erkenntnisse bei der Verfassungsinterpretation eingesetzt. Das kam ihm in seiner zwölfjährigen Tätigkeit als Richter am Bundesverfassungsgericht zugute (1987 bis 1999), in dessen erstem Senat, dem so genannten Grundrechtssenat, er eine einflussreiche Figur war. Er versteht sich als Liberaler, aber er ist einer von jener verlässlichen Sorte, die beharrlich ihre Überzeugungen verfechten und ihren Werten treu bleiben. Bevor er nach Karlsruhe berufen wurde, wirkte er als Professor des Öffentlichen Rechts in Bielefeld. Jetzt hat ihn die Juristische Fakultät der Berliner Humboldt-Universität zu sich geholt. In Berlin ist er seit Oktober auch Rektor des Wissenschaftskollegs.

Der Untertitel dieser Aufsatzsammlung erweckt den etwas irreführenden Eindruck, es ginge dem Verfasser vorwiegend darum, „Störfälle“ des Verfassungslebens aufzudecken und anwaltliche Einsprüche vorzutragen. Gewiss breitet Grimm auch seine Besorgnise und Befürchtungen über bestimmte verfassungspolitische Tendenzen in der Bundesrepublik aus, aber dies geschieht vor dem Hintergrund einer grundsätzlich positiven Beurteilung des Grundgesetzes und seiner Entwicklung. Die Einsprüche werden stets so umsichtig formuliert, dass auch diejenigen, die es betrifft, sich nicht angegriffen fühlen müssen und zum Nachdenken eingeladen werden.

Grimm hat eine einnehmende Art, seine Argumente auszubreiten, und er bietet mit diesem Buch ein rühmenswertes Beispiel für eine politische Literatur, die sachliche Kompetenz mit einem gut verständlichen Stil zu verbinden weiß. Doch diese Vorzüge würden nicht genügen, wenn er nicht auch Wesentliches über unser Verfassungsleben zu sagen hätte.

In seiner Bilanz bundesdeutscher Verfassungsentwicklung betont Grimm, dass das Grundgesetz im Gegensatz zu allen vorausgegangenen deutschen Verfassungen eine relevante Verfassung geworden sei: „Es hat den Staat nicht nur eingerichtet und handlungsfähig gemacht. Vielmehr steuert es auch innerhalb der vorgeschriebenen Organe und Verfahren das Verhalten der politischen Akteure… Die Verfassung wurde damit erstmals in Deutschland als eine Kraft erlebbar, die das Vermögen hat, die Politik in ihre rechtlichen Grenzen zu weisen und an allseits geteilte Prinzipien zu binden.“ Die Grundrechte seien es vor allem, die unserer Verfassung zur Wirksamkeit verholfen hätten. Ihrer sorgsamen Pflege gilt darum Grimms besonderes Interesse. Er sieht da gewisse Ermüdungserscheinungen am Werk, denen es zu wehren gelte.

In seiner behutsamen Art weist er auf andere Tendenzen der Schwächung des Verfassungslebens hin, die seine Relevanz, seine normative wie faktische Kraft, mindern. So hält er die stark gewachsene Bedeutung des Bundesrates in der Gesetzgebung für eine Fehlentwicklung, weil sie Innovation hemme. Durch die Entwicklung des modernen Interventionsstaates und seiner gesellschaftlichen Machtgruppen, mit denen der Staat verhandeln müsse, sei eine demokratisch nicht ausreichend legitimierte Privilegienstruktur entstanden: „Es existieren parakonstitutionelle Entscheidungsträger. … Das Bund-Länder-Geflecht wie die Verhandlungssysteme zwischen staatlichen und privaten Akteuren rufen nach Verfassungsänderungen, wenn das Grundgesetz sich auch in der Zukunft bewähren soll.“

Auch der aktuellen Frage, ob das wirtschaftlich integrierte Europa eine Verfassung brauche, widmet Grimm einen lesenswerten Essay. Er hält Europa noch nicht für reif, sich eine Verfassung zu geben; es fehle an einer politischen Substruktur in den einzelnen Staaten, insbesondere an den Voraussetzungen für eine echte politische Kommunikation auf europäischer Ebene.

Vielleicht sind seine Maßstäbe für eine europäische Verfassung zu hoch angelegt, da sie den Ansprüchen entnommen sind, die für eine relevante rechtsstaatliche Verfassung gelten. Worauf es aber bei einer guten Verfassung ankommt und wie man sie durch eine schlechte Politik verderben kann, das ist die lehrreiche Botschaft dieses beachtlichen Buchs, dem man viele Leser wünscht.

Dieter Grimm : Die Verfassung und die Politik Einsprüche in Störfällen; Verlag C. H. Beck, München 2001;
336 S., 39,80 DM
 



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