I.    Phänomen Krieg

 

 

Zu keiner Zeit stand die Frage der Friedensbewahrung so sehr im Mittelpunkt der Diskussion aller staatlichen Organe, Parteien, Bewegungen, Bürgerinitiativen bis hin zu kleinsten Gruppen von Einzelpersönlichkeiten wie zur unsrigen. Und in keinem Land wird diese Diskussion so heftig geführt wie in der Bundesrepublik Deutschland. 

Die Gründe dafür sind offensichtlich. Auf der einen Seite war Mitteleuropa und besonders das von Deutschen aller Stämme bewohnte Gebiet Jahrhunderte hindurch Kriegsschauplatz, auf dem sich alle Völker Europas schlugen; zwei verheerende Weltkriege in der ersten Hälfte unseres Jahrhunderts mit ihren Millionen und Abermillionen von Toten, Verstümmelten und Vermißten sowie dem persönlichen Elend, das fast alle Familien traf, erschütterten zutiefst die bis dahin als selbstverständlich hingenommene Tatsache, daß Staaten – nicht Völker – zur Durchsetzung ihrer eingebildeten oder wirklichen Rechte befugt seien, Kriege zu führen. 

Auf der anderen Seite besitzen heute die Supermächte, die Vereinigten Staaten von Amerika und die Sowjetunion, aber auch Mächte mittlerer Größe wie Großbritannien, Frankreich, ja sogar Indien, China und einige kleinere Mächte die Möglichkeit, einen Krieg mit jenen Waffen auszulösen, die zum Untergang der gesamten Menschheit führen können. Zu diesen Waffen gehören die nuklearen, biologischen und chemischen, aber auch eine ganze Reihe anderer, die erst im Abschnitt über das Atomzeitalter angeführt werden sollen. Darüber hinaus ist es den beiden Supermächten möglich, einen Krieg gegeneinander sogar auf das erdnahe Weltall, den Mond und vielleicht auf die der Erde nächsten Planeten auszudehnen.

Wen wundert es also, wenn die Frage der Bewahrung des Friedens in den Mittelpunkt aller Überlegungen gerückt wird? Wer wäre noch darüber erstaunt, daß Hunderttausende sich zu Friedensdemonstrationen versammeln?

Welche Wandlung hat sich vollzogen, wenn man, soweit es Deutschland angeht, die Friedensdemonstration in Bonn 1984 mit der berühmt-berüchtigten Demonstration des Jahres 1943 in der Berliner Sporthalle vergleicht,

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in deren Verlauf Goebbels mit der Zustimmung von Tausenden seine Forderung nach dem totalen Krieg erhob, oder mit den 1914 in allen Hauptstädten Europas den Krieg begeistert fordernden Menschenmassen oder gar mit der Kreuzzugsbegeisterung im Hochmittelalter! Und doch muß hier gleich wieder eingeschränkt werden: Noch im Jahr 1982 forderten in Argentinien Tausende und Abertausende den Krieg gegen England, um die Falklandinseln zu erobern, und zur gleichen Zeit stellte sich die britische Bevölkerung fast geschlossen, zumindest aber in ihrer überwältigenden Mehrheit, mit ebensolcher Begeisterung hinter ihre Regierung, die die Falklandinseln um jeden Preis mit Waffengewalt verteidigte. 

Ähnliche Beispiele aus der jüngsten Zeit für die Bereitschaft nicht nur der Regierungen, sondern auch der Menschen zur Kriegführung bieten der Iran, der Irak, die Palästinenser, Vietnamesen und viele andere Völker der Dritten Welt. Ja, die Kriege außerhalb Europas, die nach dem Zweiten Weltkrieg geführt wurden, haben bereits jetzt zu fast den gleichen Verlusten an Menschen geführt wie jener letzte furchtbare Weltkrieg, dessen Hauptkriegs­schauplätze in Europa und in Ostasien lagen.

Festzuhalten ist, daß in der Menschheit eine gewisse Bereitschaft zum Krieg anscheinend stets bestanden hat, seit, um es biblisch auszudrücken, Kain den Abel erschlug. Aber es ist symptomatisch für die Neuzeit, daß heute die Führer aller Staaten bemüht sind, ihren Friedenswillen zu betonen und selbst den von der Völkergemeinschaft verurteilten Angriffskrieg durch das Wort Verteidigung zu bemänteln, wie es uns die weiter unten angeführten Definitionen des Krieges ganz deutlich zeigen. Dies weist auf eine Kluft zwischen den die Interessen ihrer Staaten vertretenden Männern und der Mehrheit der Bevölkerung hin, die zwar Gewalt zur Durchsetzung innenpolitischer Ziele durchaus nicht generell ablehnt, den Krieg als Mittel zur Durchsetzung staatlicher Interessen jedoch verwirft. 

Allerdings sollte man sich über diese zur Schau getragene Friedensliebe keinesfalls Täuschungen hingeben. Das Beispiel England und Argentinien hat gezeigt, wie rasch es mit Hilfe der modernen Massenmedien und einer geschickten psychologischen Kriegs­führung gelingt, auch friedliebende Völker zur bedingungslosen Unterstützung einer Kriegspolitik zu veranlassen. Um vieles leichter noch ist es dort, wo Völkerhaß und religiöser Wahn wie im Vorderen Orient oder Rassenhaß wie in Afrika die Menschen für die Kriegsführung begeistern. 

In Wirklichkeit aber verbirgt sich wie zur Zeit der Kain- und Abel-Menschen hinter den zumeist als hehr deklarierten Kriegszielen nichts anderes als krasser Egoismus, Egoismus des Einzelnen, der Einzelstaaten, Völkergruppen oder Blöcke. Darüber sagte Rudolf Steiner: 

»... unsere Zeit wird ihren Untergang finden durch andere Kräfte, durch ein gewaltiges

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Überhandnehmen des Egoismus der menschlichen Natur, und dadurch durch einen Krieg aller gegen alle«.1 Und er wiederholt diese Aussage an der gleichen Stelle, indem er sagt: »Nur diejenigen, die sich dem spirituellen Leben zuwenden, werden ... einen Weg finden über die Katastrophe, die da bedeutet den Krieg aller gegen alle, und dieser Krieg aller gegen alle wird noch viel furchtbarer sein für die Menschenmassen, in denen er auftritt, als die Feuer- und Wasserkatastrophen es waren, wie furchtbar auch der Mensch sie sich vorstellen mag. Und es kann nur die Aufgabe derer sein, die sich heute dem spirituellen Leben zuwenden, daß sie alles daran setzen, daß möglichst viel von den guten Keimen unserer Zeit hinübergerettet wird in den sechsten Zeitraum, der den fünften ablösen wird.«2

Von welcher Seite man den Krieg auch betrachten mag, er ist immer eine Katastrophe für die Menschheit, für den von ihm betroffenen Einzelnen und für die mittelbar oder unmittelbar in ihn verwickelten Völker. Und doch haben sich, wie noch zu zeigen sein wird, ganz bestimmte, für die Entwicklung der Gesamt­menschheit unumgängliche Ereignisse oftmals durch Kriege ergeben. Ist daraus aber eine Notwendigkeit, eine Gesetzmäßigkeit oder eine Zwangsläufigkeit abzuleiten? Der Gang durch die Geschichte wird darauf einen Hinweis geben.

Obwohl sich die Menschheit der Tatsache bewußt ist, daß der Krieg eine Katastrophe ist, üben nach wie vor Waffen, Uniformen, Fahnen und Militärmusik eine fast unwiderstehliche Anziehungskraft auf Buben und selbst erwachsene Männer aus, und zwar gleich, welchem Volk sie angehören. Wer glaubt, diese Anziehungskraft beschränke sich nur auf die männlichen Angehörigen des deutschen Volkes, ist einem Propaganda­feldzug erlegen oder kennt andere Völker nicht. Daran hat auch die seit einigen Jahren in der Bundesrepublik Deutschland – und fast nur in der Bundesrepublik Deutschland – regelmäßig, besonders vor Weihnachten, verbreitete und von den Massenmedien unterstützte Warnung vor dem Kauf und dem Verschenken von Kriegs­spielzeug nichts geändert. Zwar bleiben Spielzeug­panzer und Spielzeugsoldaten, falls sie überhaupt in Spielzeug­geschäften geführt werden, in den Regalen stehen, aber um so mehr werden echten Waffen täuschend nachgebaute Wasserpistolen, Gewehre und Maschinenpistolen verkauft, mit denen die Kinder dann noch »wirklichkeitsnaher« auf der Straße spielen als mit dem sogenannten Kriegsspielzeug. Werden auch diese ihnen verweigert, so basteln sie sich sehr schnell Pfeil und Bogen oder Holzschwerter. 

Diese Erscheinung ist keineswegs neu. Als der Krieg um Troja ausbrach, versteckte die Nereide Thetis Achilles in Mädchen­kleidung unter den Töchtern des Königs Lykomedes auf der Insel Skyros. Doch die in Not geratenen Griechen schickten den schlauen Odysseus mit anderen griechi-

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schen Fürsten dorthin, um Achilles, auf dessen Kraft und Tapferkeit man nicht zu verzichten können glaubte, zu suchen. Schlau, wie Odysseus war, breitete er wie ein Händler vor den spielenden Mädchen Schmuck und Waffen aus. Dann ließ er plötzlich die Kriegstrompete blasen. Ohne zu zögern griff Achilles instinktiv nach dem daliegenden Schwert und hatte sich damit verraten. Dieses Beispiel sieht wie die Schilderung eines Urinstinktes beim Manne aus.

Auch die »Edda« schildert den Krieg als Männerschicksal schlechthin: Nach der Beendigung des goldenen Zeitalters sind Streit und Tod unausweichlich. Dabei gilt es gut im Gedächtnis zu behalten, daß nicht Menschen den ersten Krieg entfesselten, sondern Götter, und zwar im Wanen- und Asenkampf. In »Der Seherin Gesicht« heißt es:

Da kam zuerst
Krieg* in die Welt,
als Götter Gullweig
mit Geren stießen
und in Heervaters
Halle brannten
dreimal brannten
die dreimal geborene.3

Im gleichen Gedicht schildert die Wöluspa auch das Ende unserer Epoche im Kampf aller gegen alle:

Brüder kämpfen
und bringen sich Tod.
Brudersöhne brechen die Sippe;
arg ist die Welt,
Ehbruch furchtbar.
Schwertzeit, Beilzeit,
Schilde bersten,
Windzeit, Wolfzeit,
bis die Welt vergeht –
nicht einer will
des andern schonen.4

 

fólkvíg (altnordisch) – Krieg der Heerhaufen

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Oben wurde von einer gewissen Kluft gesprochen zwischen den Männern, die Staaten zu lenken haben, und denen, die Angehörige dieses Staates sind. Natürlich soll damit keineswegs gesagt werden, daß die führenden Männer etwa kriegslüstern wären und die Staatsangehörigen friedliebend. In der weitaus größten Mehrzahl der Fälle sind die einen Staat oder einen Staatenblock führenden Personen nicht weniger friedliebend als die Menschen, für deren Wohl sie zu sorgen haben. 

Aber gerade darin liegt der Unterschied. Während zumindest in den westlichen Demokratien der Einzelne in normalen Friedenszeiten zunächst sein eigenes Wohl im Auge haben darf, müssen der Staatsmann und die anderen für die Führung eines Staates oder eines Staaten­blockes verantwortlichen Männer und Frauen nicht nur für das Wohl, sondern auch für die Sicherheit der Menschen eintreten, die sie gewählt haben und für die sie verantwortlich sind. Diese Verantwortung schließt jedoch auch die Verteidigung der Gemeinschaft ein. So können unter Umständen Entscheidungen getroffen werden, die durchaus dem Willen dieses oder jenes einzelnen Menschen zuwiderlaufen und ihn dennoch für die Gemeinschaft verpflichten. Anders sieht es dagegen in totalitären Staaten oder Staatenblöcken aus, in denen durch jahrelange Propaganda der Einzelne dazu gebracht wird, zumindest theoretisch sein Eigenleben und Eigendasein dem Volk, der Rasse oder der Klasse hintanzustellen.

 

 

Im Spiegel der Weltanschauungen 

 

      Abgesehen vom Machtstreben, das nun einmal besteht und die Mächte in Rivalität zueinander oder sogar zur Konfrontation gegen­einander bringt, ist die Einstellung zum Krieg bei den führenden Politikern nicht zuletzt durch deren Religionszugehörigkeit oder Weltanschauung bedingt. Das trifft selbst dann zu, wenn sie sich nicht immer nach deren Vorschriften oder Regeln richten.

Nehmen wir zunächst das Christentum, von dem die Politiker der westlichen Welt durch ihre Erziehung in Schule und Elternhaus ausnahmslos geprägt sind, und zwar durch die Lehren der katholischen oder evangelischen Kirche in der einen oder anderen Form. Grundlagen dieser Lehren sind in erster Linie die Aussagen des Christus, wie sie uns in der Bibel überliefert »md, Obwohl der Verfasser kein Theologe ist, möchte er auf ein paar wenige Punkte hinweisen. Nach Matthäus 24,6-8 sagt Christus in der apokalyptischen Ölbergrede, trotz seines Friedensgebotes:

»Ihr werdet hören Kriege und Geschrei von Kriegen; sehet zu und erschreckt nicht. Das muß zum

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ersten alles geschehen; aber es ist noch nicht das Ende da. Denn es wird sich empören ein Volk wider das andre und werden sein Pestilenz und teure Zeit und Erdbeben hin und wieder. Da wird sich allererst die Not anheben.«

So die Übersetzung durch Martin Luther. Bei Emil Bock lautet die gleiche Stelle:

»Ihr werdet Kriegsgetümmel und Kriegsgeschrei vernehmen; sehet zu, daß es euch dann nicht an innerem Mut gebricht. Es ist notwendig, daß dies alles geschieht. Aber damit ist das Ziel des Werdens noch nicht erreicht. Ein Teil der Menschheit wird sich gegen den anderen, ein Reich gegen das andere erheben. Überall werden Hungersnöte und Erdbeben ausbrechen. Und doch sind das nur die ersten Geburtswehen der neuen Welt.«

 

Ganz eindeutig wird hier von der Notwendigkeit des Krieges gesprochen. Mit Sicherheit ist damit jedoch nicht gemeint, daß der Krieg, weil er nun einmal notwendig ist, auch angestrebt werden soll. Und doch spricht Rudolf Steiner von einem noch schreck­licheren Geschehen, das sich zwangsläufig ergeben soll. So sagt er, daß die nachatlantische Zeit zugrundegehen wird durch das Überhandnehmen des Egoismus, durch den Krieg »aller gegen alle«.5

Dieser Krieg aller gegen alle wird ein Krieg der Stände gegen die Stände sein, der Kasten gegen die Kasten, der Geschlechter gegen die Geschlechter, des Einzelnen gegen den Einzelnen. Und das Ich wird die Ursache dieses Krieges sein.6 Das aber besagt, daß nicht die Staaten die Ursache für den Krieg bilden, sondern daß diese Ursache im Menschen selbst liegt. Die Unzuläng­lichkeit des Menschen ist also die wahre Kriegsursache. Sie und damit den Krieg zu überwinden, ist Ziel dessen, der sich zum Christentum bekennt, selbst wenn dieses Ziel in der Jetztzeit noch nicht erreicht werden kann. Wichtig ist aber, daß der sich zum Christentum bekennende Mensch trotz seines Wissens um die Notwendigkeit des Krieges im Sinne der apokalyptischen Ölbergrede mit ganzem Herzen und ganzer Seele nicht den Krieg, sondern den Frieden erstrebt. Im übrigen werden die bei Matthäus 24 angegebenen Christusworte bei Markus 13,7-8 fast wörtlich wiederholt.

Wer nach dem Frieden strebt, darf Macht um ihrer selbst willen nicht anwenden. Tut er dies doch, so schlägt sein Tun über kurz oder lang auf ihn selbst zurück. So heißt es in der Offenbarung des Johannes 13,10: »So jemand in das Gefängnis führet, der wird in das Gefängnis gehen; so jemand mit dem Schwert tötet, der muß mit dem Schwert getötet werden. Hie ist Geduld und Glaube der Heiligen.« (Nach Martin Luther) Und bei Emil Bock lautet die gleiche Stelle: »Wenn einer in Unfreiheit führt, so soll er selber in Unfreiheit gehen; wer das tötende Schwert schwingt, soll selber dem tötenden Schwert verfallen. Was sich hier allein bewährt, ist die ausharrende Kraft und der Glaube derer, die dem Geist ergeben sind.«7

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Zweifellos ist damit jede Art eines Angriffskrieges für den gläubigen Christen ausgeschlossen. Dies gilt sogar für den Einzelnen im Fall der Verteidigung, wie es von der Gefangennahme Jesu bei Matthäus 26,52 nach Martin Luther steht:

»Da sprach Jesus zu ihm: Stecke dein Schwert an seinen Ort; denn wer das Schwert nimmt, der soll durchs Schwert umkommen.«

Und Emil Bock übersetzt:

»Da sprach Jesus zu ihm: Stecke dein Schwert wieder an seinen Platz. Denn alle, die nach dem Schwerte greifen, werden auch durch das Schwert umkommen.«

Daß hier der Einzelne angesprochen ist, wird durch die griechische Wortwahl für »Schwert« deutlich. Im griechischen Text steht machaira. Mit machaira bezeichnete man das kurze Hiebschwert, das zur persönlichen Bewaffnung des freien Mannes gehörte, nicht aber das Kriegsschwert, das im römischen Imperium offiziell nur von den Legionären getragen werden durfte. Daß die lateinische Übersetzung des griechischen Testaments von gladius (Legionärsschwert) spricht, ist nicht ganz korrekt. Im Gegensatz dazu bringt der altsächsische Heiland ganz richtig das Wort sachs, womit das kurze Handschwert oder Hiebschwert bezeichnet wurde.

Nur in scheinbarem Widerspruch dazu steht die Aussage bei Matthäus 10,34, nach Martin Luther:

»Ihr sollt nicht wähnen, daß ich gekommen sei, Frieden zu senden auf die Erde. Ich bin nicht gekommen, Frieden zu senden, sondern das Schwert.«* Bei Emil Bock lautet die gleiche Stelle genauer und sinngemäßer: »Denket nicht, ich sei gekommen, einen billigen Frieden auf die Erde zu bringen. Ich bringe nicht den Frieden, sondern das Schwert.«

Obwohl auch hier im griechischen Text für Schwert das Wort machaira steht, ist aus dem Zusammenhang mit den folgenden Sätzen deutlich zu erkennen, daß »Schwert« hier als Metapher gebraucht wird, denn es wird im folgenden von der Trennung von den Blutsverwandten und der absoluten Bindung an sie, wie sie im jüdischen Volke zur damaligen Zeit

 

 

* Im 12. Vortrag über das Matthäus-Evangelium vom 12. September 1910, GA 123, gehalten in Bern, sagt Rudolf Steiner: »Ein Wort aus dem Matthäus-Evangelium wird gewöhnlich ganz falsch übersetzt, das schöne, herrliche Wort: >Ich bin nicht auf diese Erde herabgestiegen, um von dieser Erde wegzuwerfen den Frieden, sondern um wegzuwerfen das Schwert!< (Matth. 10,34). Das schönste, wunderbarste Friedenswort ist leider im Laufe der Zeit in sein Gegenteil verkehrt worden.« Rudolf Steiner stützt sich bei dieser Übersetzung auf das griechische Wort baiein, das auch »wegwerfen« heißen kann. Wenigstens ist das anzunehmen. Daß Emil Bock ihm bei dieser Übersetzung nicht gefolgt ist, liegt wohl daran, daß dieser Satz dann im Zusammenhang völlig isoliert stünde. Eher ist – wie schon oben im Text gesagt – die Trennung von den alten Blutsbindungen der Geschlechter und Sippen gemeint. Dies wird auch – wie oben gezeigt – durch das Lukas-Evangelium bestätigt.

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üblich war, gesprochen. Bestätigt wird diese Auffassung durch den Satz bei Lukas 12,51, der nach Martin Luther lautet: »Meinet ihr, daß ich herkommen bin, Frieden zu bringen auf Erden? Ich sage: Nein, sondern Zwietracht. « Zwietracht ist aber ganz sicher nicht gemeint. Das lateinische Neue Testament bringt separationem (Akkusativ) und das griechische diamerismón. Beide bedeuten »Trennung«, das griechische Wort allerdings auch »Spaltung« und »Uneinigkeit«, doch ist »Trennung« zweifellos die richtige Übersetzung. So lautet der Satz auch bei Emil Bock: »Meint ihr, ich sei gekommen, um auf Erden Frieden zu stiften? Nein, ich sage euch: Lauter Trennung wird durch mich bewirkt.«

Aus keiner dieser Aussagen ist eine Billigung des Krieges zu entnehmen. Allerdings richten sich die Gebote gegen die Anwendung von Waffengewalt stets an den Einzelnen. In besonderem Maße gilt dies für das Gebot aus dem Alten Testament: Du sollst nicht töten. In dieser Form ist die Übersetzung nicht korrekt. Wenn wir die Frage der richtigen Wortwahl für das Wort »sollen« in unserem Zusammenhang außer acht lassen, so bleibt bestehen, daß das hebräische Wort razah (z-stimmhaftes s) »gesetzwidrig töten« oder »morden« heißt. Über das Töten im Krieg wird damit zunächst nichts ausgesagt.

In bezug auf die Notwendigkeit des Krieges, wie sie weiter oben durch die Christus-Worte belegt worden ist, muß betont werden, daß diese Notwendigkeit etwa in dem Sinne zu verstehen ist, wie die Notwendigkeit des Verrats des Judas. In der Bergpredigt, die vor allem bei Matthäus 5-7 wiedergegeben wird, stellt der Christus dagegen ganz eindeutige Forderungen an jeden Einzelmenschen. Mittel der Vervollkommnung des Einzelnen ist dort nicht der Kampf, sondern unzweideutig die Nächsten­liebe, ja sogar die Feindesliebe. Voraussetzung aber für die Erfüllung dieses Liebesgebotes bleibt die Überwindung des Egoismus, auch des Staatsegoismus. Natürlich gehört auch der Klassen- und Rassenegoismus hierher. 

Verkennt man diese Tatsache und bekämpft man allein gewisse Maßnahmen der Aufrüstung oder Nachrüstung, so verhält man sich wie derjenige, der Symptome einer Krankheit wie etwa Schmerzen bekämpft, ohne deren Ursachen zu beseitigen. Darauf muß im Kapitel über das Atomzeitalter noch näher eingegangen werden. Der einzige, der zur Zeit in einem Buch die radikale Befolgung der Bergpredigt und ihrer Gebote der Nächstenliebe fordert, ist Franz Alt.

In der Befolgung der Gebote der Bergpredigt lange nicht so radikal wie der Katholik Franz Alt haben sich die katholischen deutschen Bischöfe in ihrem Hirtenbrief »Gerechtigkeit schafft Frieden« ausgedrückt. Darin heißt es wörtlich: »Sie [die Bergpredigt] bringt Grundeinstellungen für die Gestaltung des Lebens der Christen zur Sprache – Grundeinstellungen, die

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auch für das politische Verhalten des Christen gelten. Aber die Weisungen der Bergpredigt sind eben keine Gesetze, die schematisch anzuwenden wären ... Es wäre deshalb ein Mißverständnis, das gesellschaftlich-politische Leben unmittelbar nach den Weisungen der Bergpredigt gestalten und ordnen zu wollen. Vernunft und Klugheit, die vom Träger politischer Ordnung zu fordern sind, werden durch die Befolgung der Weisungen Jesu nicht ersetzt.« Die Friedensliebe des Christen versuche jedoch immer, »den Gegner für den Frieden zu gewinnen, gewaltfreie Lösungen der Konflikte zu erschließen und Felder der Kooperation anzubieten«.9 Die evangelische Kirche verhält sich zu diesem Problem nicht genauso, aber ähnlich.

Die im Mittelpunkt stehende Grundfrage ist die nach dem Notwehrrecht des Staates. Schon weiter oben wurde der Angriffskrieg als gegen die christliche Ethik verstoßend abgelehnt. Fast alle Staaten im Westen erkennen das Recht des Einzelnen zur Kriegs­dienst­verweigerung unter gewissen Auflagen an, die zumeist auf religiösen Gewissensentscheidungen beruhen. Am großzügigsten verfährt dabei die Bundesrepublik Deutschland, während Frankreich die striktesten Einschränkungen für Kriegsdienst­verweigerer in seinen Gesetzen verankert hat. Die Schweiz kennt dieses Recht gar nicht; ein dahingehender Antrag wurde erst kürzlich vom Schweizer Volk per Volksabstimmung abgelehnt. Im Osten dagegen ist die Kriegsdienst­verweigerung nur in ganz wenigen Staaten möglich, unter anderem auch in der dur, in der Kriegsdienstverweigerer unter großen Schwierig­keiten anerkannt werden können und einen Ersatzdienst in Baubataillonen abzuleisten haben, als Soldaten in Uniform.

In der Bundesrepublik Deutschland hat jeder das Wahlrecht, sich für den Wehrdienst zu entscheiden oder nach dem Wort des Christus nach Matthäus 5,3 8-39 zu handeln:

»Ihr habt gehört, daß da gesagt ist: Auge um Auge, Zahn um Zahn. Ich aber sage euch, daß ihr nicht widerstreben sollt dem Übel, sondern, so dir jemand einen Streich gibt auf deinen rechten Backen, dem biete den andern auch dar.« (Martin Luther)

 Und nach Emil Bock lautet das Gebot:

»Ihr habt das Wort gehört, das gesprochen worden ist: ›Ein Auge für ein Auge, ein Zahn für einen Zahn.‹ Aus dem Ich heraus jedoch sage ich euch: Stellt euch dem Bösen nicht entgegen. Schlägt jemand dich auf deine rechte Backe, so biete ihm die linke auch dar.«

Sowohl die evangelische als auch die katholische Kirche fassen diesen Satz, nicht in seiner ganzen Radikalität auf, sondern schränken ihn durch das Notwehrrecht des Staates nach innen und nach außen ein.10

Zweifellos bleibt es dem Einzelnen überlassen, diesem Gebot bis zur letzten Konsequenz zu folgen und sich weder gegen Übergriffe gewalttätiger Verbrecher im Innern noch gegen einen äußeren Feind zu wehren. Der Staat in seiner Gesamtheit kann das nicht. Er hat eine unabdingbare Verpflichtung

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zum Schutz aller seiner Bürger gegen Verbrecher. Er kommt ihr mit Hilfe der Justiz nach, der Polizei und seiner Rechtsordnung nach innen. Den Schutz gegen einen Angriffskrieg von außen übernehmen die bewaffneten Streitkräfte. Solange die Welt noch so ist, wie sie im Augenblick sich darstellt, kann kein Staat auf das Notwehrrecht verzichten. Gerade in einer Zeit, in der Kriege nicht mehr »der Zeitvertreib der Könige« sind und der einzelne Bürger davon mehr oder weniger unberührt bleibt, muß dieses Notwehrrecht eines der vornehmsten Rechte des Staates bleiben. 

In modernen Kriegen, die immer mehr den Charakter von Religions- oder Weltanschauungskriegen annehmen, müssen auch diejenigen geschützt werden, deren Leben nicht nur durch die Kriegshandlungen selbst, sondern auch durch die ihnen nachfolgenden Verfolgungen durch den potentiellen totalitären Gegner gefährdet ist. Auch wer sich für die Kriegsdienstverweigerung entscheidet, muß sich die Frage ernsthaft vorlegen, ob seine Entscheidung nicht auf Egoismus physischer, seelischer oder geistiger Art beruht und er es wirklich verantworten kann, seinen Nächsten durch Unterlassung Tod und Verderben auszusetzen.

Im übrigen wird das Notwehrrecht des Staates an keiner Stelle im Neuen Testament angezweifelt. Mehrmals spricht Jesus mit Soldaten, und niemals findet er abschätzige Worte über ihren Beruf; im Gegenteil, man denke nur an das Beispiel des Haupt­manns von Kapernaum. Sein Gebot an sie lautet lediglich, sie sollten sich mit ihrem Sold begnügen und sich von unnötiger Gewaltanwendung fernhalten. Gibt es aber eine Gewaltanwendung, so wird eine solche durch die Lage gerechtfertigte und notwendige stillschweigend anerkannt. Ebensowenig findet sich in der Anthroposophie Rudolf Steiners ein pejoratives Urteil über Soldaten. Zu Rudolf Steiners Bekanntenkreis gehörte der Chef des Großen Generalstabs des deutschen Heeres von 1914, Generaloberst von moltke. Verschiedentlich betont Rudolf Steiner auch, daß Soldaten wie jeder andere, falls sie nach der Erkenntnis höherer Welten streben, zunächst ihre Pflicht zu erfüllen haben.

Sieht der Soldat oder derjenige, der zum Wehrdienst ansteht, seine Aufgabe in der rechten Weise als Notwehr und Opfergang an, so folgt er dem Christuswort nach Johannes 15,13:

»Niemand hat größere Liebe denn die, daß er sein Leben lasset für seine Freunde.« (Martin Luther) Und Emil Bock übersetzt: »Eine größere Liebe kann niemand haben als die, sein Leben hinzugeben für seine Freunde.«

Natürlich ist das Verhalten westlicher Staatsmänner nicht nur auf die bewußt oder unbewußt mit ihrer Erziehung aufgenommene christliche Lehre zurückzuführen; sicher gibt es unter ihnen auch solche, die das weit von sich weisen würden. Dennoch ist das christliche Kulturgut, in dem sie auf gewachsen und belehrt worden sind, ein nicht zu übersehendes, wichtiges und aus-

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schlaggebendes Moment ihres Verhaltens. Darüber hinaus sind zweifellos die geschichtliche Überlieferung ihres Volkes, dessen traditionelle Politik und die dem augenblicklichen Stand entsprechende Lage zu berücksichtigen.

Wie liegen nun die Verhältnisse im Osten? Während im Westen Staatsmänner, Völker und Blöcke zumindest in der christlichen Tradition verankert sind oder sich darauf berufen und damit den Krieg nur als Notwehrakt, wenigstens in der staatsrechtlichen Theorie, gelten lassen, liegen die Verhältnisse im kommunistischen Osten völlig anders. Allerdings sind dort die kulturellen und geistes­geschichtlichen Voraussetzungen keineswegs einheitlich. Ein großer Teil der heute kommunistischen Staaten wie die DDR, Polen, die Tschechoslowakei, Ungarn und Rumänien wurzeln in der christlich-abendländischen Kultur. Die Erfahrung zeigt, daß sich diese jahrhundertealte Tradition auch von den sich zum Marxismus-Leninismus bekennenden führenden Männern dieser Staaten nicht ohne weiteres abschütteln läßt. Anders verhält es sich dagegen mit der Supermacht Sowjetunion und der kommun­istischen Nuklearmacht China.

Trotz der Kulturrevolution unter mao tse-tung erweist sich in der Gegenwart immer mehr, daß sich das kulturelle Erbe des alten China nicht völlig verleugnen läßt. Dennoch gilt auch für das asiatische Millionenvolk, das fast ein Drittel der gesamten Menschheit darstellt, jene Definition des Krieges, die, weiter unten aufgeführt, von der Sowjetunion zum Dogma erhoben und von allen Staaten des marxistisch-leninistischen Lagers anerkannt wird. Obwohl zweifellos ein großer Teil der europäischen Bevölkerung des sowjetischen Riesenreiches noch der orthodoxen christlichen Lehre anhängt, gilt dies für die führenden Staatsmänner der Sowjetunion nicht, die bereits als Kinder in der marxistisch-leninistischen Tradition aufgewachsen sind.

Darüber hinaus nimmt der Anteil der europäischen Bevölkerung der Sowjetunion aufgrund der ständig rascher nachlassenden Geburtenzahlen immer mehr ab, während der asiatische, zu einem großen Teil islamische Teil der Bevölkerung in selbst für die russische Führung besorgnis­erregender Weise zunimmt. In dem vom Deutschen Militärverlag der ddr herausgegebenen deutschen Militärlexikon, das eine Übersetzung des sowjetischen ist und damit für den gesamten Ostblock gilt, wird der Krieg wie folgt definiert:

Krieg – bewaffnete Auseinandersetzung zwischen Staaten (Koalitionen oder Klassen) zur Verwirklichung ihrer politischen und ökonomischen Ziele. Er ist die Fortsetzung der Politik bestimmter Klassen mit gewaltsamen Mitteln.

Der Krieg ist eine gesellschaftlich-historische Erscheinung, die auf einer bestimmten Stufe der gesellschaftlichen Entwicklung entstand. Er ist das

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Ergebnis der Entstehung des Privateigentums an Produktionsmitteln, der Klassen und des Staates. Der K. wurde zum Mittel der Stärkung des Staates der Ausbeuterklassen, der Eroberung fremder Länder, der Unterdrückung und Ausplünderung fremder Völker. Gestützt auf die Erkenntnisse von Marx und Engels und auf das Studium der Kriege, besonders in der Epoche des Imperialismus, gab W. I. Lenin eine wissenschaftliche Klassifizierung der K. (Lehre von gerechten und ungerechten K.).

Die Wurzel der K. in der Gegenwart ist das imperialistische System mit den ihm innewohnenden inneren Widersprüchen, der Kampf der imperialistischen Staaten um Absatzmärkte, Rohstoffquellen, Kapitalanlage Sphären, das Streben der aggressiven imperialistischen Kräfte nach der Weltherrschaft durch Vernichtung des sozialistischen Lagers in einem dritten Weltkrieg. Diese Wurzeln der K. verschwinden endgültig erst mit der Beseitigung des Kapitalismus und dem Sieg des Sozialismus im Weltmaßstab. Unter den Bedingungen der Existenz des sozialistischen Weltlagers der internationalen Arbeiterklasse und ihrer kommunistischen und Arbeiterparteien, der ständig wachsenden Zahl friedliebender Staaten, der organisierten Weltfriedens­bewegung und der wachsenden nationalen Befreiungsbewegung der Völker, der Kolonien und abhängigen Länder ist bereits vor dem Sieg des Sozialismus in der ganzen Welt die reale Möglichkeit gegeben, die aggressiven imperialistischen Kräfte zu bändigen und den Krieg aus dem Leben der Völker zu bannen.

 

Zunächst einmal gibt diese Definition eine Erweiterung des Begriffes Krieg. Danach ist der Krieg nicht nur die bewaffnete Auseinandersetzung von Staaten allein, sondern auch von Klassen, d.h. also, daß die Revolution zum Begriff Krieg gehört. Ursprung ist nicht wie in der christlichen Lehre die Unvollkommenheit des Menschen oder sein Egoismus, sondern Krieg ist das Ergebnis der Entstehung des Privateigentums an Produktionsmitteln, was als dem imperialistischen System immanent angesehen wird. Der Krieg selbst kann nur durch die Beseitigung des Kapitalismus und den Sieg des Sozialismus auf der ganzen Welt überwunden werden. Bevor wir zu weiteren Schlußfolgerungen kommen, sehen wir uns noch an, was lenin über den gerechten bzw. ungerechten Krieg sagt. Unter der Überschrift »Krieg, gerechter (fortschrittlicher Krieg)« bringt das gleiche Lexikon die folgende Definition:

Krieg einer unterdrückten Klasse gegen die Unterdrückerklasse, nationale und koloniale Befreiungskriege. K. der Völker gegen drohende nationale Versklavung, K. des siegreichen Proletariats zur Verteidigung des Sozialis-

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mus gegen imperialistische Staaten. Verschiedene Arten gerechter K. können sich zu einem gemeinsamen Ziel vereinigen. Gerechte K. hat es in allen Gesellschaftsordnungen gegeben, besonders häufig aber sind sie in der Gegenwart. Gerechte K. werden von der internationalen Arbeiterklasse und den kommunistischen und Arbeiter-Parteien entschieden unterstützt.

 

Auf die Frage des gerechten und ungerechten Krieges muß weiter unten noch eingegangen werden. Hier bleibt zunächt einmal festzuhalten, daß im sowjetischen Sinn gerechte Kriege, zu denen ja auch – wie wir gehört haben – die Revolutionen gehören, wenn sie von der Arbeiterklasse geführt werden, die entschiedene Unterstützung der kommunistischen und Arbeiter-Parteien, d.h. der Sowjetunion und des Ostblocks, finden. Dies wurde im übrigen auch von den führenden sowjetischen Staatsmännern, zuletzt von breschnew und gromyko, durchaus nicht geleugnet, sondern offen erklärt. 

Entsprechend dieser Definition ist es nach sowjetischer Auffassung ganz selbstverständlich, daß die Sowjetunion denjenigen kommunistischen Kräften einer Arbeiterklasse zu Hilfe kommen wird, die durch eine kommunistische Revolution in einem Staat die Macht zu ergreifen oder gegen »konterrevolutionäre Kräfte« zu halten versucht. So hat auch gromyko das Eingreifen der sowjetischen Streitkräfte gegenüber dem Westen ideologisch erklärt. So auch erklärt sich die sowjetische Unterstützung überall dort auf der Welt, wo sich eine Lage ähnlich wie etwa der in Afghanistan oder ein Krieg zwischen einem sozialistischen und »imperialistischen« Staat ergibt. Sowohl breschnew als auch gromyko haben erklärt, daß sie nicht gewillt sind, von diesem Grundsatz abzuweichen oder ihn aufzugeben.

Aus der Definition des gerechten oder fortschrittlichen Krieges ergibt sich zwangsläufig die Definition des ungerechten Krieges, die im gleichen Lexikon abgedruckt ist. Sie lautet:

Krieg, ungerechter – imperialistische Eroberungskriege, K. zur Niederschlagung der revolutionären Bewegung der unterdrückten und ausgebeuteten Klassen, K. zur Niederschlagung der nationalen und kolonialen Befreiungsbewegung, K. zur Festigung der Ausbeuterordnung, K. gegen die errichtete Macht der Arbeiter und Bauern, gegen sozialistische Staaten.

Ungerechte K. werden von der internationalen Arbeiterklasse und den kommunistischen und Arbeiter-Parteien entschieden bekämpft, wenn es nicht gelingt, deren Entfesselung zu verhindern.

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Das bedeutet natürlich, daß allein die Sowjetunion als Vertreterin der internationalen Arbeiterklasse entscheidet, welcher Krieg gerecht und welcher ungerecht ist. Kommt sie zu der Auffassung, daß ein ungerechter Krieg irgendwo auf der Welt geführt wird, so ist sie zur entschiedenen Bekämpfung des Feindes der Arbeiterklasse entschlossen. Bisher hat sich erwiesen, daß sie das auch überall tut. Allerdings kann ihre Hilfe und Unterstützung unterschiedlich ausfallen. Propagandistische Unterstützung und Hilfe durch Waffenlieferungen werden in solchen Fällen überall geleistet. Sie schreitet nur dort selbst mit Waffengewalt ein, wo es ihr die Lage erlaubt, d. h. vornehmlich in den Ländern und Räumen, die wie die Tschechoslowakei und Ungarn oder die ddr in ihrem eigenen Machtbereich liegen und zu ihrem Blocksystem gehören, oder wo sie dies, ohne das Risiko eines weltweiten Krieges eingehen zu müssen, tun kann wie etwa in Afghanistan. Andere Möglichkeiten bestehen wie etwa in Polen durch die Stützung einer kommunistischen Militärjunta oder durch die Entfesselung von Stellvertreterkriegen wie 1950 in Korea, in den folgenden Jahren in Vietnam oder in der neuesten Zeit in Äthiopien, das gegen das abgefallene Somali vorging, sowie im Tschad und Mittelamerika.

Im übrigen läßt diese Definition – und es ist sehr wichtig, dies festzuhalten – den Krieg nicht nur als staatliche Notwehr im westlichen Sinne zu. Die Klassenkampftheorie erklärt ja Revolutionen, also Angriffe gegen die bestehende Macht, als Verteidigung der Rechte der Arbeiterklasse. Aus dieser Definition ergibt sich logischerweise auch, daß überall dort, wo sozialistische Staaten ihre Rechte »verteidigen« oder »Befreiungskriege« gegen »imperialistische Aggressionen« führen wollen, sie ihre Angriffe als Verteidigung deklarieren. Wiederum bestimmt die Sowjetunion allein, welcher Krieg als Angriffskrieg und welcher als Verteidigungskrieg zu bewerten ist. Vergleichen wir diese Auffassung mit der im Westen geltenden Auffassung von der Notwehr des Staates und der durch die christliche Ethik bestimmten Überwindung des Egoismus, auch des Staatsegoismus, so ist festzustellen, daß im Ostblock gerade das Gegenteil der Fall ist. Nicht die Überwindung des Egoismus aller steht an erster Stelle, sondern die Durchsetzung des egoistischen Wollens einer Klasse oder von Staatengruppen. Auf all diese Dinge muß im letzten Kapitel noch eingegangen werden.

 

Eine kurze Bemerkung über die Einstellung zum Krieg und die Kriegsursachen muß der Dritten Welt gelten, zumal zumindest ein Land, nämlich Indien, heute im Besitz der entscheidenden Waffe, der Atombombe, ist. Der Verlauf der Geschichte nach dem Zweiten Weltkrieg hat auch gezeigt, daß Kriege in der Dritten Welt oft die Gefahr eines Weltbrandes in sich bergen und nur mit Mühe eingedämmt werden können. Das eklatanteste Beispiel

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hierfür bietet der Nahe Osten. Ein sehr großer Teil der Dritten Welt gehört dem islamischen Glauben an. Der Koran aber fordert nach wie vor den dschihad (arabisch eigentlich »Anstrengung«), den »Heiligen Krieg« der Mohammedaner gegen alle Ungläubigen. Das geht so weit, daß selbst in einem Krieg zweier mohammedanischer Staaten gegeneinander, wie im Augenblick im Krieg des Iran gegen den Irak, der »Heilige Krieg« ausgerufen werden kann, falls das eine Land einer anderen mohammedanischen Sekte angehört als das andere. Dies stellt eine ständige Gefahr für den Weltfrieden dar. Neben diesen religiösen Gründen bildet der in der Dritten Welt erwachende Nationalismus eine weitere sehr ernste Gefahr für die Entfesselung von Kriegen.

Ein Wort muß noch, unabhängig von religiösen, ethischen und politischen Gründen, über die Rolle der Geschlechter bei der Auslösung von Kriegen verloren werden. Immer wieder wurde behauptet, daß Frauen als Führer von Staaten eine gewisse Garantie für die Einhaltung des Friedens böten. Schon die alten Griechen wußten das anders. Ursache des Trojanischen Krieges war nach der Sage das Urteil des Paris und der Raub der Helena. In der modernen Zeit haben Frauen an der Spitze von Staaten mit gleicher Bereitschaft Kriege geführt – und auch mit gleicher Erbitterung – wie Männer; dazu brauchen nur die Beispiele indira gandhi, golda meir und margaret thatcher angeführt zu werden. Weitere Namen könnten diese Reihe ergänzen.

 

Noch einmal muß betont werden, daß diese Anschauungen und Definitionen über den Krieg, wie sie für den Westen, den Osten und die Dritte Welt vorgetragen wurden, nur Grundsätze umreißen. Damit soll nicht gesagt werden, daß alle Staatsmänner, gleich in welchem Lager sie sich befinden, auch unbedingt nach ihnen handeln. Die praktische Politik kann durchaus davon abweichen. Weder schützt die christliche Grundauffassung westliche Politiker davor, im Kampf um die Macht auf der Welt die Notwehr zu überschreiten, noch zwingt sie unter allen Umständen die östlichen Politiker dazu, einen Krieg im Sinne der Übertragung der Klassenkampftheorie auf die bewaffnete Auseinandersetzung zwischen Staaten zu entfesseln. 

Dennoch besteht, von der ethischen Frage abgesehen, ein grundlegender Unterschied in der Praxis: Der am 4. April 1949 in Washington abgeschlossene Nordatlantik-Vertrag, dem die Bundesrepublik Deutschland am 23. Oktober 1954 beitrat, legt ganz eindeutig den ausschließlichen Verteidigungscharakter dieses Vertrages im Artikel 5 fest, in dem es heißt:

»Die Parteien vereinbaren, daß ein bewaffneter Angriff gegen eine oder mehrere von ihnen in Europa oder Nordamerika als ein Angriff gegen sie alle angesehen werden wird; sie vereinbaren daher, daß im Falle eines solchen bewaff-

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neten Angriffs jede von ihnen in Ausübung des in Artikel 51 der Satzung der Vereinten Nationen anerkannten Rechts der individuellen oder kollektiven Selbstverteidigung der Partei oder den Parteien, die angegriffen werden, Beistand leistet, indem jede von ihnen unverzüglich für sich und im Zusammenwirken mit den anderen Parteien die Maßnahmen, einschließlich der Anwendung von Waffengewalt, trifft, die sie für erforderlich erachtet, um die Sicherheit des nordatlantischen Gebiets wiederherzustellen und zu erhalten. Von jedem bewaffneten Angriff und allen daraufhin getroffenen Gegenmaßnahmen ist unverzüglich dem Sicherheitsrat Mitteilung zu machen. Die Maßnahmen sind einzustellen, sobald der Sicherheitsrat diejenigen Schritte unternommen hat, die notwendig sind, um den internationalen Frieden und die internationale Sicherheit wiederherzustellen und zu erhalten.«

Zwar lautet der entsprechende Artikel des am 14. Mai 1955 abgeschlossenen Warschauer-Pakt-Vertrages recht ähnlich, doch geht ja aus dem vorher Gesagten hervor, wie leicht durch einen dialektischen Kunstgriff in bezug auf die Auslegung eines gerechten bzw. ungerechten Krieges ein tatsächlicher Angriff zur Verteidigung deklariert werden kann. Dies geht deutlich aus der Definition des Wortes »Kriegswissenschaft« hervor, das sich allerdings im genannten Lexikon des Deutschen Militär-Verlages in Ost-Berlin nicht findet. Diese Definition ist dagegen im sowjetischen Lexikon gleicher Art enthalten, das dem ostdeutschen zugrunde liegt. Darin heißt es:

»Die Kriegswissenschaft vermittelt ein System von Kenntnissen über die Gesetzmäßigkeiten des Krieges, die Art seiner Vorbereitung und Führung ...
Die sowjetische Kriegswissenschaft ist historisch fortschrittlich, da sie von der besten wissenschaftlichen Theorie des Marxismus-Leninismus geleitet wird, dem dialektischen und historischen Materialismus. Sie fußt auf der Verallgemeinerung und den Ableitungen der marx-leninschen Wissenschaft über die Gesellschaft und auf den Interessen der Volksmassen, des sozialistischen Staates und des ganzen sozialistischen Lagers, welche nur gerechte Befreiungskriege führen können.«11

 

 

Auffassungen der Völker

 

Nach dieser kurzen Darlegung der gegenwärtigen grundsätzlichen Auffassungen über den Krieg gilt es, einen Blick in fernste Vergangenheit zu werfen. Die moderne Völkerkunde weiß über das kulturgeschichtliche Alter des Krieges im Sinne einer absoluten Chronologie nichts Sicheres auszusagen;

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es bestehen jedoch Anzeichen dafür, daß es solche Auseinandersetzungen bereits in der jüngeren Altsteinzeit, im Jungpaläo­lithikum, gab. Darauf weisen Skelettfunde hin, deren Schädel Beilhiebe aufweisen oder in deren Knochen steinerne Pfeil- und Lanzenspitzen stecken. Dennoch gibt es bei allen Völkern eine Vorstellung vom verlorenen Paradies, in dem ein ewiger Frieden herrschte. So heißt es z.B. in den Mythen der Sumerer:

Einmal vor langer Zeit gab es keine Schlange, keinen Skorpion, gab es keine Hyäne, keinen Löwen, gab es keinen wilden Hund, keinen Wolf, keine Furcht, kein Entsetzen, der Mensch hatte keinen Nebenbuhler.12

Von einer Uraggressivität kann, wie die moderne Völkerkunde meint, nicht die Rede sein. Vergleiche mit modernen Naturvölkern, die noch auf steinzeitlicher Stufe leben, zeigen, daß alle diese Völker das Risiko scheuen. Für die bewaffnete Auseinandersetzung bevorzugen sie den heimlichen Überfall im Morgengrauen und greifen erst dann an, wenn sie sich dem Feind klar überlegen fühlen. Im allgemeinen gilt der Gruppenfremde als Feind. In jüngster Zeit wurde die These aufgestellt, daß diese Art der Kampfführung vor allem dazu diente, Menschenopfer für die Götter zu beschaffen. Beispiele dafür finden sich sowohl in Südostasien und Polynesien als auch in Nord- und Südamerika. 

Deutlich weist darauf auch ein Brauch nord- und südamerikanischer Indianerstämme hin, bei dem es im Kampf mehr darauf ankam, den Gegner mit der Hand zu berühren, als ihn mit der Waffe zu töten. Der mit der Hand Berührte galt als besiegt. Berichte der Spanier aus der Zeit der Eroberung Nord- und Südamerikas beschreiben diese Vorgänge so, daß der siegreiche Krieger durch das Handauflegen den Besiegten zugleich zu seinem Freund und Sklaven machte. Er wurde dann im Triumph in das eigene Stammesgebiet geführt und dort meist nach einer gewissen Zeit, in der man ihn als Ehrengast oder als Verkörperung eines Gottes behandelte, von den Priestern geopfert.13

Die bewaffnete Auseinandersetzung – und das wird im nächsten Kapitel noch näher geschildert – war also eine Angelegenheit, die ganz eng mit religiösen Vorstellungen verbunden war und zum Dienst an den Göttern gehörte. Dies zeigt auch die Tatsache, daß es neben dem heimlichen Morgenüberfall bei modernen Naturvölkern auch den Kampf zwischen zwei traditionell verfeindeten Gruppen mit strengen Regelungen, formeller Herausforderung oder Kriegserklärung usw., gab. Kriegsgründe sind stets Gewalttat, Blutrache oder die Wohlfahrt des Einzelnen wie des ganzen Stammes, des Dorfes oder der Sippe im religiösen Zusammenhang. Dagegen spielt die

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Frage des Machtzuwachses oder der Annexion eines feindlichen Landes bei echten Naturvölkern überhaupt keine Rolle. Diese Gründe stehen erst bei den sog. zivilisierten Völkern oder bei Völkern mit einer Hochkultur, d.h. also auch etwa bei Hochkulturvölkern Schwarzafrikas wie den Zulus, im Vordergrund.14

Seit Jahrtausenden bemühen sich Theologen, Philosophen und Politiker um eine sittliche Wertung und Bewertung des Krieges. Dabei sehen die einen im Krieg eine für die menschliche Gesellschaft positive Kraft, die anderen dagegen eine sittliche Gefahr. Der aus königlichem Geblüt stammende heraklit von ephesus (550-480 v.Chr.) erkannte die in Gegensätze zerfallende Welt, in der ein Kampf aller Dinge gegeneinander herrscht. Ihm war daher der Krieg (pólemos) der »Vater aller Dinge«. Ganz allgemein waren Auseinandersetzungen für ihn der Motor der Weltgeschichte und Kämpfe ein Ausdruck des ewigen Werdens. thukydides (etwa 455–396 v.Chr.), der selbst Stratege war und den Krieg aus eigener bitterer Erfahrung kannte, empfand den Krieg als »gewalttätigen Lehrmeister«. Als solchen und als bittere Notwendigkeit hat ihn wohl die gesamte Antike angesehen.

Bei den Römern griffen ursprünglich wie bei allen alten Völkern die Götter unmittelbar in den Krieg ein, nachdem in den Anfangszeiten die Komi-tien als Volksvertretung das bellum justum, den »gerechten Krieg«, beschlossen und die Facialen, ein Kollegium von 20 Priestern für sakralrechtliche Fragen, ihn verkündet hatten. In der späteren römischen Zeit jedoch wird der Krieg in der Pax Romana pervertiert und dient der reinen Machtpolitik. Von cäsar eingeleitet und vorbereitet, wird diese Pax Romana von augustus als Reichsidee konzipiert. Der ihr zugrundeliegende und vom juristisch denkenden Volk und seinen Cäsaren getragene Friedensgedanke ist jedoch keineswegs pazifistisch oder auch nur friedliebend, sondern er beruht auf der militärischen Überlegenheit Roms, das seine Aufgabe darin sah, die Welt zu ordnen. Wer sich dieser Ordnung widersetzte, wurde niedergeworfen und vernichtet, geschont dagegen derjenige, der um Gnade unter Anerkennung des Machtanspruchs der Cäsaren bat.

Wie bei den frühen Römern steht auch bei den Germanen der Krieg unter einem göttlichen Gesetz. Nur dieses Gesetz rechtfertigt ihn, macht ihn »gerecht«. Wir werden noch sehen, wie bei ihnen und bei anderen Völkern die Götter unmittelbar in den Kampf eingriffen. Sehr viel über das Wesen des Krieges in dieser frühen Zeit sagt die Handhabung der Disziplinargewalt bei Griechen, Römern und Germanen aus. Während bei den Griechen Verstöße gegen die Manneszucht erst nach Beendigung des Krieges oder des Feldzuges durch modern anmutenden demokratischen Beschluß der Heeres- oder Volksversammlung der freien Männer der Polis geahndet wurden, geschah

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dies in Rom durch den Consul, der mit seinen sechs Lictoren als unmittelbarer Vollstrecker seines Machtanspruchs auftrat. Unter ihm besaßen die unseren Stabsoffizieren vergleichbaren Tribunen das Recht, empfindlichste Prügelstrafen zu verhängen. Die unter ihnen stehenden Zenturionen, die mit unseren Unteroffizieren verglichen werden dürfen, obwohl sie die Befehlsbefugnis etwa eines Kompaniechefs besaßen, trugen ständig den Stock und prügelten ihre Untergebenen höchst eigenhändig, wie auch die Korporale zur Zeit der stehenden Heere des 18. Jahrhunderts, wann immer sie eine Disziplinwidrigkeit zu bemerken glaubten.

Der Grieche polybios (ca. 201–120 v.Chr.), der mit tausend vornehmen Achäern als Geisel in Rom festgehalten wurde und enge Freundschaft mit dem jüngeren scipio schloß, begleitete diesen auch später auf seinen Zügen und sah die Zerstörung von Karthago, Korinth und Numantia. Er erzählt uns, daß schlafend angetroffene Wachposten gesteinigt wurden. Wenn sie die Strafe überstanden, traf sie lebenslängliche Verbannung. Die gleiche Strafe erlitten Zenturionen, die nicht ordnungsgemäß die Runde machten. 

Befehlsverweigerung, Feigheit vor dem Feind und Fahnenflucht wurden unweigerlich mit dem Tod bestraft. Wurden ganze Truppenteile dieser oder ähnlicher Verfehlungen überführt, so wurden sie dezimiert. Jeder zehnte Mann verfiel dabei den Ruten und dem Beil der Lictoren. Die militärischen Vorgesetzten übernahmen damit die Rolle des allein sich selbst und seinem Rechtsempfinden verantwortlichen Richters. Bei den Germanen dagegen besaß kein Vorgesetzter, wenn von einem solchen überhaupt gesprochen werden kann, ein persönliches Recht zur Verurteilung oder Bestrafung. Bei allen militärischen Vergehen sprechen ausnahmslos die Priester das Recht.

»Aber auch die Priester tun das nicht, um von sich aus oder auf Befehl des Heerführers eine Strafe zu vollziehen, sondern sozusagen auf Geheiß des Gottes, der nach ihrem Glauben den Kämpfern zur Seite steht.«15

Ganz in der Hand der Götter liegt also das Schicksal des Einzelnen und des Stammes.

Der christliche Bischof aurelius augustinus, Kirchenvater und Philosoph, der 354 in Tagaste geboren wurde und 430 n.Chr. als Bischof von Hipporegius in der Nähe von Karthago starb, rechtfertigte, besonders angesichts der Vandalen, die damals Nordafrika eroberten, den Krieg als Mittel zur Wiederherstellung verletzten Rechts und zur Verbreitung des Glaubens. Er tat dies, obwohl er auch sagte: »Man soll die Feinde lieben, nicht weil sie schon Brüder wären, sondern damit sie Brüder werden.« Nach augustinus ist der Staat verpflichtet, gegen Rechtsbrüche auch mit Gewalt vorzugehen, und die Kirche hat als Gemeinschaft der Christen die Aufgabe, das Gottesreich unter Einsatz aller Machtmittel, auch der staatlichen, zu verwirklichen.

Ebenso vertrat thomas von aquin (1225-1274) die Lehre,

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Kirche und Staat hätten das Recht, Krieg zu führen, um die gesellschaftliche Ordnung zu erhalten oder wiederherzustellen. Nur so, meinte er, könnten Frieden und Wohlstand als Voraussetzungen für das Ringen der Kirche um das Seelenheil der Gläubigen gedeihen. Bei allen seinen Überlegungen ist jedoch der Friede die Regel und der Krieg die Ausnahme. Des augustinus' Lehre vom Gottes- und Teufelsstaat, die sich sichtbar und unsichtbar bekämpfen, prägte beider Auffassungen, weswegen sie den Begriff des gerechten Krieges einführen mußten. Der gerechte Krieg dient der Verteidigung des Gottesstaates im weitesten Sinn des Wortes. Diese Anschauung gipfelt schließlich m dem Kreuzzugsruf »Gott will es!«; sie sollte das ganze europäische Mittelalter beherrschen. Auf augustinus fußt derWestgote isidor von sevilla (um 540-636), der über Kriegs- und Völkerrecht schrieb.

Aus dem an die Götter gebundenen und unter ihrem Gesetz stehenden Krieg der Antike, mit Ausnahme des cäsarischen Rom, wird im Mittelalter der gerechte Krieg des christlichen Staates gegen den Teufelsstaat der Nichtchristen und Häretiker. Im Jahr 1386 schreibt der Wiener Domdechant johann der seffner: »Der gerecht streit ist der von dem Chaiser und dem rechten erlaubt ist durch wider springen des erbs oder zu vertreiben dy veind.« Der spanische Dominikaner und Professor in Salamanca francesco de vitoria (1483-1546) stellte als erster in seiner Schrift »De jure belli« die Lehre vom gerechten Krieg in Frage und begründete das moderne Kriegsvölkerrecht. Er bezog die Heiden in die Völkerrechtsgemeinschaft ein und erklärte es für völkerrechtswidrig, sie durch Krieg zur Annahme des christlichen Glaubens zu zwingen. Ebenso deutlich, ja noch deutlicher beschränkte sein Schüler francisco soarez (1548-1617) den Krieg auf die Verteidigung gegen objektives Unrecht und auf Strafexpeditionen gegen schuldige Feinde. martin luther (1483-1546) erklärte in seiner 1527 verfaßten Schrift »Ob Kriegsleute auch im seligen Stand sein können?«, der Krieg wäre als Notwehrhandlung geboten, wenn Schieds­gerichts­verhandlungen scheiterten und die gerechte Ordnung zwischen den Völkern gefährdet wäre.

Ungeachtet der im 16. Jahrhundert beginnenden Religionskriege zwischen den christlichen Konfessionen berief sich hugo grotius (1583-1645) in seiner Abhandlung über das Recht des Krieges und des Friedens auf die Staatssouveränität im Völkerrecht. Dabei billigte er den Krieg als Rechtsakt, als Polizeiaktion gegen Verbrecher mit dem Ziel, diese hart und schnell, aber so weit wie möglich human zu bestrafen. Handelten dagegen Regierungen verbrecherisch, so hätten die davon betroffenen Herrscher nicht nur das Recht, sondern auch die Pflicht, Gegenmaßnahmen zu ergreifen und zum Krieg zu rüsten. Der Krieg ist damit Mittel zur Austragung des Rechtsstreits geworden.

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Seine eindeutigste Form als reiner Rechtsstreit findet der Krieg im Zeitalter des Absolutismus, besonders im 18. Jahrhundert, wo er fast ohne Anteilnahme der Zivilbevölkerung als »Zeitvertreib der Könige« im Spiel um die Macht geführt wird. Die Lehre vom gerechten Krieg wird damit zur bloßen Formel. An ihre Stelle tritt die Lehre vom Recht zum Krieg.

Auf den Erfahrungen der Kabinettskriege und der Napoleonischen Kriege fußend, konnte der preußische General carl von clausewitz in seinem zwischen 1816 und 1830 geschriebenen Werk »Vom Kriege« mit Recht sagen, der Krieg sei »eine Fortsetzung politischen Verkehrs, ein Durchführen desselben mit anderen Mitteln«. Er definiert ihn als »Akt der Gewalt, um den Gegner zur Erfüllung unseres Willens zu zwingen ... Denn die politische Absicht ist der Zweck, der Krieg nur das Mittel, und niemals kann das Mittel ohne Zweck gedacht werden ... Da der Krieg kein Akt blinder Leidenschaft ist, sondern der politische Zweck darin vorwaltet, so muß der Wert, den dieser hat, die Größe der Aufopferung bestimmen, mit welcher wir ihn erkaufen wollen.« clausewitz hat damit klar erkannt, daß der Krieg zu seiner Zeit ein Mittel, und zwar ein brauchbares, der Politik war, daher unterstellt er ihn ihr. Schon hier sei vorweggenommen, daß der atomare Krieg kein Mittel der Politik mehr sein kann, weil er zur Selbstvernichtung der Menschheit führt und damit jede sinnvolle Politik unmöglich macht.

Das erwachende Nationalbewußtsein bei den europäischen Völkern hat zu Beginn des 19. Jahrhunderts, nach einem Wort des britischen Generals fuller, den Krieg demokratisiert und das Schlachtfeld zu einem Schlachthaus gemacht. In Übereinstimmung mit der CLAUSEWITZschen Definition des Krieges betrachteten die Regierungen des vergangenen Jahrhunderts den Krieg als legitimes Mittel der nationalstaatlichen Politik. In allen seinen Formen wurde er zur Erreichung nationaler Ziele angewendet und gerechtfertigt. Das Recht zum Krieg (jus ad bellum) hob erst nach dem Ersten Weltkrieg der Kellogg-Pakt auf, durch den Angriffskriege verboten wurden.

Stets haben sich gerade deutsche Heerführer auf clausewitz berufen, und dennoch interpretierte Generalfeldmarschall helmuth graf von moltke (1800-1891) das Verhältnis von Krieg und Politik in dem Sinn, daß die Strategie, im Handeln völlig unabhängig von der Politik, ihr Streben auf das höchste Ziel zu richten habe. Auf diese Weise, so glaubte Moltke, arbeiteten Politik und Strategie am besten Hand in Hand. Er bestritt damit den Primat der politischen Führung während des Krieges. Erst wenn das Ziel des Soldaten, nämlich die Wehrlosmachung des Gegners, erreicht ist, setzt die Politik wieder ein.

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Generaloberst erich ludendorff (1865-1937), der Generalstabschef hindenburgs und seit 1916 Generalquartiermeister und eigener Leiter der Kriegshandlungen des deutschen Heeres, stellt in seinem Buch »Kriegführung und Politik«, das er 1922 herausgab, den Krieg als natürliche Äußerung des Staates dar. Demnach hat die Politik dafür zu sorgen, daß der Krieg fachgemäß geführt werden kann. Damit wird der Primat des Militärischen postuliert und genau das Gegenteil dessen behauptet, was clausewitz gesagt hatte. In letzter Konsequenz führte diese Auffassung vom Krieg schließlich zum totalen Krieg, der sich in seiner Furchtbarkeit und Entartung am deutlichsten im ideologischen Krieg der Zukunft auswirken muß, falls nicht Vernunft und Menschlichkeit siegen. Allerdings soll keineswegs behauptet werden, daß allein deutsche Soldaten solchen Gedanken anhingen. In der Praxis sind im Zweiten Weltkrieg fast alle Staaten diesen Gedanken mehr oder weniger erlegen. Am deutlichsten zeigte sich dies bei der Bombenkriegführung gegen Deutschland, dessen eifriger Befürworter bereits vor dem Krieg der britische Luftmarschall harris war. Er stützte sich seinerseits auf die Ideen des italienischen Generals douhet.

Dabei spielten auch weiterhin und spielen bis in die Gegenwart hinein die Begriffe vom gerechten und ungerechten Krieg eine große Rolle, wobei zum Teil sogar der Kreuzzugsgedanke von angelsächsischer Seite gegen Deutschland und von Deutschland gegen die Sowjetunion wieder aufgegriffen wurde. Über die sowjetischen Definitionen vom gerechten und ungerechten Krieg wurde bereits weiter oben gesprochen. Die Furchtbarkeit dessen, was in den Jahren vom 1939 bis 1945 geschehen war, erweckte nach dem Zweiten Weltkrieg das zentrale Anliegen aller Großmächte, anstelle Kriege zu gewinnen, Kriege zu vermeiden. Auch die katholische Kirche gab die Lehre vom gerechten Krieg auf. An ihre Stelle trat in der Friedensenzyklika des Papstes johannes xiii. »Pacem in Terris« von 1963 sowie in der Pastoralkonstitution »Gaudium et Spes« des 2. Vatikanischen Konzils von 1968 die Lehre vom Frieden, und beide Denkschriften sprachen sich für gewaltlose Methoden der Konfliktregelung und einen weltweiten sozialen Ausgleich zur Friedenssicherung aus. 

Die protestantische Kirche stellte 1959 die Lehre von der Komplementarität von Waffengebrauch und Waffenverzicht auf, wobei die radikale Richtung den Krieg als einen Akt der Ungerechtigkeit und Unmenschlichkeit verdammte, die andere es jedoch den Christen zur Pflicht machte, an einem Krieg mitzuwirken, falls dieser Recht und Ordnung schützt.16

Das christliche Ziel, den Egoismus des Einzelnen und der Gemeinschaften zu überwinden, die freie Entfaltung der Völker in ihrer nationalen Selbständigkeit, ihren Lebensgewohnheiten und Lebensanschauungen zu ach-

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ten, muß in Gegenwart und Zukunft den Krieg ebenso verhindern, wie die Achtung vor der freien Entfaltung der Persönlichkeit innerhalb der einzelnen Staaten den Mißbrauch von Gewalt durch den Staat und durch den Einzelnen verbietet. Nur dann kann verhindert werden, daß die den Frieden pervertierende Feststellung und Forderung des sowjetischen Generals schaposchnikow, stalins Generalstabschef im Zweiten Weltkrieg, zum Schrecken der Menschheit in Erfüllung geht, wonach in Umkehrung der clausewitzschen Erkenntnis »der Friede zur Fortsetzung des Krieges mit anderen Mitteln« wird. mao tse-tung nannte geradezu den Frieden die Fortsetzung des Krieges und Klassenkampfs mit allen legalen und illegalen Mitteln.

Auch Rudolf Steiner äußerte Grundsätzliches über den Krieg. In seinem Vortrag vom 1. Januar 1917 über das »Karma der Unwahrhaftigkeit« möchte er, »daß der Schein durchschaut werde, der durch das noch aus der Vergangenheit in die Gegenwart hineinragende System der Nationalstaaten entsteht, und daß die Kriegsereignisse überhaupt etwas wie ein Schleier sind, hinter dem eine neue Welt darauf wartet, ins Dasein zu treten: Der Krieg sei in Wahrheit eine Revolution im sozialen Gefüge der Menschheit.«17

Er weist darauf hin, daß die Geschichte der Menschheit auch in ihren schmerzlichsten Ereignissen von geistigen Impulsen gelenkt und geleitet wird. Aber diese geistigen Impulse wirken auch gegeneinander, und die Menschen sind in einander vielfach widerstrebende Strömungen hineingestellt. »Wer immer nur denkt: Die weisheitsvolle Weltenordnung wird es schon machen, – macht es sich zu leicht.«18

Über die Einstellung des Einzelnen zum Krieg sagt Rudolf Steiner:

»... wir wissen zu beurteilen, daß in einem gewissen Zeitabschnitte der Entwicklung der Menschheit Kriege aufgekommen sind, Kriege dasjenige waren, wovon die Menschheit gewissermaßen ergriffen worden ist. Aber es war die Zeit, in welcher die Menschen an Kriege geglaubt haben. Was heißt denn das: Es war die Zeit, in welcher die Menschen an Kriege geglaubt haben? – Was heißt: Glauben an Kriege? – Nun, das Glauben an Kriege ist sehr ähnlich dem Glauben an das Duell, an den Zweikampf. Wann aber hat das Duell, der Zweikampf einen wahren Sinn? Nur dann, wenn diejenigen, dir zum Duell sich stellen, der vollen inneren Überzeugung sind, daß nicht ein Zufall, sondern die Götter entscheiden. Sind diejenigen, die zum Duell antreten, des vollen Glaubens, daß derjenige, der getötet oder verwundet wird, diesen Tod oder diese Verwundung erhalten hat deshalb, weil ein Gott gegen ihn entschieden hat, dann ist Wahrheit im Duell. Keine Wahrheit ist im Duell, wenn man diese Überzeugung nicht hat; dann ist das Duell eine reale Lüge, selbstverständlich. So aber ist es auch mit dem Krieg. Wenn die Menschen, die zu den Völkern gehören, überzeugt sein können davon, den

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Glauben haben, daß die Entscheidung, die durch den Krieg herbeigeführt wird, eine göttliche ist, daß Göttliches waltet in dem, was geschieht, dann herrscht eine Wahrheit in dem, was als Kriegshandlung geschieht. Dann müssen aber diejenigen, die daran beteiligt sind, einen Sinn verbinden können mit dem Worte: Ein Gottesurteil wird sich vollziehen.«19

 

 

Im Spiegel der Etymologie

 

Auch die Sprache kann uns so manches über die Auffassungen vom Krieg verraten. Es ist nur natürlich, daß in einem deutsch geschriebenen Buch der germanische und deutsche Sprachgebrauch dabei im Vordergrund steht. Zunächst fällt bei der sprachlichen Untersuchung auf, daß die Germanen kein gemeinsames Wort für Krieg haben. Angesichts der Tatsache, daß sie aber von den antiken Schriftstellern übereinstimmend als besonders kriegstüchtig bezeichnet werden – man braucht dazu nur einen Blick in die »Germania« des tacitus zu werfen –, erscheint das verwunderlich. Doch eine nähere Untersuchung zeigt, daß bei Naturvölkern auch heute noch oftmals der Sammelbegriff fehlt, während Einzelbezeichnungen in großer Zahl vorhanden sind. Dies trifft z.B. für Schafe züchtende Nomaden zu, die oftmals mehr als 30 Wörter für Schafe verschiedenen Alters, verschiedenen Geschlechts, verschiedener Farbe usw. besitzen. 

Im Deutschen kennen wir dagegen nur Widder, Hammel, Mutterschaf und Lamm, wobei wir den Sammelbegriff Schaf durch Mutterschaf näher bestimmen müssen, um diese besondere Spezies zu bezeichnen. Ähnlich wie bei jenen Nomaden im Hinblick auf die Züchtung von Schafen, für deren verschiedene Unterarten sie viele Bezeichnungen kennen, so gab es auch bei den Germanen für jede Art der Austragung eines bewaffneten Konflikts eine andere Bezeichnung. Einige davon haben sich bis in unsere Zeit erhalten, andere sind aus dem Sprachgebrauch verschwunden. Dies und ihre nähere Bedeutung, soweit sie sich noch erschließen läßt und dem Zweck dieses Buches dient, sollen hier dargestellt werden.

Vielleicht ist »Hader« das älteste Wort. Das Gemeingermanische kennt das Wort *hapu – es bedeutet »Kampf«. Im Westgermanischen ist es nur als erstes Glied in Namen wie Hadumar erhalten. Es verbirgt sich, fast zur Unkenntlichkeit verstümmelt, auch noch in unserem Wort »Hammer«, das ursprünglich die steinerne Kampfwaffe bezeichnete. Auch im Namen »Hedwig« ist es noch enthalten. Wahrscheinlich geht dieses Wort auf den Namen eines germanischen Kriegsgottes *Hapus zurück, dessen Stelle später der uralte Himmelsgott Ziu einnahm. Verglichen werden

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kann dieses Wort mit dem thrako-phrygischen Männernamen Kótys, der zugleich der Name einer Göttin ist. Urverwandt sind mit Sicherheit das griechische kotos – »Groll« und das altirische cath – »Kampf«, wozu der gallische Völkername Catoriges – »Kampfkönige« oder auch Catalauni (franz. Châlons) gehören. Diese enge Beziehung zwischen dem germanischen Wort für Kampf und der Bezeichnung des Kriegsgottes deutet auf die uralten engen Bindungen des kriegerischen Geschehens an die Götterwelt hin.

Ähnlich verhält es sich mit dem germanischen Wort *wig, das »kämpfen« bedeutet und heute nur noch in den Namen Wigand oder Weigand – »Kämpfer« enthalten ist. Die Verbalwurzel *wig ist bereits im Westgermanischen ausgestorben. Sie ist eng verwandt mit dem lateinischen vincere - »siegen«, dem altirischen fichim – »Kämpfe« und dem altslawischen vecü – »Kraft«. Im Gotischen lautet die Form weihan, mit der Bedeutung »kämpfen«. Doch damit hat es eine besondere Bewandtnis, da sie gleichlautet mit weihan - »weihen«, »heiligen«. Das mit *wig gemeinte Kämpfen ist also eine heilige Handlung, die als Gottesurteil zwischen zwei Parteien ausgetragen wird. Sehr oft weihte man dabei die Feinde vor dem Kampf dem Wotan, indem man z.B. den Speer über sie hinwegschleuderte. Noch heinrich I. verfuhr so gegen die Dänen, wobei es sich entweder um eine symbolische Handlung oder um eine Form der psychologischen Kriegführung handelte, denn die Dänen waren im i o. Jahrhundert zumeist noch Heiden. Vermutlich den die Entscheidung suchenden Zweikampf als Gottesurteil zwischen zwei Heeren bezeichnete das germanische Wort *hiltia, das wir nur noch in Namen wie Brünhilde, Kriemhild, Hildegard usw. kennen. Auf die Bedeutung dieses Wortes *hiltia in diesem Sinn weist vor allem das Hildebrandlied hin, in dem es am Anfang heißt:

Ik gihorta dat seggen,
dat sih urhettun aenon muotin,
Hiltibrant enti Hadubrant untar heriun tuem
sunufatarungo iro saro rihtun,
garutun se iro gudhamun gurtun sih iro suert ana
helidos, ubar hringa do sie to dero
hiltiu ritun.

»Ich hört das wahrlich sagen, daß sich Streiter allein begegnen wollten, Hildebrand und Hadubrand zwischen zwei Heeren von Vater und Sohn; sie bereiteten ihre Kampfhemden, sie gürteten sich ihre Schwerter an, die Helden über die Brünnenringe, als sie zum Kampf ritten.«

Ein weiteres wichtiges Wort in diesem Zusammenhang ist das Wort Fehde, das auf ein westgermanisches *faihipö – »Feindseligkeit« zurückgeht.

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Zu diesem Wort gehört das althochdeutsche fehan — »hassen« und das neuenglische foe — »Feind«. Es gehört zur indogermanischen Wurzel *peik –*poik – »feindselig«. Bei der Fehde handelt es sich bei den Germanen und im europäischen Mittelalter um den durch das allgemeine Recht anerkannten Privatkrieg zwischen Freien und ihren Sippen sowie später den Rittern. Aufgrund der von allen anerkannten Rechtsformen und Regeln, nach denen der Kampf von Sippen und später Rittern ausgetragen wurde, unterscheidet sich die Fehde von der Blutrache.

Um ein Wort ganz besonderer Art geht es bei der Bezeichnung, die unserer modernen Bedeutung »Krieg« am nächsten kommt, beim Wort orlog. Den Stamm dieses Wortes *leugh-: *lugh- — »Eid« haben die Germanen nur mit den Kelten gemeinsam, deren urkeltisches *lughiom »Schwur« bedeutet. Im Gotischen bezeichnet liuga einen beschworenen Vertrag oder die Ehe. Das neuenglische law — »Gesetz« ist daraus entstanden. Die Vorsilbe des Wortes orlog lautete im Althochdeutschen ur-, so daß das althochdeutsche urliugi »vertragloser Zustand«, »Krieg« bedeutete. Diese Kriegsform wurde vor allem gegen den außerhalb des Rechts und der Gesetze stehenden Rechtsbrecher angewandt, wie etwa gegen varus und seine Legionen, die sich gegen das göttliche germanische Recht versündigt und heilige germanische Stätten entweiht hatten. Gegen sie durfte daher auch Verrat geübt werden. 

Daneben mischt sich dieses Wort orlog schon in früher Zeit mit einer Bildung anderer Herkunft, die im Althochdeutschen orlag und im Mittelhochdeutschen urlage lautet, ihre ursprüngliche Bedeutung war »Schicksal«. Durch diese Mischung konnte der Krieg auch als Männerschicksal verstanden werden. Das Wort orlog verschwindet bezeichnenderweise im 16. Jahrhundert aus dem deutschen Wortschatz, da von nun an nicht mehr Kriege gegen Verbrecher wider das göttliche Recht geführt werden, zu denen in den Kreuzzügen auch die Heiden und Mohammedaner gehörten. Dafür tritt jetzt, in der Zeit, in der sich der Mensch von der göttlichen Ordnung des Mittelalters abwendet und sich dem profanen Recht und der weltlichen Ordnung zukehrt, das Wort Krieg ein, das noch im Mittelalter in seiner meist neutralen Form »Anstrengung«, »Streben nach etwas, gegen etwas oder jemand«, »Widerstand«, »Anfechtung«, »Wortstreit« und »Wettstreit« bedeutet. Im Althochdeutschen hatte das Wort chrec die Bedeutung von »Halsstarrigkeit«, ein Wort, das zunächst gar nichts mit Krieg zu tun hatte. Noch im Mittelalter nimmt es schließlich die Bedeutung »Rechtsstreit« und dann »Krieg als Rechtsstreit« an. Doch hatte es noch lange nicht die damals üblicheren Bezeichnungen strit, hochdeutsch »Streit«, mit der Grundbedeutung »Bewegung«, »Aufruhr«, struz — »Strauß«, mit der Grundbedeutung »Aufschwellung« (vgl. dazu das lateinische tumultus),

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und noch früher werra – »Streit«, »Wirren« ersetzt. Dieses letztere Wort wurde dann zum französischen guerre und zum italienischen, spanischen und portugiesischen guerra – »Krieg«, mit der Grundbedeutung »Gemengsel«, »Durcheinander«. Das damals auch auftauchende Wort Kampf braucht nicht in Betracht gezogen zu werden, weil es ein Lehnwort aus dem Lateinischen ist, vom lateinischen campus – »Feldkampf«. Wichtig für uns liier ist die Tatsache, daß das Wort Krieg in der Bedeutung »Krieg als Rechtsstreit«, das dann auch von den Skandinaviern übernommen wurde, erst im 16. Jahrhundert das alte orlog und die übrigen Bezeichnungen, soweit sie noch vorhanden waren, ablöste, zu einer Zeit also, in der sich der Mensch aus der mittelalterlichen Ordnung löste, die vornehmlich von der Kirche bestimmt war, und zum Ich-Bewußtsein erwachte.20

 

In diesem einleitenden Kapitel wurden die Probleme des heutigen Ost-West-Gegensatzes, des gerechten und ungerechten Krieges, des atomaren Krieges, die Geschichte der Auffassungen vom Krieg und die Möglichkeiten zur Überwindung des Krieges nur wie im Schlaglicht beleuchtet. Die Haltung des Einzelmenschen dem Krieg gegenüber fand kaum Erwähnung. Dazu kann zunächst lediglich gesagt werden, daß die Einstellung des Einzelnen durch den Glauben, die Bewußtseinsstufe und die Gemeinschaft, zu der er gehört, wesentlich beeinflußt wird.

Unbestritten ist, daß der Krieg die niedersten, aber auch die edelsten Triebe des Menschen zu entfachen vermag. Gewalttat und Mord, wie etwa in Konzentrationslagern, oder Plünderung, Rücksichtslosigkeit und Vergewaltigung stehen neben höchstem Opfermut, Mitleid gegenüber dem Nächsten und dem Feind sowie dem Einsatz für eine Sache, die als gerecht und wahr erkannt oder geglaubt wird, bis zum Tod. Sicher ist aber auch, daß das Leiden und Sterben des Einzelnen zu jeder Zeit gleich schwer war. Dabei ist es unwesentlich, ob er als Kämpfer oder Nichtkämpfer in die tragischen Geschehnisse seiner Zeit verwickelt war. Der germanische Krieger starb genauso schwer wie der Ritter, der Landsknecht, der Grenadier friedrichs des grossen oder etwa der Infanterist in um beiden Weltkriegen dieses Jahrhunderts; das gleiche trifft für das Leid der Mütter, Kinder und Alten zu. Im übrigen forderte auch die Kulturgeschichte ihre Blutopfer, wenn man z. B. an die Schicksale der Baumeister des Mittelalters denkt.

Die folgenden Kapitel wollen zu den Fragen, die durch das Phänomen Krieg für den Einzelnen und die Gesellschaft entstehen, Hinweise aus historischer und militärgeschichtlicher, aber auch aus geisteswissenschaftlicher Sicht geben und eine Hilfe auf der Suche nach Antworten sein.

 

 

 

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