home | Über Zeit-Fragen | Leserdienst | Links | Archiv | Themen | Editorial | Artikel 1 | 2 | 3 | 4 | 5 | 6 | 7

Zeit-Fragen Banner (2 K)

aktuell (0,257 K)Artikel 6: Zeit-Fragen Nr. 68 vom 13.06.2000, Seite 7

«Das Recht, ein Mensch zu sein»

Zum Tode von Jeanne Hersch

In der Nacht von Sonntag auf Montag letzter Woche starb in Genf Jeanne Hersch, die grosse Schweizer Philosophin, kurz vor der Vollendung ihres 90. Lebensjahres. Sie war nicht nur eine unbestechliche Denkerin, sie war auch eine beherzte und kompromisslose Kämpferin für die Freiheit und Würde des Menschen. Ihr Tod hinterlässt eine schmerzliche Lücke in der geistigen Welt, aber auch bei all denen, die sie durch ihre pointierten Stellungnahmen zu Fragen des gesellschaftlichen und politischen Lebens ermutigte, ihre Meinung frei zu äussern und so vom «Recht, ein Mensch zu sein» Gebrauch zu machen.

Jeanne Hersch wurde am 13. Juni 1910 in Genf als Tochter jüdischer russisch-polnischer Immigranten geboren. Schon als Kind hat sie ihren Vater mit Fragen bedrängt und das «philosophische Staunen» gelernt. Die Russlanderfahrungen ihres Vaters impften sie «ein für allemal gegen die Versuchungen des Bolschewismus».

Das für ihren Werdegang «entscheidende Ereignis» sollte die erste Vorlesung bei Karl Jaspers werden. Ganz zufällig war sie damals als 18-jährige Literaturstudentin in die alte Aula der Universität Heidelberg geraten.

Neben Hannah Arendt wurde Jeanne Hersch zur profiliertesten Jaspers-Schülerin; es war die existentialistische «antitotalitäre Philosophie» des deutschen Philosophen, die sie zutiefst beeindruckte. In Freiburg i. Br., wo sie Vorlesungen Martin Heideggers besuchte, erlebte sie die Machtübernahme Hitlers. «Da verstand ich, wie ein totalitäres Regime sich durchsetzt. Seine Ideologien werden zerstäubt in einer Art Atmosphäre, die man von morgens bis abends einatmet und die einen buchstäblich vergiftet.» Deshalb hat sie sich zeitlebens gegen Medienpropaganda und politische Lüge engagiert, weil diese das öffentliche Leben vergiften und die Freiheit untergraben.

Damals schon habe sie begriffen: «Wer seinen Kampfort nicht wählt, solange er die demokratische Möglichkeit dazu hat, wird von der Politik wie ein Kiesel gerollt.»

So wurde sie zu einer «engagierten Intellektuellen» im besten Sinne. Ihr fundamentales Thema war die Freiheit. Unermüdlich betonte sie, dass die geistige, existentielle, wahrhaft menschliche Freiheit nur zu entfalten ist, wo Menschenrechte respektiert und geschützt werden: im freiheitlich-demokratischen Rechtsstaat, für dessen Erhalt sie immer mit Entschiedenheit eintrat.

Ab 1956 lehrte Jeanne Hersch zwanzig Jahre als Professorin für systematische Philosophie an der Universität Genf. Daneben leitete sie von 1966 bis 1968 die Abteilung für Philosophie bei der Unesco in Paris. Als 1968 die Studenten im Quartier Latin auf die Barrikaden gingen, blieb sie - im Gegensatz zu Sartre und vielen Intellektuellen ihrer Zeit - kritisch. Sie konnte und wollte die «mächtige Sympathiewelle», «besonders in Frankreich», die «für den Kommunismus» ausgelöst wurde, «wie stalinistisch er auch war», nicht verstehen. Antidemokratischer Geist, Gewalt und Terror waren ihr zutiefst zuwider.

Zum 20. Jahrestag der «Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte», noch während ihrer Tätigkeit für die Unesco, sammelte sie Dokumente aus den verschiedensten Ländern und Kulturen - Rechtstexte, Philosophie und Dichtung. Sie zeigte damit, dass Menschenrechte in allen Kulturen zu finden sind; dass deshalb die Menschenrechte universell sind und dass existentielle Freiheit dem Menschen zusteht, weil er Mensch ist! - Für ihre Arbeit erhielt sie unter vielen anderen Auszeichnungen den Menschenrechtspreis 1973 und den Karl-Jaspers-Preis 1997.

Unvergesslich bleiben ihre Vorträge. - «Ich werde Sie vielleicht enttäuschen», so setzte sie oft an, «denn ich werde Ihnen nicht sagen können, was man genau tun soll und was nicht.» Und dann zog sie die Zuhörer mit ihrer klaren, undogmatischen Sprache Frage für Frage, Gedanke um Gedanke in ihren Bann und machte dabei erlebbar, dass wir Menschen es sind, die sich fragen und entscheiden können - ja müssen! -, was gut und was richtig ist. Eine Kuh glotzt, sagte sie einmal, aber der Mensch kann der Welt staunend und fragend begegnen, weil er eine Vernunft hat und weil er die Freiheit hat, sich zu entscheiden. «Vielleicht entscheidet er nicht, aber er könnte entscheiden. In der Folge ist er auch dafür verantwortlich, wie er entscheidet.»

Sie selbst hat es sich nie nehmen lassen, frei und unabhängig ihre Meinung zu sagen. Auch nicht zu tagespolitischen Geschehnissen, wie etwa zur Drogenpolitik, über die sie sich 1992 mit ihrer Partei entzweite, der SP, der sie mehr als fünfzig Jahre angehört hatte. Es sei «eine Perversion des Denkens» zu behaupten, es «gehöre zu den Menschenrechten, Drogen konsumieren zu dürfen», sagte sie 1997 in Zofingen am II. Internationalen Symposium gegen Drogen in der Schweiz. «Drogen negieren die Menschenrechte», sie «negieren wesentliches Menschsein», da sie den Menschen abhängig und unfrei machten.

Ihre Stellungnahme zur staatlich kontrollierten Heroinabgabe und zur Jugendfrage, ihr Eintreten für die bewaffnete Neutralität der Schweiz und für die Kernenergie wurden ihr mit «Rechtslastigkeit», «Härte» oder «Starrsinn» vergolten. Sie liess sich dadurch weder einschüchtern noch beirren. Um so mehr und um so entschiedener trat sie für die ein, die Opfer öffentlicher Kampagnen werden sollten, so für die erste Bundesrätin der Schweiz, Elisabeth Kopp, oder wie noch im vergangenen Herbst für den Chef des Nachrichtendienstes, Peter Regli, der im Zusammenhang mit dem Fall Bellasi zurücktreten musste.

Jeanne Hersch war eine eigenwillige, unabhängige und für viele deshalb unbequeme Denkerin. Sie liess sich nie durch eine Ideologie binden. Und sie liess sich nur schwer einordnen. «Ich sage, was ich für richtig halte.» Nichts sei gefährlicher für eine Demokratie, als wenn man das, was ein Mensch sagt, nicht nach dem Inhalt beurteilt, sondern danach, wer es sagt.

Philosophie war für sie Verpflichtung zur Wahrheit und Verantwortung den Menschen gegenüber. Ihr Leben lang versuchte sie, die Menschen mit der «schwierigen Freiheit» anzufreunden, sie mit dem «Menschsein» zu versöhnen und es «zum Gegenstand ihrer Liebe zu machen».

Joachim Hoefele

  Artikel 6: Zeit-Fragen Nr. 68 vom 13.06.2000, Seite 7, letzte Änderung am 15.06.2000

Zum Artikel-Anfang: auf den roten Balken klicken!
© Zeit-Fragen 2001, Redaktion und Verlag, Postfach, CH-8044 Zürich, Tel. +41-1-350 65 50, Fax +41-1-350 65 51 http://www.zeit-fragen.ch

home | Über Zeit-Fragen | Leserdienst | Links | Archiv | Thmen | Editorial | Artikel 1 | 2 | 3 | 4 | 5 | 6 | 7