Urs Lüthi, 1947 in Kriens im Kanton Luzern (Schweiz) geboren, besucht 1963 und 1964 die Kunstgewerbeschule in Zürich (Schweiz). Nach seinem Studium arbeitet er zunächst als Grafiker in Zürich. Anlässlich einer Ausstellung in der Galerie Beat Mäder in Bern (Schweiz), stellt er 1966 zum ersten Mal seine persönlichen Arbeiten aus. Zu dieser Zeit beschäftigt er sich mit Malerei und Siebdruck, in denen Farbfelder vorherrschen, und sich die Verweise auf Pop-art, Op-art und konkrete Zürcher Malerei vermengen.
Ab 1969 wendet er sich der Fotografie zu, und beschliesst von Anfang an, sich selbst in Szene zu setzten. In einer seiner ersten Fotoserien, die er 1970 geschaffen und Sketches genannt hat, sieht man ihn mit seinem Freund David Weiss, sowie mit dem Fotografen Willy Spiller posieren.
Man hat bereits den Eindruck, dass er sich im Spiel mit dem anderen, seinem falschen Zwillingsbruder, auf die Suche nach seiner Identität begibt. Diese Suche wird eines der Hauptanliegen der Arbeit von Urs Lüthi sein, und er wird unaufhörlich alle möglichen Medien einsetzen, um seinem „Ich“ näher kommen zu können. In der Tat besteht eine der Besonderheiten seines Werkes in der Vielfältigkeit der Mittel, die er im Laufe seiner Karriere benutzt: Malerei, Siebdruck, Fotografie, Video, Bildhauerei und Installation.
Mit der Ausstellung Visualisierte Denkprozesse, die Jean-Christophe Ammann 1970 im Kunstmuseum von Luzern organisierte, bestätigt er diesen Übergang zur Selbstdarstellung: an den Wänden hängen Kleidungsstücke aus seinem eigenen Schrank, und sein Schmuck, sein Personalausweis sowie seine Schlüssel liegen in einer Vitrine. Ein Postkartenständer bietet Fotos aus den Serien Sketches und Autoportraits (1970) an, wie etwa Lüthi weint auch für Sie.

Anhand des Selbstportraits versucht Urs Lüthi seine eigene Ambivalenz wie ein Bild im Bild aufzudecken, und den Zuschauer nach der Wirklichkeit dessen, was er sieht, zu befragen. Die Fotografie hat gegenüber der Malerei den Vorteil, dass sie von einem Augenblick der Vergangenheit einen genauen Abdruck bietet. Mit Lüthi wird alles inszeniert, und folglich wird der Verweis auf den realen Augenblick mit seinem Wirklichkeitsgehalt in Frage gestellt. Die Verkleidungen und die Mimiken nehmen zu, und er verkörpert nach Belieben verschiedene Figuren, somit bleibt der wahre Urs Lüthi immer ungreifbar.
In diesem Punkt unterscheidet er sich von den englischen Künstlern Gilbert & George, die sich zur gleichen Zeit zum Kunstwerk erklärten. Bei ihnen bildete die Einheit von Autoren und Motiv das Basiskonzept ihres künstlerischen Ansatzes.
Urs Lüthi bezieht sich persönlich mit in seine Kunstproduktion ein, zieht aber eine klare Grenze zwischen dem Dargestellten und dem Erlebten, denn nicht der Anschein seiner Person ist für ihn interessant, sondern die täuschenden Wirkungen des Bildes.
Er benutzt seinen eigenen Körper, seine Gesichtszüge und seine Mittel als Darsteller, um die Welt zu erkunden, und uns seine Fragestellungen mitzuteilen. Er hinterfragt z.B. die prägenden Kunstrichtungen seiner Zeit (Lüthi mit Land Art, Lüthi als arte povera, Lüthi’s concept, Triptychon der 70er Jahre), seine Beziehungen zu den Frauen und seit neuster Zeit, die Macht der Markenprodukte und der Werbung.
Im Laufe seiner Karriere hat Urs Lüthi versucht, den Zuschauer irre zu führen, indem er die Medien und die Ausdrucksweisen verändert und seine Person hinter einem Kunst-Double, dem Gegenstand seiner Arbeiten, versteckt hat. Die Wahl des fotografischen Mediums zeigt auch den Willen, die Handarbeit des Künstlers auszulöschen, aber als Lüthi seine Fotografien auf Leinwand überträgt, tut sich ein neuer Widerspruch auf.

In den Jahren 1972, 1973 und 1974 erhält er das Eidgenössische Kunststipendium und 1974 den ersten Preis der Stadt Genf bei der „Biennale suisse de l’image multipliée“ in Genf.
Die Ausstellung im Kunstmuseum von Luzern im Jahr 1974 Transformer – Aspekte der Travestie, die 1975 ebenfalls im Kunstmuseum von Bochum (Deutschland) zu sehen war, verleiht ihm internationales Ansehen.
Bei dieser Gelegenheit stellt er die Serie The Numbergirl aus dem Jahre 1973 vor: 20 Fotografien in lebensgrossem Format, auf Leinwand aufgezogen, zeigen jeweils den Oberkörper des Künstlers in verschiedenen Posen, wobei er ein Foto in der Hand hält. Das Thema dieser „Bilder im Bild“ variiert von Foto zu Foto: Ecki, seine damalige Frau, ein Interieur, ein umgestossenes Glas Milch, der Ausschnitt einer Landschaft und sogar ein Selbstportrait.
Lüthi hat sich damals oft dieser Verschachtelungen bedient. Rainer Michael Mason spricht von „Indizien-Fotografie“1, ein Bild, das „ feststellt, banalisiert, kommentiert, bestimmt, verstärkt und sich auf das Selbstportrait bezieht“. Diese eingefügten Fotografien stellen eine neue Verschiebung von Zeit und Raum dar, ein weiteres Hinterfragen der Bedeutung des Bildes.

Die beiden Videos, die das Centre pour l’image contemporaine in seiner Sammlung besitzt, sind die einzigen Videoarbeiten überhaupt, die in der damaligen Zeit von Urs Lüthi gemacht wurden. Ihre Thematik ist jener der Serie The Numbergirl sehr ähnlich. Orgasm und Morir d’amor stammen aus dem Jahr 1974 und zeigen mittels der vertikalen Zweiteilung des Bildschirmes auch ein doppeltes Bild. In Orgasm befindet sich der Künstler einem Glas Milch, und in Morir d’amor Elke Kilga gegenüber, der Frau, die er 1974 in zweiter Ehe geheiratet hat. Sie wird in Lüthis Werk bis 1988, mit einer zuweilen unmittelbaren sexuellen Konnotation, immer wieder gegenwärtig sein. Sie lassen sich 1986 scheiden und im gleichen Jahr heiratet er Ulrike Willenbacher; mit ihr hat er eine Tochter, die 1989 geboren wird.
Diese Videos wurden während eines Aufenthaltes in Florenz bei Art/Tapes/22 produziert, einer der erster Institutionen in Italien, die Videos produzierte und verlieh. Sie wurde von Maria Gloria Bicocchi geleitet und existierte in den Jahren von 1973 bis 1976. Künstler wie Bill Viola, Joseph Beuys, Giulio Paolini oder Sandro Chia hielten sich dort auf.

1980 wendet sich Urs Lüthi von seiner fotografischen Arbeit ab, um zur grossformatigen Acrylmalerei überzugehen und verschiedene Bildsprachen auszuloten: die Figuration (Happy Couple II, 1980), die abstrakte Malerei oder die geometrische Abstraktion (Serie der vertauschten Träume, 1985).
Die Bildhauerei tritt ab 1989 mit der Serie Universelle Ordnung in Erscheinung. In Installationen, die auf das Selbstportrait ausgerichteten sind, geht sie einen Dialog mit Fotografien zerbrochenen Glases oder Münzen ein. Von nun an ersetzt der Künstler die alten „Ich“- Fotografien mit Abgüssen seines Kopfes. Wieder ist es die imaginäre Gegenwart Lüthis, die das Werk prägt, und nicht seine eigenhändige Umsetzung. Während der letzten Jahre wird er diesen Begriff bis auf die Spitze treiben, indem er das Profil seines Kopfes als Markenzeichen verwendet. In der Serie Trademarks (2001) z. B., verwendet er neun Selbstportraits aus den 70er Jahren, rahmt sie in Profilholz, schreibt den Titel Trademarks auf die Seite und zeichnet sein Profil, um diese neue Unterschrift einzuführen.

1994 erhält er eine Professur für bildende Kunst an der Kunsthochschule der Universität Kassel und bringt Mitte der 90er Jahre die Serie der Placebos & Surrogates heraus. Diese Arbeiten hinterfragen die Darstellungsart und die psychologische Auswirkung von Markenartikeln und von Werbung. Es sind industriell hergestellte, digitalisierte Fotografien mit einem Hochglanzüberzug, sie veranschaulichen besonders die Welten, die uns von der Werbung versprochen werden (Feriendörfer, Skisport...usw.) und verwenden Werbeslogans, die für jede Gelegenheit passen und die man uns tagein, tagaus ständig wiederholt.
Das digitalen Farbvideo mit dem Titel Run for your Life (2000) läutet die Rückkehr des Mediums ein, und ist als Fortsetzung dieser Serie zu verstehen. Darin sieht man den Künstler in seinen neuen Umrissen, mit kahlem Schädel und dickbäuchig, auf einem Laufband rennen. Nach dem Lenbachhaus in München zeigte das Swiss Institute in New York im Herbst 2000 diese Arbeit anlässlich der ersten Einzelausstellung des Künstlers in den USA. 2001 setzt er diese Suche mit neun Videos fort, darunter Books, Big Puzzle oder Armoire, in denen er mit verschiedenen häuslichen Tätigkeiten konfrontiert wird: Bücher tragen, Schriftstücke aussortieren, einen Schrank aufräumen...usw.
Die Verwendung des eigenen Körpers als Instrument, und nicht als Thema des Werkes, scheint in den letzten Arbeiten mit diesem alternden Körper, der den verwirrenden und androgynen Aspekt der 70er Jahre verloren hat, noch viel offensichtlicher zu sein.

Ebenfalls 2001 vertritt Urs Lüthi die Schweiz bei der Biennale in Venedig, und nimmt mit mehreren Stücken (Trademarks, Low action, Game II, Run for your life...) den gesamten Pavillon in der Art und Weise einer Installation ein.
2002 zeigt er im Musée Rath in Genf eine wichtige Ausstellung, die er „Art is the better life – Tableaux 1970-2002“ nennt, denn Kunst ist für ihn die einzig erträgliche Lebensform, die einzige Möglichkeit, seine Ideen und Vorstellungen von Qualität und Schönheit radikal und ohne Kompromisse zu verwirklichen.

Alexandra Theiler









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1 Rainer Michael Mason, Urs Lüthi, l’oeuvre multipliée 1970-1991, Musée d’Art et d’Histoire, Genf, 1991
2 Die Aussage stammt aus einem Gespräch mit Rainer Michael Mason, aufgezeichnet in Urs Lüthi, Art is the better life – Tableaux 1970-2002, Musée Rath, Genf, 2002, S. 94