Die Waage – das mysteriöse (?) Bindeglied
zwischen Drachen und Piloten
(von Paul May)


Die Drachenwaage, häufig auch von erfahrenen Piloten nicht verstanden oder unbeachtet, hat maßgeblichen Einfluss auf die Flugeigenschaften des Drachens. So kann man einen noch so attraktiven Kite mit den hochwertigsten Materialien bauen – wenn die Waage nicht zum Drachen passt, wenn sie nicht perfekt auf ihn abgestimmt ist, werden die Flugeigenschaften immer unbefriedigend, bestenfalls durchschnittlich bleiben. Umgekehrt kann man gelegentlich aus einem durchschnittlichen Drachendesign durch eine optimal ausgewählte und angepasste Waage, noch jede Menge Leistung herauskitzeln. Dies ist für uns Grund genug, einmal tiefer in die Geheimnisse um die Waage einzutauchen und ihre grundlegenden Funktionsweisen klarzustellen. Es soll hierbei weniger auf die Eigenarten der einzelnen Waagetypen (Dreipunktwaage, Turbo- oder Dynamische-Waage, Cross-Over-Waage, Active Bridle etc.) sondern vielmehr auf die allgemein gültigen, prinzipiellen Wirkungsweisen und Gesetzmäßigkeiten rund um die Waage eingegangen werden.

Zunächst einmal stellen wir uns die Frage, was die Waage denn bewirkt. Die Antwort darauf ist, auch wenn ihr Hintergrund äußerst komplex ist, recht banal: Sie verhilft dem Drachen, indem sie ihn in einem gewissen Winkel zum Wind anstellt, dazu, dass er überhaupt Auftrieb erhält und vom Boden abheben kann. Zudem bestimmt sie den Winkel, in dem Lenkimpulse des Piloten auf den Drachen treffen und wirken.

Prinzipiell kann die Waage in jede Richtung verstellt werden. Wir wollen hier auf vier Trimmrichtungen eingehen. Die verbreitetste Art einen Drachen einzustellen, ist, seinen Waagepunkt näher zur Drachennase hin (flacher) oder von der Nase weg (steiler) zu stellen. Weiterhin kann man die Waagepunkte näher Richtung Kielstab (enger) oder Richtung Leitkante (weiter) verschieben. Welche Trimmung welche Auswirkungen, welche Vor- und welche Nachteile hat, soll im Folgenden näher erörtert werden.

Im Zusammenhang mit dem Anstellwinkel des Drachens sprechen wir von „steil" eingestelltem oder „flach" getrimmtem Drachen. Flach wird ein Drachen dadurch gestellt, dass man seinen Waagepunkt zur Drachennase hin verschiebt. Einen steil getrimmten Drachen erhält man, indem man den Waagepunkt des Drachens von der Nase weg Richtung Schleppkante verschiebt. Diese Begriffe – „steil" und „flach" – sollten Sie sich merken.
Deshalb nochmal:

steiler Drachen : Waagepunkt weiter von der Nase weg,

flacher Drachen: Waagepunkt näher zur Nase hin.

Was bewirkt nun das Steiler- bzw. Flacherstellen des Drachens? Bei welchen Windverhältnissen sollte man den Drachen wie trimmen? Zunächst einmal, liebe Leser, sind wir heute in der glücklichen Lage, dass nahezu jeder Drachen, der die Manufakturen verlässt, so ausgereift ist und so gründlich und gewissenhaft gefertigt wurde, dass die Waage im Normalfall bereits sehr gut voreingestellt ist. Wenn Sie also beginnen Ihr individuelles Feintuning vorzunehmen, um den Drachen perfekt auf Ihre eigenen Bedürfnisse anzupassen, sollten Sie drei Grundregeln kennen und beherzigen:

Einstellungen immer auf beiden Segelseiten symmetrisch vornehmen.

Nie mehr als eine Verstellung auf einmal vornehmen (da man sonst nicht beurteilen kann, welche Trimmkorrektur welchen Effekt hatte).

Nur in kleinen Schritten verstellen.

Stellt man einen Drachen steiler, so hat das mehrere, gleichzeitig auftretende Auswirkungen. Zunächst einmal wird der Drachen mehr Druck aufbauen, was vor allem bei Powerdrachen ein sehr erwünschter Effekt ist. Aber auch viele normale Zweileinerpiloten haben gerne „etwas mehr in der Hand", so dass sie diese Auswirkung begrüßen. Neben seinen stärkeren Zugkräften wird der Drachen mit einer verlangsamten Fluggeschwindigkeit auf das Steilerstellen reagieren. Diese Verlangsamung hat auch zur Folge, dass sich der Drachen leichter stallen (ein Stall ist ein kontrolliert herbeigeführter Strömungsabriß, durch den der Drachen zum Stillstand kommt und scheinbar schwerelos in der Luft schwebt) lässt. Die Lenkbewegungen, die zum Steuern des Drachens nötig sind, werden durch eine steile Einstellung der Waage kleiner, so dass sich Tricks leichter und schneller auslösen lassen. Die Drehradien des Drachens werden kleiner, der Kite wird allgemein mit erhöhter Wendigkeit, aber auch mit größerer Sensibilität auf die steilere Waageeinstellung reagieren. Wann stellt man also einen Drachen steiler? Immer dann, wenn man einen der oben genannten Effekte erzielen will, aber auch wenn der Wind etwas stärker wird. Vor allem im mittleren Windbereich des jeweiligen Drachens wird man mit dieser Waageeinstellung gute Ergebnisse erzielen und viel Spaß haben. Nachteil dieser Trimmung ist neben der erhöhten Zugkraft, die nicht jedermanns Sache ist, vor allem die erhöhte Tendenz des Drachens nach engen Loopings nachzudrehen oder leicht verwackelt aus scharf und knackig geflogenen Ecken heraus zu kommen.

Verschiebt man den Waagepunkt zur Drachennase hin, stellt man den Drachen flacher, wird der Kite mit geringerem Zug aber besserem Auftrieb auf diese Maßnahme reagieren. Die Fluggeschwindigkeit des Drachens wird zunehmen, so dass sich Stalls und Sideslides schwerer ausführen lassen, da der Drachen nun die Tendenz besitzt, nach einem Strömungsabriss wieder sofort in den dynamischen Vorwärtsflug überzugehen.. Der Drachen wird größere Lenkbewegungen für die einzelnen Moves benötigen, was ihn einerseits präziser macht, was aber andererseits die Ausführung mancher Tricks erschwert. Auf der Geraden wird der Drachen spurtreuer, in Loopings und engen Spins kontrollierbarer - die Nachdrehneigung oder die Tendenz zu Verwackeln wird geringer. Besonders Ecken werden, auch wenn man sie energischer fliegen muss, sauberer und präziser geflogen. Diese verbesserte Präzision erkauft man jedoch durch weitere Drehradien und ein insgesamt etwas behäbigeres Manövrierverhalten des Drachens. Man stellt den Drachen folglich flacher, wenn man die Leichtwindeigenschaften verbessern, Druck aus dem Segel nehmen oder ein insgesamt etwas präziseres Flugverhalten erhalten möchte.

Notiz am Rande: Eine häufig diskutierte Frage ist die Waageeinstellung bei extremem Starkwind. Hier gehen die Meinungen ebenso weit auseinander wie die Vorlieben. Am Besten lässt sich dies an den beiden ehemaligen Weltmeister-Teams „Airkraft" und „Skydance" verdeutlichen. „Skydance" flogen ihre Drachen wenn es richtig kachelte, extrem flach eingestellt, um Druck aus dem Segel zu nehmen. Damit die Drachen nicht zu schnell wurden, bremste man sie mit Gazebremsen, die man zwischen die Stand-Offs oder die Waagepunkte hängte. „Airkraft" hingegen trimmten ihre Drachen so steil, dass sie kurz vor dem Stallpunkt waren. Dies machte die Drachen zwar extrem reaktionsfreudig, ermöglichte aber auch bei starkem Wind sichere Stalls und Landungen sowie eine mäßige Fluggeschwindigkeit. Welche Lösung die bessere ist? Das muss jeder für sich selbst herausfinden. Ausprobieren!!!

So wie man den Waagepunkt näher zur Nase oder näher zur Schleppkante verschieben kann, ist es auch möglich, ihn näher zum Kielstab oder näher zur Leitkante hin zu verstellen. Bringt man die beiden Waagepunkte näher zusammen, verschiebt man sie zum Kiel hin, wird der Drachen mit knackigeren Ecken, besserer Spurtreue im Geradeausflug, engere Loopings aber auch erschwertem Auslösen mancher Tricks darauf reagieren. Wählt man die Position des Waagepunktes so, dass dieser zur Leitkante hin verstellt wird, erhält man einen Drachen, der sich kontrollierter loopen lässt, der viele Tricks leichter ausführt, der aber auch etwas unruhiger geradeaus fliegt oder der geringfügig wackliger aus Ecken kommt.

Man kann also die Positionen des Waagepunktes und die damit verbundenen Auswirkungen auf das Flugverhalten des Drachens folgendermaßen in einer Tabelle zusammenfassen:

Drachen steiler

(Waagepunkt weiter von der Drachennase weg)

1. mehr Druck, stärkere Zugkräfte

2. verlangsamte Fluggeschwindigkeit

- leichteres Stallen und Sliden

3. Lenkbewegungen werden kleiner

- Tricks lassen sich leichter und schneller auslösen

- die Drehradien des Drachens werden kleiner

- erhöhte Wendigkeit

- größere Sensibilität

4. bessere Starkwindeigenschaften

Nachteil:

- erhöhte Zugkraft

- Tendenz des Drachens nach engen Loopings nachzudrehen oder leicht verwackelt aus scharf und knackig geflogenen Ecken heraus zu kommen.

Drachen flacher

(Waagepunkt näher zur Drachennase hin)

1. weniger Druck

2. erhöhte Fluggeschwindigkeit

- erschwertes Stallen und Sliden

3. größere Lenkbewegungen

- kontrolliertere Loops

- geringere Nachdrehneigung

- stabilerer Geradeausflug

4. verbesserte Leichtwindeigenschaften, gleichmäßigere Fluggeschwindigkeit bei böigem Wind

 

Nachteil:

- manche Tricks schwieriger

- behäbigeres Flugverhalten

Waagepunkte näher zum Kielstab hin (enger zusammen)

1. knackigeren Ecken

2. besserer Spurtreue im Geradeausflug

3. engere Loopings

Nachteil

- erschwertes Auslösen mancher Tricks

Waagepunkte weiter vom Kielstab weg (weiter auseinander)

1. kontrolliertere Loopings

2. viele Tricks leichter ausführbar

Nachteil

- unruhigerer Geradeausflug

- kommt etwas wackliger aus Ecken

Sie sehen also: mit der Waage kann man die Flugeigenschaften seines Drachens in nahezu jeder Hinsicht beeinflussen. Seien Sie also mutig und experimentieren Sie getrost mit der Waage Ihrer Drachen. Damit Sie alles, was Sie verstellt haben, wieder rückgängig machen können, achten Sie bitte darauf, dass die ursprüngliche Waageeinstellung markiert ist. Sollte dies nicht der Fall sein, können Sie die Markierungen mit wasserfestem Stift problemlos selbst anbringen. Also nur Mut! Es kann sich lohnen, und da Sie alles rückgängig machen können, kann nichts schief gehen.

Text mit freundlicher Genehmigung von Paul May,
wofür ich mich an dieser Stelle ganz herzlich bedanke.


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