Naturrecht, Gesetz und Gewaltenteilung.

Aus Charles-Louis de Secondat, Baron de la Brède et de Montesquieu, Vom Geist der Gesetze (1748, Auszüge aus Buch 1 und Buch 2).

Text entnommen aus: Montesquieu, Charles-Louis de Secondat, Baron de la Brède et de, Vom Geist der Gesetze, Auswahl, Übersetzung und Einleitung von Kurt Weigand, Stuttgart 1993, S. 100 - 105 und 216 - 230.


  

1. Buch, 1. 2. und 3. Kapitel: Menschennatur, Naturrecht und Gesetz.

(Aus dem 1. Kapitel)

... Als physisches Wesen wird der Mensch genauso wie die anderen Körper von unwandelbaren Gesetzen regiert Als vernünftiges Wesen tut er unaufhörlich den von Gott gegebenen Gesetzen Gewalt an und ändert die von ihm selbst aufgestellten Gesetze. Er muß sich selbst lenken und ist doch nur ein beschränktes Wesen. Wie alle beschränkten Geister ist er der Unwissenheit und dem Irrtum ausgesetzt. Die geringen Kenntnisse, die er hat, büßt er noch ein: als Sinnenwesen wird er die Beute von tausenderlei Leidenschaften.

Ein solches Wesen konnte jederzeit seinen Schöpfer vergessen; durch die Gebote der Religion hat Gott es an sich gemahnt. Ein solches Wesen konnte jederzeit sich selbst vergessen; durch die Gesetze der Moral haben es die Philosophen davor bewahrt. Zwar ist es zum Leben in der Gesellschaft geschaffen, aber es konnte dabei die anderen vergessen; durch die Staats- und Zivil-Gesetze haben die Gesetzgeber es zu seinen Pfliebten zurückgebracht.

2. Kapitel: Über die Gesetze der Natur.

Vor all diesen Gesetzen kommen die Naturgesetze. So werden sie genannt, weil sie ausschließlich aus unserer Wesensbeschaffenheit hervorgehen. Zu ihrer rechten Erkenntnis ist ein Mensch vor Einführung des Gesellschaftszustands in Betracht zu ziehen. Naturgesetze sind dann Gesetze, die er in einem derartigen Zustand erhalten würde.

Ein Gesetz prägt uns selbst die Idee von einem Schöpfer ein und wendet uns ihm zu. Dies ist seiner Wichtigkeit nach, nicht der Reihenfolge nach, das erste natürliche Gesetz. Der Mensch im Naturzustand verfügte wohl eher über Erkenntnisfähigkeit als über Erkenntnisse. Seine ersten Vorstellungen wären offensichtlich keinerlei spekulative Ideen: er würde nach der Erhaltung seines Seins trachten, ehe er nach dem Ursprung seines Seins forschte Ein derartiger Mensch würde anfänglich nur seine Schwäche spüren und wäre von äußerster Furchtsamkeit Wenn das noch durch Erfahrungen erhartet werden müßte: die wilden Menschen, die man in den Wäldern aufgefunden hat, haben sie geliefert: sie zittern vor allem, sie fliehen vor allem

In diesem Zustand kommt jeder sich unterlegen und allenfalls ebenbürtig vor. Mithin würde man nicht versuchen, einander anzugreifen. Friede wäre das erste natürliche Gesetz.

Es ist nicht vernünftig, wenn Hobbes den Menschen von Anfang an die Begierde nach gegenseitiger Unterjochung beilegt. Die Begriffe Herrschaft und Unterjochung sind so vielschichtig und von so vielen anderen Begriffen abhängig, daß sie sich nicht als erste geltend machen würden.

Hobbes fragt, warum die Menschen, wenn sie sich nicht von Natur aus im Kriegszustand befänden, stets bewaffnet gehen und warum sie Schlüssel zum Verschließen ihrer Häuser haben? Merkt man denn nicht, daß hier den Mensehen vor Einrichtung der Gesellschaften etwas zugeschrieben wird, was ihnen erst nach dieser Einrichtung begegnen kann? Erst durch sie findet er Gründe zu gegenseitigem Angreifen und Verteidigen

Mit dem Gefühl seiner Schwache würde sich in dem Menschen das Gefühl für seine Bedürfnisse vereinigen. Somit würde ihm ein weiteres naturliches Gesetz eingeben, auf Nahrungssuche zu gehen

Die Furcht, so behauptete ich, würde die Menschen zur Flucht voreinander veranlassen Sie würden aber bald zur Annäherung aneinander bewogen, wenn sie aus den Gebärden errieten, daß die Furcht gegenseitig ist. Übrigens würde sie dazu auch die Freude treiben, die jedes Lehewesen beim Nahen eines Wesens seiner Gattung empfindet. Diese Freude würde überdies noch durch die Anziehung erhöht, der beide Geschlechter infolge ihrer Andersartigkeit unterliegen. Die natürliche Bitte, die sie stets aneinander richten, wäre ein drittes Gesetz.

Anfänglich eignet den Menschen nur das Fühlen. Darüber hinaus erringen sie Erkenntnisse. Somit umschließt sie ein zweites Band, das die anderen Lebewesen nicht haben. Ein neues Motiv zur Vereinigung ist also da. Der Wunsch nach Zusammenleben in Gesellschaftsform ist ein viertes natürliches Gesetz.

3. Kapitel: Uber die positiven Gesetze.

Sobald die Menschen vergesellschaftet sind, verlieren sie das Gefühl ihrer Schwäche. Die Gleichheit zwischen ihnen hört auf, und der Kriegszustand hebt an.

Jede Einzelgesellschaft fühlt bald ihre Stärke. Das erzeugt zwischen Nation und Nation einen Kriegszustand. Innerhalb jeder Gesellschaft fangen die einzelnen an, ihre Stärke zu fühlen. Sie versuchen, die Hauptvorteile dieser Vergesellschaftung zu ihren Gunsten auszunutzen. Das schafft zwischen den einzelnen einen Kriegszustand.

Diese beiden Arten des Kriegszustands veranlassen die Einführung von Gesetzen unter den Menschen. In Anbetracht dessen, daß sie Bewohner eines Planeten sind, der so groß ist, daß notwendigerweise verschiedenartige Völker existieren, besitzen sie Gesetze innerhalb des Bezuges zwischen Volk und Volk: das Völkerrecht. In Anbetracht dessen, daß sie Mitglieder einer Gesellschaft sind, die zusammengehalten werden muß, besitzen sie Gesetze innerhalb des Bezuges zwischen Regierenden und Regierten: das Staatsrecht. Sie besitzen auch Gesetze innerhalb des Bezuges zwischen Bürger und Bürger: das bürgerliche Recht.

Das Völkerrecht beruht von Natur aus auf folgendem Prinzip: die verschiedenen Völker müssen sich im Frieden so viel Gutes wie möglich tun und im Krieg so wenig Übel wie möglich zufügen, ohne ihren echten Interessen zu schaden.

Der Sieg ist Zweck des Krieges. Die Eroberung ist Zweck des Sieges. Die Erhaltung ist Zweck der Eroberung. Von diesem sowie dem voraufgehenden Prinzip sollten alle Gesetze abstammen die das Völkerrecht bilden

Ein Völkerrecht besitzen alle Nationen, sogar die Irokesen, die ihre Gefangenen verspeisen. Sie schicken und empfangen Gesandtschaften, sie kennen Kriegs und Friedensrecht. Mißlich ist daran nur, daß dieses Volkerrecht nicht auf den wahren Prinzipien errichtet ist

Außer dem alle Gesellschaften betreffenden Volkerrecht gibt es für jede von ihnen ein Staatsrecht. Ohne eine Regierung vermöchte keine Gesellschaft zu bestehen. Der Zusammenschluß aller Einzelkräfte bildet, wie Gravina sehr gut sagt, das, was man staatlichen Zustand nennt.

Die Gesamtkraft kann in die Hände eines einzigen oder in die Hände mehrerer gelegt werden. Einige haben gedacht, die Ein-Mann-Regierung sei der Natur am nächsten, da die Natur die väterliche Gewalt eingesetzt habe Das Vorbild der väterlichen Gewalt beweist aber nichts. Wie nämlich die Ein-Mann-Regierung einen Bezug zur väterlichen Gewalt hat, so hat die mehrköpfige Regierung einen Bezug zur Gewalt der Brüder beziehungsweise nach dem Tod der Bruder der der Vettern. Die Staatsmacht begreift notwendigerweise den Zusammenschluß mehrerer Familien in sich.

Besser würde man sagen, der Natur komme jene Regierung am nächsten, deren Besonderheit am besten auf die Besonderheit des Volkes bezogen ist, für das sie gedacht ist.

Die Einzelkräfte vermögen sieh nicht zusammenzuschließen, ohne daß alle eines Willens sind. Die Zusammenfassung des Willens alles, sagt Gravina wiederum sehr gut, ist das, was man Gesellschaftszustand nennt.

Das Gesetz gilt, allgemeinhin, als der Menschenverstand, insoweit er alle Völker der Erde regiert. Die staatlichen und bürgerlichen Gesetze jeder Nation dürfen nichts anderes sein als die speziellen Fälle, auf die dieser Menschenverstand angewendet wird.

Sie müssen dem Volk, für das sie gelten sollen, so eigentümlich sein, daß sie nur durch einen großen Zufall einem anderen Volk auch gemäß sein könnten.

Sie müssen auf Natur und Prinzip der eingesetzten oder einzusetzenden Regierung bezogen sein, sei es, indem sie diese formen, wie die Staatsgesetze das tun, sei es, indem sie diese sichern, wie es die bürgerlichen Gesetze tun.

Sie müssen mit der physischen Beschaffenheit des Landes übereinstimmen, mit dem eisigen, heißen oder gemäßigten Klima, mit der Güte des Bodens, mit Lage und Größe des Landes, mit den Lebensverhältnissen der Völker als Ackerbauer, Jäger oder Hirten. Sie müssen auf das Ausmaß der Freiheit bezogen sein, das sich mit dem Staatsaufbau vereinbaren läßt, desgleichen mit der Religion der Einwohner, ihren Neigungen, ihrem Besitzstand, ihrer Menge, ihrem Handel, ihren Sitten und Lebensgewohnheiten. Überdies stehen sie untereinander in Bezug, ferner in Bezug zur Abstammung, zur Absicht des Gesetzgebers, zur Ordnung der Dinge, die ihre Grundlage sind. Nach jeder dieser Hinsichten sind sie zu betrachten.

Dies nun unternehme ich in diesem Werk. Ich werde all diese Bezüge untersuchen: sie zusammen bilden das, was man den Geist der Gesetze heißt.

Ich habe die staatlichen Gesetze nicht von den bürgerlichen getrennt, denn ich handele nicht von den Gesetzen, sondern vom Geist der Gesetze. Dieser Geist steckt in den verschiedenartigen Bezügen, in denen die Gesetze zu den verschiedensten Dingen stehen können. Daher durfte ich nicht so sehr der natürlichen Ordnung der Gesetze folgen als vielmehr der Ordnung dieser Bezüge und dieser Dinge.

Zunächst will ich die Bezüge der Gesetzt zur Natur und zum Prinzip jeglicher Regierung untersuchen Dieses Prinzip hat auf die Gesetze den letztlich bestimmenden Einfluß. Darum werde ich mir seine gründliche Kenntnis angelegen sein lassen. Vermag ich es erst einmal aufzustellen, so wird man sehen, wie daraus die Gesetze entspringen wie aus ihrer Quelle. Anschließend werde ich zu den anderen Zeugen übergehen, die wie es scheint, mehr im Besonderen bleiben. 

2. Buch, 6. Kapitel: Über Gewaltenteilung (Über die Verfassung Englands)

Es gibt in jedem Staat drei Arten von Vollmacht: die legislative Befugnis, die exekutive Befugnis in Sachen, die vom Völkerrecht abhängen, und die exekutive Befugnis in Sachen, die vom Zivilrecht abhängen.

Auf Grund der ersteren schafft der Herrscher oder Magistrat Gesetze auf Zeit oder für die Dauer, ändert geltende Gesetze oder schafft sie ab. Auf Grund der zweiten stiftet er Frieden oder Krieg, sendet oder empfängt Botschaften, stellt die Sicherheit her, sorgt gegen Einfälle vor. Auf Grund der dritten bestraft er Verbrechen oder sitzt zu Gericht über die Streitfälle der Einzelpersonen. Diese letztere soll richterliche Befugnis heiflen, und die andere schlechtweg exekutive Befugnis des Staates.

Politische Freiheit für jeden Bürger ist jene geistige Beruhigung, die aus der Uberzeugung hervorgeht, die jedermann von seiner Sicherheit hat. Damit man diese Freiheit genieße, muß die Regierung so beschaffen sein, daß kein Bürger einen andern zu fürchten braucht.

Sobald in ein und derselben Person oder derselben Beamtenschaft die legislative Befugnis mit der exekutiven verbunden ist, gibt es keine Freiheit. Es wäre nämlich zu befürchten, daß derselbe Monarch oder derselbe Senat tyrannische Gesetze erließe und dann tyrannisch durchführte.

Freiheit gibt es auch nicht, wenn die richterliche Befugnis nicht von der legislativen und von der exekutiven Befugnis geschieden wird. Die Macht über Leben und Freiheit der Bürger würde unumschränkt sein, wenn jene mit der legislativen Befugnis gekoppelt wäre; denn der Richter wäre Gesetzgeber. Der Richter hätte die Zwangsgewalt eines Unterdrückers, wenn jene mit der exekutiven Gewalt gekoppelt ware.

Alles wäre verloren, wenn ein und derselbe Mann beziehungsweise die gleiche Körperschaft entweder der Mächtigsten oder der Adligen oder des Volkes folgende drei Machtvollkommenheiten ausübte: Gesetze erlassen, öffentliche Beschlüsse in die Tat umsetzen, Verbrechen und private Streitfälle aburteilen.

In den meisten Königreichen Europas ist die Regierung maßvoll, da der Herrscher sich die zwei ersteren Befugnisse vorbehält und die Ausübung der dritten durch seine Untertanen zuläßt. Bei den Türken kommen diese drei Machtvollkommenheiten bei dem Oberhaupt, dem Sultan, zusammen, und ein grauenvoller Despotismus regiert.

In den Republiken Italiens werden diese drei Machtvollkommenheiten vereint. Daher ist dort weniger Freiheit zu finden als in unseren Monarchien. Deswegen hat die Regierung genau solche Gewaltmittel zu ihrer Erhaltung nötig wie die türkische. Das bezeugen die Staatsinquisitoren sowie jene Büchse, in die jederzeit jeder Denunziant auf einem Zettel seine Anschuldigung einwerfen kann.

Man betrachte die Situation eines Bürgers in diesen Republiken. Die gleiche Beamtenschaft hat als Ausführer der Gesetze alle die Befugnisse, die sie sich als Gesetzgeber selber verliehen hat. Sie vermag den Staat durch ihren Gemeinwillen [volontés générales] zu verheeren. Da sie auch noch die richterliche Gewalt innehat, vermag sie jeden Bürger durch ihre Sonderbeschlüsse zugrunde zu richten.

Alle Befugnisse bilden hier eine einzige. Obwohl hier keine äußere Pracht einen despotischen Herrscher verrät, bekommt man ihn auf Schritt und Tritt zu spuren.

Daher haben alle Herrscher, die sich zu Despoten machen wollten, stets mit einer Vereinigung aller Ämter in ihrer Hand den Anfang gemacht; desgleichen mehrere europäische Könige mit der Vereinigung aller höchsten Stellen ihres Staats.

Zwar glaube ich gern, daß die reine Geburtsaristokratie der italienischen Republiken mit dem asiatischen Despotismus nicht aufs Haar übereinstimmt. Die Ämterfülle mildert das Ämterwesen manchmal. Nicht immer verfolgen alle Adligen dieselben Pläne. Gegensätzliche Tribunale, die einander einschränken, bilden sich. Auf solche Weise hat in Venedig der Große Rat die Legislation inne, der Pregadi die Durchführung, die Vierzig die Gerichtsbefugnis. Das Übel besteht aber darin, daß diese unterschiedlichen Tribunale durch Beamte aus der gleichen Körperschaft gebildet werden. So entsteht kaum etwas anderes daraus als die eine, gleiche Befugnis.

Richterliche Befugnis darf nicht einem unabsetzbaren Senat verliehen werden, vielmehr muß sie von Personen ausgeübt werden, die nach einer vom Gesetz vorgeschriebenen Weise zu gewissen Zeiten im Jahr aus dem Volkskörper ausgesucht werden. Sie sollen ein Tribunal bilden, das nur so lange besteht, wie die Notwendigkeit es verlangt.

In dieser Form wird die Gerichtsbefugnis, so gefürchtet sie unter den Menchen ist, sozusagen unsichtbar und nichtig, da sie weder mit einem bestimmten Stand noch einem bestimmten Beruf verbunden ist. Man hat nicht dauernd Richter vor der Nase. Gefürchtet ist das Amt, nicht die Beamten.

Bei schweren Anklagen ist es sogar nötig, daß sich der Verbrecher, gemeinsam mit dem Gesetz, Richter wählen kann. Zumindest muß er eine so große Anzahl zurückweisen können, daß die restlichen als Männer seiner Wahl angesehen werden können.

Die zwei anderen Vollmachten können viel eher Beamten oder unabsetzbaren Körperschaften anvertraut werden; denn sie werden nicht gegen Einzelpersonen angewendet. Die eine ist lediglich der Gemeinwille des Staates, die andere lediglich der Vollzug des Gemeinwillens.

Indessen, die Gerichte sollen nicht unveränderlich sein, die Urteile müssen es aber so weitgehend sein, daß sie nie mehr als ein genauer Gesetzestext sind. Wenn sie nur die Privatmeinung des Richters darstellten, würde man in einem Gesellschaftszustand leben, ohne genau die Verpflichtungen zu kennen, die man damit vertraglich eingeht.

Die Richter müssen sogar aus dem Stand des Angeklagten stammen oder ihm ebenbürtig sein. Sonst könnte er sich in den Kopf setzen, er sei in die Hände voreingenommener Leute gefallen, die ihm Gewalt antun wollen.

Wenn die legislative Befugnis der Exekutive das Recht zur Gefangensetzung von Bürgern abtritt, die eine Kaution für ihr Verhalten stellen können, gibt es keine Freiheit mehr. Höchstens wenn sie verhaftet worden sind, um sich auf Grund einer Anklage wegen eines Verbrechens unverzüglich zu verantworten, auf das nach dem Gesetz die Todesstrafe steht. In solchem Fall sind sie tatsächlich frei, weil sie allein der Gewalt des Gesetzes unterstehen.

Falls aber die legislative Befugnis sich infolge irgendeiner geheimen Verschwörung gegen den Staat oder infolge irgendeines Einverständnisses mit äußeren Feinden für gefährdet hielte, könnte sie der exekutiven Befugnis die Verhaftung verdächtiger Bürger für eine kurze und beschränkte Zeit gestatten. Die Betroffenen würden ihre Freiheit nur zeitweilig verlustig gehen, damit die Freiheit für immer bewahrt wird.

Einzig und allein dies Mittel steht der Vernunft an als Ersatz für die tyrannische Amtsführung der Ephoren und die nicht minder despotische der Staatsinquisitoren von Venedig.

In einem freien Staat soll jeder Mensch, dem man eine freie Seele zugesteht, durch sich selbst regiert werden: daher müßte das Volk als Gesamtkörper die legislative Befugnis innehaben. Da dies in den großen Staaten unmöglich ist und in den kleinen Staaten vielen Nachteilen unterliegt, ist das Volk genötigt, all das, was es nicht selbst machen kann, durch seine Repräsentanten machen zu lassen.

Die Nöte seiner eigenen Stadt kennt man besser als die anderer Städte. Uber die Leistungskraft seiner Nachbarn urteilt man sicherer als über die von femstehenden Mitbürgern. Darum sollen die Mitglieder der legislativen Körperschaft nicht pauschal aus dem Ganzen der Nation ausgesucht werden. Es ist vielmehr zweckmäßig, daß sich die Finwohner jedes bedeutenden Orts einen Repräsentanten wählen.

Die Repräsentanten sind in der Lage, die Angelegenheiten zu erörtern. Das ist ihr großer Vorteil. Das Volk ist dazu durchaus nicht geeignet. Das ist eines der großen Gebrechen der Demokratie.

Haben die Repräsentanten von ihren Wählern eine allgemeine Anweisung erhalten, so ist eine besondere Anweisung für jede Angelegenheit, wie es bei den deutschen Reichstagen gehandhabt wird, nicht notwendig. Gewiß gäbe das Wort der Deputierten bei diesem Verfahren weit eher der Stimme der Nation Ausdruck; aber das würde endlose Verlängerungen heraufbeschwören. Jeder Deputierte wäre der Herr aller anderen. Bei Ereignissen, die schnellstes Handeln erfordern, könnte die ganze Kraft einer Nation durch eine Laune gelähmt werden.

Mr. Sidney sagt sehr richtig: wenn die Deputierten ein Volksganzes repräsentieren, wie in Holland, sind sie ihren Auftraggebern zur Rechenschaft verpflichtet. Etwas anderes ist es, wenn sie, wie in England, von Marktstädten delegiert werden.

In den verschiedenen Distrikten müssen alle Bürger bei der Wahl der Repräsentanten das Recht zur Stimmabgabe besitzen, diejenigen ausgenommen, die in solch einem Elend leben, daß man ihnen keinen eigenen Willen zutraut.

Die Mehrzahl der antiken Republiken litt an einem schweren Gebrechen: dort besaß das Volk das Recht, Beschlüsse, die zugleich Vollzug verlangen, eigenmächtig zu fassen - wozu das Volk vollkommen außerstande ist. Es darf nur durch die Wahl der Repräsentanten an der Regierung mitwirken. So weit reicht sein Horizont. Zwar können nur wenige Menschen die Leistungskraft von Menschen genau ermessen, aber jeder ist imstande, im großen ganzen zu erkennen, ob der Mann seiner Wahl besser beraten ist als die meisten anderen.

Die repräsentierende Körperschaft darf auch nicht für irgendeine eigenmächtige Beschlußfassung gewählt werden -was sie nicht gut zu leisten vermöchte -, sondern zur Schaffung von Gesetzen beziehungsweise zur Kontrolle, ob die geschaffenen Gesetze richtig angewendet wurden. Das vermag sie sehr gut, und niemand besser als sie.

Stets gibt es im Staat Leute, die durch Geburt, Reichtum oder Auszeichnungen hervorragen. Wenn sie aber mit dem Volk vermengt würden und wie die andern bloß eine Stimme besäßen, so würde die gemeinsame Freiheit für sie Sklaverei bedeuten. Sie hätten keinerlei Interesse an der Verteidigung der Freiheit, denn die meisten Beschlüsse würden zu ihren Ungunsten gefaßt. Ihre Teilnahme an der Gesetzgebung muß daher ihrer anderweitigen Vorrangstellung innerhalb des Staates angemessen sein. Das trifft zu, wenn sie eine Körperschaft bilden, die das Recht hat, Unternehmungen des Volkes auszusetzen, genauso wie das Volk das Recht hat, die ihrigen auszusetzen.

Auf diese Weise wird die legislative Befugnis sowohl der Adelskörperschaft als auch der gewählten Körperschaft der Volksvertreter anvertraut. Jede hat ihre Versammlungen und Abstimmungen für sich, sowie getrennte Gesichtspunkte und Interessen.

Unter den drei von uns besprochenen Befugnissen ist die richterliche gewissermaßen gar keine. Nur zwei bleiben übrig. Da sie zu ihrer Mäßigung eine regulierende Gewalt nötig haben, ist für diesen Zweck der aus Adligen zusammengesetzte Zweig der legislativen Körperschaft sehr geeignet.

Die Mitgliedschaft in der Adelskörperschaft soll erblich sein. Erstens ist sie es gemäß ihrer Natur. Überdies muß sie auf die Bewahrung ihrer Sonderrechte sehr bedacht setn. Diese sind als solche verhaßt und daher in einem freien Staat stets in Gefahr.

Indes könnte eine erbliche Gewalt versucht sein, ihren Sonderinteressen zu folgen und darüber die Interessen des Volkes zu vergessen. Daher muß dafür gesorgt werden, daß sie in Dingen, bei denen sie an der Korruption höchstlich interessiert ist, wie etwa bei Gesetzen zur Steuererhebung, lediglich durch ihr Verhinderungsrecht, nicht aber durch ihr Entscheidungsrecht an der Gesetzgebung teilhat.

Entscheidungsrecht nenne ich das Recht, von sich aus anzuordnen oder das von andern Angeordnete abzuändern. Verhinderungsrecht nenne ich das Recht, einen von anderen gefaßten Beschluß zu annullieren. Diese Gewalt besaßen die Tribunen Roms. Obwohl der Inhaber des Verhinderungsrechts auch das Recht zur Zustimmung haben kann, besteht diese Zustimmung in nichts weiter als der Erklärung, daß man von seinem Verhinderungsreeht keinen Gebrauch mache. Aus diesem Recht leitet es sich her.

Die exekutive Befugnis muß in den Händen eines Monarehen liegen, weil in diesem Zweig der Regierung fast durchweg unverzügliches Handeln vonnöten ist, das besser von einem als von mehreren besorgt wird. Was hingegen von der legislativen Befugnis abhängt, wird oft besser von mehreren angeordnet als von einem.

Es gäbe keine Freiheit mehr, wenn es keinen Monarchen gäbe und die exekutive Befugnis einer bestimmten, aus der legislativen Körperschaft ausgesuchten Personenzahl anvertraut wäre; denn die beiden Befugnisse wären somit vereint. Dieselben Personen hätten an der einen und der anderen manchmal teil - und somit könnten sie immer daran teilhaben.

Es gäbe keine Freiheit mehr, wenn die legislative Körperschaft eine beachtliche Zeitspanne nicht zusammenberufen worden wäre. Denn eins von beiden würde eintreten: entweder würden keine gesetzgeberischcn Beschlüsse mehr gefaßt und der Staat würde in Anarchie stürzen, oder aber diese Beschlüsse würden von der exekutiven Befugnis gefaßt und er würde absolutistisch.

Eine ständige Tagung der legislativen Körperschaft wäre unnütz. Dies wäre für die Repräsentanten lästig und würde überdies die exekutive Befugnis zu stark beschäftigen. Sie dächte nicht mehr an die Durchführungsmaßnahmen, sondern nur noch an die Verteidigung ihrer Sonderrechte und ihr eigenes Recht auf den Gesetzesvollzug.

Uberdies: wenn die legislative Körperschaft ununterbrochen versammelt bliebe, könnte es so weit kommen, daß neue Deputierte bloß noch an Stelle verstorbener eingesetzt würden. In diesem Fall gäbe es, wenn die legislative Körperschaft erst einmal korrupt wäre, keinerlei Heilmittel gegen dies Übel. Sobald jedoch unterschiedlich gesonnene legislative Körperschaften aufeinander folgen, richtet das Volk, das von der derzeitigen legislativen Körperschaft eine schlechte Meinung hegt, seine Hoffnungen, und zwar mit Recht, auf die nachfolgende. Wenn aber die Körperschaft, die das Volk just in ihrer Korruption vor sich sieht, stets die gleich bliebe, würde es aufsässig werden oder in Gleichgültigkeit verfallen.

Die legislative Körperschaft darf nicht auf eigenen Wunsch zusammentreten, denn einer Körperschaft wird erst vom Moment ihres Zusammentritts an ein eigener Wille zugebilligt. Wenn sie sich nicht nach einmütigem Beschluß versammelte, könnte man nicht einmal angeben, welcher Teil eigentlich die legislative Körperschaft darstellt, der versammelte Teil oder der nicht versammelte. Stände ihr das Recht zu, sich selber zu vertagen, so könnte es vorkommen, daß sie sich nie vertagte. Falls sie gegen die exekutive Befugnis etwas im Schilde führte, würde das sehr gefährlich werden. Im übrigen gibt es für die Einberufung der legislativen Körperschaft mehr und minder günstige Zeiten. Daher ist es erforderlich, daß niemand anders als die exekutive Befugnis die Zeit für das Zusammentreten und die Dauer dieser Versammlungen in Üereinstimmung mit den ihr ja bekannten Umständen regelt.

Wenn die exekutive Befugnis nicht das Recht besäße, die Unternehmungen der legislativen Körperschaft aufzuhalten, wäre diese letztere despotisch. Sie vermöchte sich alle erdenklichen Vollmachten selber zu verleihen und so alle anderen Befugnisse zunichte zu machen.

Indessen darf die legislative Befugnis nicht umgekehrt die Möglichkeit bekommen, die exekutive Befugnis aufzuhalten. Die Durchführung hat nämlich schon ihrer Natur nach ihre Grenzen, und ihre Begrenzung ist daher unnötig. Außerdem befaßt sich die exekutive Befugnis immer nur mit Angelegenheiten des Augenblicks. Die Macht der Tribunen in Rom war insofern ein Fehler, als sie nicht allein die Gesetzgebung aufhielt, sondern sogar die Durchführung. Das verursachte große Mißstände.

Wenn indes in einem freien Staat die legislative Befugnis nicht das Recht zum Eingriff in die exekutive Befugnis haben darf, hat sie doch das Recht zur Prüfung der Art und Weise, in der die von ihr verabschiedeten Gesetze durchgeführt worden sind, oder sollte die Möglichkeit dazu haben. Darin besteht der Vorzug dieser Regierung vor der kretischen und lakedämonischen. Dort gaben die Kosmen und die Ephoren über ihre Verwaltung keine Rechenschaft.

Wie diese Prüfung auch beschaffen sei, die legislative Körperschaft darf jedenfalls nicht die Macht haben, über die Person des mit der Exekutive Betrauten zu Gericht zu sitzen und folglich auch nicht über seine Aufführung. Seine Person muß geheiligt sein, weil dies für den Staat notwendig ist, damit die legislative Körperschaft nicht tyrannisch wird. Von dem Augenblick seiner Anklage oder Verurteilung an gäbe es keine Freiheit mehr.

In diesem Falle wäre der Staat keine Monarchie mehr, sondern eine Republik ohne Freiheit. Der Durchführende kann die Gesetze aher nicht schlecht durchführen ohne boshafte Berater, die als Minister die Gesetze hassen, obwohl diese sie als Menschen begünstigen. Daher können diese Berater ermittelt und bestraft werden. Gerade das ist der Vorteil dieser Regierung gegenüber der von Knidos. Dort gestattete das Gesetz nicht, die "Amymonen" vor Gericht zu ziehen, nicht einmal nach ihrer Amtsführung. Darum konnte sich das Volk für die ihm zugefügten Ungerechtigkeiten nie Genugtuung verschaffen.

Zwar darf die richterliche Befugnis im allgemeinen nicht mit irgendeinem Teil der Legislative vereinigt werden, doch sind drei Ausnahmefälle zulässig. Sie haben ihren Grund im Einzelinteressc dessen, der vor Gericht steht.

Die Großen haben immer Neider. Wenn sie vom Volke gerichtet würden, könnten sie in Gefahr geraten. Nicht einmal die Vergünstigung des geringsten Bürgers eines freien Staats würden sie genießen: sie würden nicht von ihresgleichen gerichtet werden. Daher ist es notig, daß die Adligen vor den aus Adligen zusammengesetzten Zweig der legislativen Körperschaft zitiert werden statt vor die ordentlichen Gerichte der Nation.

Sonst könnte es vorkommen, daß in gewissen Fällen das Gesetz, hellsichtig und blind zugleich, wie es ist, zu rigoros wäre. Doch die Richter der Nation sind, wie gesagt, lediglich der Mund, der den Wortlaut des Gesetzes spricht, Wesen ohne Seele gleichsam, die weder die Stärke noch die Strenge des Gesetzes mäßigen können. Der Zweig der legislativen Körperschaft, den wir bei anderer Gelegenheit als ,,unentbehrliches Gericht bezeichneten erweist sich auch hier als solches. Es steht seiner höchsten Autorität an, das Gesetz zugunsten des Gesetzes selbst zu mildern und weniger streng als das Gesctz zu entschciden.

Es könnte auch passieren, daß in öffentlichen Angelegenheiten irgendein Bürger die Rechte des Volkes verletzte und Verbrechen beginge, welche die eingesetzten Beamten nicht bestrafen könnten oder wollten. Im allgemeinen kann aber die legislative Befugnis keine Urteile fällen, und erst recht nicht in einem Einzelfall, in dem sie das Parteimteresse, hier des Volkes, vertritt, Mithin kann sie bloß Anklägerin sein. Vor welchem Gericht aber wird sie klagen? Wird sie sich herablassen, vor die gesetzmäßigen Tribunale zu gehen? Diese stehen tiefer als sie und setzen sich überdies aus Leuten zusammen, die gleich ihr zum Volk gehören und durch die Autoritat eines so gewaltigen Anklägers mitgerissen werden. Nein, zur Bewahrung der Würde des Volkes und der Sicherheit des einzelnen muß der legislative Teil des Volkes seine Klage vor dem legislativen Teil des Adels vorbringen. Dieser hat weder die gleichen Interessen noch die gleichen Leidenschaften wie jener.

Diesen Vorteil hat diese Regierung vor der Mehrzahl der alten Republiken voraus. Bei diesen herrschte der Mißbrauch, daß das Volk zu gleicher Zeit Kläger und Richter war.

Die exekutive Befugnis muß, wie gesagt, durch ihr Verhinderungsrecht an der Gesetzgebung beteiligt sein. Sonst sähe sie sich bald ihrer Sonderrechte beraubt. Wenn sich jedoch die legislative Befugnis an der Durchführung beteiligt, ist die exekutive Befugnis ebenfalls verloren.

Es gäbe keine Freiheit mehr, wenn der Monarch vermöge eines Entscheidungsrechts an der Gesetzgebung teilnähme. Dennoch ist seine Teilnahme an der Gesetzgebung für den Fall, daß er sich rechtfertigen muß, erforderlich. Darum muß er durch sein Verhinderungsrecht daran teilnehmen.

Einer der Gründe für den Wechsel der Regierung von Rom lag darin, daß der Senat, der den einen Teil der exekutiven Befugnis besaß, sowie die Beamten, die den andern besaßen, nicht das Verhinderungstecht gleich dem Volk hatten.

Das also ist die Grundverfassung der Regierung, von der wir reden. Die legislative Körperschaft setzt sich aus zwei Teilen zusammen. Durch ihr wechselseitiges Verhinderungsrecht wird der eine den andern an die Kette legen. Beide zusammen werden durch die exekutive Befugnis gefesselt, die ihrerseits von der Legislative gefesselt wird.

Eigentlich müßten diese drei Befugnisse einen Stillstand oder eine Bewegungslosigkeit herbeiführen. Doch durch den notwendigen Fortgang der Dinge mussen sie notgedrungen fortschreiten und sind daher gezwungen, in gleichem Schritt zu marschieren.

Da die exekutive Befugnis an der Legislative nur durch ihr Verhinderungsrecht teilhat, darf sie in die Debatte der laufenden Geschäfte nicht eingreifen. Sie braucht nicht einmal Anträge einzubringen. Da sie jederzeit die Beschlüsse verwerfen kann, so kann sie Beschlußfassungen über Vorschläge zurückweisen, die gegen ihren Willen eingebracht wurden.

In manchen Republiken der Alten oblag die Debatte über die Geschäfte dem Volksganzen. Dort stellte selbstverständlich die exekutive Befugnis die Anträge und debattierte sie mit dem Volk. Andernfalls wäre bei den Beschlüssen ein sonderbares Durcheinander entstanden.

Es gibt keine Freiheit meht; wenn die exekutive Befugnis an der Festsetzung der Erhebung der Staatsgelder anders als durch ihre Zustimmung mitwirkt. Sonst würde sie in dem wichtigsten Punkt der Gesetzgebung zur Legislative.

Die legislative Befugnis würde ihre Freiheit aufs Spiel setzen, wenn sie die Erhebung der Staatsgelder nicht von Jahr zu Jahr, sondern für die Dauer festlegte. Die exekutive Befugnis wäre dann nicht mehr von ihr abhängig. Falls man solch ein Recht auf Dauer eingeräumt bekommt, gilt es ziemlich gleich, woher man es erhalten hat, von sich oder einem andern. Wenn sie diese Festsetzung für die Land- und Seestreitkräfte, die sie der exekutiven Befugnis anvertrauen muß, für die Dauer statt von Jahr zu Jahr vornimmt, gilt das gleiche.

Der Durchführende darf nicht zum Unterdrücker werden. Daher müssen die ihm anvertrauten Armeen aus dem Volk stammen und gleichen Geistes wie das Volk sein, so wie es in Rom bis zu Marius hin gewesen ist. Dazu verhelfen nur zwei Mittel. Entweder müssen die im Heer Dienenden genug Vermögen besitzen, um den andern Bürgern für ihr Verhalten bürgen zu können, und dürfen nur auf ein Jahr eingezogen werden, wie es in Rom Brauch war. Oder aber die legislative Befugnis muß, falls sie ein stehendes Heer unterhält und die Soldaten zum Abschaum der Nation gehören, das Heer auflösen können, sobald sie will. Die Soldaten müssen dann unter den Bürgern wohnen, und es darf weder separate Lager noch Kasernen noch befestigte Plätze geben.

Ist die Armee erst einmal ins Leben gerufen, so darf sie nicht unmittelbar von der legislativen Körperschaft abhängig sein, vielmehr von der exekutiven Befugnis. Das liegt in der Natur der Sache: ihre Aufgabe besteht mehr im Handeln als im Beratschlagen.

In der Wertung der Menschen steht der Mut nun einmal höher als Schüchternheit, die Tatkraft höher als Klugheit, die Stärke höher als guter Rat. Stets wird die Armee einen Senat verachten und auf ihre Offiziere hören. Sie wird auf die Befehle nicht viel geben, die ihr von Seiten einer Körperschaft zugehen, deren Mitglieder sie als furchtsam und darum des Befehlens unwürdig ansieht. Sobald die Armee einzig und allein von der legislativen Körperschaft abhängt, wird die Regierung mithin militärisch werden. Wenn je das Umgekehrte vorgekommen ist, dann eben als Folge einiger ungewöhnlicher Umstände, etwa weil die Armee stets abseits gehalten wird oder aus mehreren Korps zusammengesetzt ist, die jeweils von ihren besonderen Provinzen abhängen, oder weil die Hauptstädte so ausgezeichnet gelegen sind, daß sie sich auf Grund ihrer Lage allein zu verteidigen vermögen und von Truppen frei bleiben.

Holland lebt in noch größerer Sicherheit als Venedig. Es würde revoltierende Truppen unter Wasser setzen, es würde sie verhungern lassen. Sie liegen nicht in Städten, die ihren Unterhalt aufbringen könnten. Dieser Unterhalt bleibt daher unsicher.

Besondere Umstände können die Regierung im Fall der Unterstellung der Armee unter die Legislative davor bewahren, militärisch zu werden, aber dafür ergeben sich andere Nachteile. Eins von beiden: entweder wird die Armee die Regierung auflösen müssen oder aber die Regierung die Armee schwächen müssen.

Und diese Schwächung hat einen verhängnisvollen Grund: sie entsteht aus ebendieser Schwäche der Regierung.

Wollte man sich bequemen, das bewundernswerte Werk des Tacitus über die Sitten der Germanen zu lesen, so würde man daraus ersehen, daß die Engländer die Idee ihrer Staatsregierung von diesen Germanen bezogen haben. Dies herrliche System wurde in den Wäldern erfunden.

Da alle Menschendinge ein Ende nehmen, wird auch der Staat, von dem die Rede ist, seine Freiheit verlieren und wird vergehen. Rom, Lakedämon und Karthago sind leider vergangen. Er wird vergehen, sobald die legislative Befugnis verderbter als die exekutive ist.

Mit steht die Prüfung nicht zu, ob die Engländer gegenwärtig diese Freiheit genießen oder nicht. Ich begnüge mich mit der Feststellung, daß sie durch ihre Gesetze in Kraft gesetzt wurde, und forsche nicht weiter.

Mit all dem vermesse ich mich nicht, die anderen Regierungen herabzusetzen. Auch sage ich nicht, diese äußerste politische Freiheit müsse alle beschämen, die eine nur mäßige besitzen. Wie könnte ausgerechnet ich so etwas sagen, der ich nicht einmal das Übermaß an Vernunft für erstrebenswert halte und der Meinung bin, die Menschen kämen fast durchweg mit den mittleren Zuständen besser zurecht als mit den extremen?

In seiner Oceana hat Harrington gleichfalls untersucht, was das höchste Maß an Freiheit sei, zu dem hin die Verfassung eines Staats vordringen könne. Indessen kann man von ihm sagen: er fing diese Freiheit erst zu suchen an, nachdem er sie mißverstanden hatte. Mit dem Ufer von Byzanz vor Augen hat er Chalkedon gebaut.


Bearbeitung für das Internet: Christian Gizewski


LV Gizewski SS 1998