Ihr bester Gehilfe ist der Schnee. Wenn der Schnee
fällt, bricht sie auf. Dann beginnt ihre große Zeit. Es muss aber
fester Schnee sein, ein Schnee, der beim Drauftreten zufrieden
knirscht. Auf keinen Fall darf er locker sein wie Puderzucker, oder,
noch schlimmer: matschig. Dann erzählt er nichts über die Wölfe, die
in ihm liefen. Dann verweht sein Wissen, oder es zerfließt. Der
Schnee sollte gerade gefallen und der Tag nicht allzu kalt sein.
Strenger Frost schadet, dann überfrieren die Ränder der Spuren. Sie
werden undeutlich wie Tintenschrift in einem nassen Heft. Ist der
Schnee frisch und fest, dann ist er ideal. So wie Schneeballschnee.
Aber Schnee ist selten ideal.
Gesa Kluth braucht Schnee, sie
ist Spurensucherin. Seit November hat sie darauf gewartet. Nach
Weihnachten begann es endlich zu schneien in Ostsachsen und
Brandenburg. Gesa Kluth, 32 Jahre alt, ist eine athletische Frau mit
gesunder Gesichtsfarbe und einem großen Herz für Wölfe. Sie
untersucht die Spuren der Wölfe, die seit ein paar Jahren durch
Ostsachsen streifen, durch Kohletagebaue, Aufforstungen, Wiesen,
Wälder und Truppenübungsplätze irgendwo zwischen Dörfern, die
Mühlrose heißen und Nochten, Rietschen und Reichwalde, 120 Kilometer
hinter Dresden. Es ist das einzige frei lebende Rudel Wölfe in
Deutschland. Einwanderer aus Polen, die sich niedergelassen und
Junge bekommen haben.
Gesa Kluth will alles über diese Wölfe
wissen: was sie fressen, wo sie leben, wie viele es sind, welche
Wege sie gehen und wie man Schafherden vor ihnen schützen kann. Sie
arbeitet seit einem Jahr für das Sächsische Umweltministerium und
ist den Wölfen auf der Spur. Aber die Wölfe in der Lausitz sind
scheu; sie findet ihre Spuren, aber die Wölfe findet sie nicht. Sie
hat noch keinen gesehen.
Der Schnee an diesem Tag ist nicht
ideal. Es ist viel zu kalt für guten Schnee, 17 Grad unter null. Am
Morgen war die Wolfsforscherin von einem Bürgermeister angerufen
worden. Der hatte erzählt, eine Kollegin habe am Abend vorher einen
Wolf gesehen. In ihrem Garten. Also fährt Gesa Kluth hin, in ihrem
alten blauen Suzuki. Es ist so kalt, dass sie das Eis von der
Innenseite der Frontscheibe abschaben muss. Es geht nach Nochten,
einer kleinen Siedlung am Rande eines Tagebauloches, zu Erwin Ladusz. Der ist Rentner und wartet schon. Sein kleines Haus am Ende
der Siedlung war einmal Teil eines Bauernhofes. Erwin Ladusz ist
kaum zu erkennen: Er trägt eine Mütze mit Ohrenlappen, tief
runtergezogen. "Ja", sagt er, sein Atem dampft. "Meine
Schwiegertochter hat den Wolf gesehen. Sie war eine rauchen." Er
steht hinter seinem Haus, drei Meter entfernt, und deutet in den
Schnee. "Das sieht sehr vielversprechend aus", sagt Gesa Kluth.
Sie weiß sehr viel über Wölfe. Vielleicht gibt es
niemanden in Deutschland, der sich besser auskennt als sie. Sie hat
Wölfe studiert, in den USA und im Baltikum, zwei Winter lang, sie
hat ihre Diplomarbeit in Biologie über Wölfe geschrieben. "Wölfe",
sagt sie, "sind am allerspannendsten." Sie mag die Tiere, sie
respektiert sie und ärgert sich über Hysteriker und Panikmache in
Boulevardblättern.
Die Spuren in Erwin
Ladusz' Garten stammen
von einem Wolf. "Eindeutig", sagt Gesa Kluth. Sie hat schon hunderte
Wolfsspuren gesehen, vermessen und fotografiert. Sie ist ihnen oft
nachgelaufen so weit es ging. In Ladusz' Garten, das steht fest, war
am Abend zuvor gegen 21.30 Uhr ein Wolf. Er war aus dem kleinen Wald
hinter dem Haus gekommen, über den verschneiten Rasen zum Haus
gelaufen, hatte dort die rauchende Schwiegertochter Marina gesehen,
sie ein bisschen erschreckt und war hastig
verschwunden.
Schwiegervater Erwin regt der Besuch nicht auf:
"Die tun nichts", sagt er.
Aber warum war er dort? Was wollte
er da? Gesa Kluth ist für solche Fragen gerüstet. Sie hat alles bei
sich. In einem Rucksack trägt sie ein Bündel Karten von Ostsachsen.
Sehr genaue Karten, in denen jeder Feldweg eingezeichnet ist. Sie
hat eine Kamera, ein Klemmbrett für Notizen und ein Maßband, mit dem
sie die Pfotenabdrücke untersucht. Sieben bis acht Zentimeter
Durchmesser, ungefähr. Kein ganz großer, aber auch kein kleiner
Wolf. Keiner der alten Wölfe, die vor Jahren einwanderten.
Vielleicht interessierte er sich für den Hausmüll, vielleicht für
den Nachbarshund, vielleicht für die Tiere, die sich im Dickicht
hinter der Straße verstecken. Sie stapft durch das Unterholz. Die
Spuren des Wolfes verlieren sich in einem Spurensalat: Füchse liefen
hier, Marder, Rehe und Hasen.
Niemand weiß genau, wann die
ersten Wölfe in Ostsachsen auftauchten. Irgendwann waren sie einfach
da und mussten entdeckt werden. Jäger fanden 1994 erstmals Spuren.
Danach gab es immer wieder Hinweise: Spuren, Kadaver von gerissenen
Rehen, Kothaufen und nachts das Heulen. Aber niemand sah sie.
Niemand wusste, ob es ein Einzelgänger war oder mehrere. Einzelne
Tiere kommen gelegentlich aus Polen, wo es noch über 500 Wölfe gibt.
Wölfe zieht es nach Westen, sie schwimmen durch die Neiße und dann
irren sie wochenlang in Brandenburg, Mecklenburg-Vorpommern oder
Sachsen herum, bis sie überfahren oder einfach nie mehr gesehen
werden. Bis zum Sommer 2000 wusste man nicht, woran man war. Dann
sahen Jäger sechs Wölfe. Ein Rudel mit Jungen. Ein Wolf und eine
Wölfin, eingewandert aus Polen, hatten sich auf dem
Truppenübungsplatz Muskauer Heide niedergelassen. Und weil es dort
kaum Menschen, aber viel jagdbares Wild gibt und sie das
gelegentliche Übungsschießen von Hubschraubern und Panzern nicht
stört, sind sie geblieben. 150 Jahre, nachdem in Deutschland die
systematische Ausrottung der Wölfe den Höhepunkt erreichte und 1904
mit dem Abschuss des letzten Wolfes bei Hoyerswerda endete, waren
sie wieder da.
Gegen Mittag fährt Gesa Kluth nach Reichwalde, einem
Dorf südlich des Truppenübungsplatzes, umgeben von aufgeforsteten
Tagebauschluchten und Hügeln wie dem Jungfernberg und den
Rabenbergen. Ein Jagdpächter rief an. Er hatte zwei Wolfsspuren
gesehen. Gesa Kluth ist sehr zufrieden. "Wolfsspuren. Ein größerer
und ein kleinerer." Aber alte Spuren. Die Tiere zogen einen Tag
zuvor vorbei.
Jetzt beginnt, was sie Feldarbeit nennt. Oder: eine
Spur ausgehen. Sie will wissen, woher die Wölfe kamen, wohin sie
gingen. Am besten noch, was sie unterwegs machten. Sie geht los:
dicker Anorak, eine abgewetzte Jeans, Wanderschuhe, eine Mütze auf
dem Kopf, ein Tuch gegen die Kälte vor dem Mund. Es wird eine
vierstündige Wanderung.
Sie geht zügig, folgt den Spuren über
die langen Wege zwischen den Aufforstungen: Robinien, Kiefern,
Eichen, mal hüfthoch, mal höher, soweit das Auge reicht. Neues
Leben, neue Wälder für die Mondlandschaften, die der Braunkohleabbau
hinterließ. Hier leben die Wölfe, hier jagen sie, in einem
menschenarmen Stück Deutschland, 400 Quadratkilometer
groß.
Wölfe laufen die Wege entlang, weil das bequemer ist.
Sie laufen geschnürt, immer die Hinterpfoten in die Vorderpfoten
setzend. Ganz akkurat, anders als Hunde. "Das unterscheidet sie",
sagt Gesa Kluth. Manchmal laufen sie in den Reifenspuren von Autos,
weil das noch bequemer ist. Oder so hintereinander, dass es
aussieht, als sei hier nur ein Wolf gewesen. Manchmal gesellt sich
eine Fuchsspur dazu: Füchse sind schlau. Sie laufen den Wölfen nach.
Vielleicht fällt etwas ab von der großen Beute.
Ende April
vergangenen Jahres passierte, was sie den "Super-Gau" nennt. Drei
Wölfe waren über eine Schafherde bei Mühlrose hergefallen. 250
Schafe. Am Ende fehlten 33. 18 waren tot, gerissen von den Wölfen.
Der Rest war verschwunden. Ein Gemetzel im Morgengrauen. Gesa Kluth
fuhr hin und redete mit dem Schäfer. Er bekam den Verlust vom Land
Sachsen ersetzt. Er baute einen höheren Weidezaun und zog oben einen
Stromdraht ein. "Das schreckt Wölfe ab", sagt Gesa Kluth. "Wölfe
sind misstrauisch." Sie sagt, solche Angriffe könnten immer wieder
passieren. Die Weidefläche liege auf der Wolfsroute. Der Schäfer
wisse das auch.
Im Juni fand ein Briefträger vier tote Schafe
auf einem Hof in Weißenberg. Wieder hieß es: die Wölfe. Wieder fuhr
Gesa Kluth als Gutachterin des Umweltministeriums hin. Diesmal waren
es aber Hunde, zwei Doggen aus dem Nachbardorf. "Man erkennt es am
Biss", sagt sie. Hunde beißen zu, zerren, reißen und schütteln.
Wölfe schnappen das Opfer am Hals, an der Kehle. Das reicht. "Sie
töten effektiver."
Eine Stunde ist sie jetzt gegangen. Immer
den Spuren nach. Der Himmel ist strahlend blau, der Schnee klirrt
wie zerstoßenes Glas. Kein Mensch weit und breit, das Land sieht
vergessen aus. Ab und zu macht sie Fotos von schnurgeraden Spuren
und blickt in ihre Karten. Meist folgten die Wölfe den Wegen. Sie
gingen um einen Hügel herum, checkten ein Gebüsch, folgten kurz
einer Bahnstrecke, kletterten ab und zu auf die hohe Kante des
Tagebaus, so als wollten sie nachsehen, was der große Bagger macht,
dessen fernes Brummen das einzige Geräusch ist, unendlich weit unten
in der Schlucht.
Wölfe sind neugierig, und Gesa Kluth gefällt
das. Sie liebt es, den Spuren nachzulaufen. "Ich renne ihnen
hinterher und sie bleiben mir immer voraus. Man holt sie nie ein.
Und am Ende bleiben mehr Fragen als Antworten übrig."
Sie hat
sich schon immer für Wölfe interessiert. Seit Kindesbeinen, seit sie
ein Buch las über Wölfe. Gesa Kluth ist bei Göttingen groß geworden,
hat in Bremen Biologie studiert und dann großes Glück gehabt.
Riesenglück, man kann es nicht anders sagen. Wölfe interessierten
sie -- aber es gab keine in Deutschland. Nur die seltenen
Einwanderer oder Ausreißer aus Zoos. Sie hätte nach Portugal gehen
müssen, oder nach Norditalien oder Spanien. Oder nach Finnland oder
Schweden. Dort gibt es noch Wölfe, in Italien noch über 500, in
Portugal 200. Aber dann, 1989, fiel die Mauer in Deutschland. Und
ein paar Jahre später zog sie in den Osten, nach Brandenburg, und
suchte Wölfe. In der alten Bundesrepublik gab es keine Wölfe. Auch
sie schafften es nicht über den Todesstreifen.
Jetzt lebt sie
in der Lausitz, hat sich eingerichtet in einem kargen
Lehrlingswohnheim eines Milchviehbetriebes am Rande von Klein-Düben,
einem Nest im Wolfsland. Es hat sich alles richtig gefügt in ihrem
Leben: Sie hat die Wölfe studiert, sie hat Spuren lesen gelernt. Sie
hat 1997 ihr Diplom gemacht. Über Wölfe in Estland. Sie war
Wolfsexpertin, aber ohne Wölfe. Sie war bereit. Und dann ist ein
ganzes Rudel aufgetaucht, vor ihrer Nase, aus dem Nichts, wie für
sie geschaffen.
Seit bald drei Stunden läuft sie den Spuren
nach, immer noch eilig, ab und zu einen Blick in die Karte werfend.
An einer Wiese hält sie. Dort ist der Schnee an einigen Stellen
weggekratzt, stumpfes braunes Gras schimmert durch. Hier lagerten
Rehe. Die Wölfe haben sie nicht aufgescheucht. Sie kamen zu spät,
verraten die Spuren.
Sie hat keine Angst vor Wölfen. "Muss
man auch nicht", sagt sie. "Nur wenn man allein im Wald ist und ein
rotes Käppchen trägt." Ein alter Wolfsforscherwitz. Wölfe seien
scheu, sie fürchteten die Menschen. Sie gingen ihnen aus dem Weg.
Die Märchen seien schuld, die hätten eine Urangst geschaffen. Es sei
doch verrückt: Da lebten Leute in einem Dorf zwischen 35
Kampfhunden. Und das kratze keinen. Aber bei einem Wolf spielten
alle verrückt. Sie meint: "Man soll die Wölfe machen lassen." Das
sagt sie auch all den Bürgermeistern und Landräten, die sie
einladen. Zu Vorträgen und Aufklärungsabenden.
Acht Wölfe
sind es jetzt vermutlich. Möglicherweise aber auch schon elf. Wenn
sie sich weiter vermehren, wird sich ihr Gebiet vergrößern. Einige
werden weiterwandern nach Westen. Wenn sie sich vermehren. Sie hält
auch für möglich, dass das Rudel wieder ausstirbt, wenn eines der
Elterntiere umkommt und kein neuer Partner auftaucht.
Nach
vier Stunden Spurenauslaufen geht die Sonne langsam unter. Es wird
noch kälter. Die Nase verklebt beim Einatmen. Die Wolfsspuren
verlieren sich in einem dichten Wald hinter einem Bach. Weiter geht
es heute nicht. Zeit, nach Hause zu fahren.
Und warum
ausgerechnet Wölfe? Warum diese Leidenschaft für Wölfe? "Wölfe
werden nie langweilig", sagt Gesa Kluth.
Am nächsten Tag will
sie erneut aufbrechen. Vielleicht ruft ja wieder jemand an, der
Spuren gesehen hat. Wenn nicht, geht sie auf eigene Faust los. Durch
den Schnee, der nicht ideal ist, ihr aber doch eine Menge über Wölfe
erzählt.
<c> Frankfurter Rundschau 16.Januar 2003 www.fr-aktuell.de