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Frankfurt am Main, 16. 01. 2003

 

 

 

 

 

 

 

 

Wölfe: "Die Spurensucherin" 

 

Wölfe hinterlassen Fährten im Schnee, deshalb muss Gesa Kluth den Winter lieben: Die Forscherin verfolgt in der Lausitz die einzigen frei lebenden Wölfe Deutschlands

Von Bernhard Honnigfort


 

Ihr bester Gehilfe ist der Schnee. Wenn der Schnee fällt, bricht sie auf. Dann beginnt ihre große Zeit. Es muss aber fester Schnee sein, ein Schnee, der beim Drauftreten zufrieden knirscht. Auf keinen Fall darf er locker sein wie Puderzucker, oder, noch schlimmer: matschig. Dann erzählt er nichts über die Wölfe, die in ihm liefen. Dann verweht sein Wissen, oder es zerfließt. Der Schnee sollte gerade gefallen und der Tag nicht allzu kalt sein. Strenger Frost schadet, dann überfrieren die Ränder der Spuren. Sie werden undeutlich wie Tintenschrift in einem nassen Heft. Ist der Schnee frisch und fest, dann ist er ideal. So wie Schneeballschnee. Aber Schnee ist selten ideal.

Gesa Kluth braucht Schnee, sie ist Spurensucherin. Seit November hat sie darauf gewartet. Nach Weihnachten begann es endlich zu schneien in Ostsachsen und Brandenburg. Gesa Kluth, 32 Jahre alt, ist eine athletische Frau mit gesunder Gesichtsfarbe und einem großen Herz für Wölfe. Sie untersucht die Spuren der Wölfe, die seit ein paar Jahren durch Ostsachsen streifen, durch Kohletagebaue, Aufforstungen, Wiesen, Wälder und Truppenübungsplätze irgendwo zwischen Dörfern, die Mühlrose heißen und Nochten, Rietschen und Reichwalde, 120 Kilometer hinter Dresden. Es ist das einzige frei lebende Rudel Wölfe in Deutschland. Einwanderer aus Polen, die sich niedergelassen und Junge bekommen haben.

Gesa Kluth will alles über diese Wölfe wissen: was sie fressen, wo sie leben, wie viele es sind, welche Wege sie gehen und wie man Schafherden vor ihnen schützen kann. Sie arbeitet seit einem Jahr für das Sächsische Umweltministerium und ist den Wölfen auf der Spur. Aber die Wölfe in der Lausitz sind scheu; sie findet ihre Spuren, aber die Wölfe findet sie nicht. Sie hat noch keinen gesehen.

Der Schnee an diesem Tag ist nicht ideal. Es ist viel zu kalt für guten Schnee, 17 Grad unter null. Am Morgen war die Wolfsforscherin von einem Bürgermeister angerufen worden. Der hatte erzählt, eine Kollegin habe am Abend vorher einen Wolf gesehen. In ihrem Garten. Also fährt Gesa Kluth hin, in ihrem alten blauen Suzuki. Es ist so kalt, dass sie das Eis von der Innenseite der Frontscheibe abschaben muss. Es geht nach Nochten, einer kleinen Siedlung am Rande eines Tagebauloches, zu Erwin Ladusz. Der ist Rentner und wartet schon. Sein kleines Haus am Ende der Siedlung war einmal Teil eines Bauernhofes. Erwin Ladusz ist kaum zu erkennen: Er trägt eine Mütze mit Ohrenlappen, tief runtergezogen. "Ja", sagt er, sein Atem dampft. "Meine Schwiegertochter hat den Wolf gesehen. Sie war eine rauchen." Er steht hinter seinem Haus, drei Meter entfernt, und deutet in den Schnee. "Das sieht sehr vielversprechend aus", sagt Gesa Kluth.

Sie weiß sehr viel über Wölfe. Vielleicht gibt es niemanden in Deutschland, der sich besser auskennt als sie. Sie hat Wölfe studiert, in den USA und im Baltikum, zwei Winter lang, sie hat ihre Diplomarbeit in Biologie über Wölfe geschrieben. "Wölfe", sagt sie, "sind am allerspannendsten." Sie mag die Tiere, sie respektiert sie und ärgert sich über Hysteriker und Panikmache in Boulevardblättern.



Die Spuren in Erwin Ladusz' Garten stammen von einem Wolf. "Eindeutig", sagt Gesa Kluth. Sie hat schon hunderte Wolfsspuren gesehen, vermessen und fotografiert. Sie ist ihnen oft nachgelaufen so weit es ging. In Ladusz' Garten, das steht fest, war am Abend zuvor gegen 21.30 Uhr ein Wolf. Er war aus dem kleinen Wald hinter dem Haus gekommen, über den verschneiten Rasen zum Haus gelaufen, hatte dort die rauchende Schwiegertochter Marina gesehen, sie ein bisschen erschreckt und war hastig verschwunden.

Schwiegervater Erwin regt der Besuch nicht auf: "Die tun nichts", sagt er.

Aber warum war er dort? Was wollte er da? Gesa Kluth ist für solche Fragen gerüstet. Sie hat alles bei sich. In einem Rucksack trägt sie ein Bündel Karten von Ostsachsen. Sehr genaue Karten, in denen jeder Feldweg eingezeichnet ist. Sie hat eine Kamera, ein Klemmbrett für Notizen und ein Maßband, mit dem sie die Pfotenabdrücke untersucht. Sieben bis acht Zentimeter Durchmesser, ungefähr. Kein ganz großer, aber auch kein kleiner Wolf. Keiner der alten Wölfe, die vor Jahren einwanderten. Vielleicht interessierte er sich für den Hausmüll, vielleicht für den Nachbarshund, vielleicht für die Tiere, die sich im Dickicht hinter der Straße verstecken. Sie stapft durch das Unterholz. Die Spuren des Wolfes verlieren sich in einem Spurensalat: Füchse liefen hier, Marder, Rehe und Hasen.

Niemand weiß genau, wann die ersten Wölfe in Ostsachsen auftauchten. Irgendwann waren sie einfach da und mussten entdeckt werden. Jäger fanden 1994 erstmals Spuren. Danach gab es immer wieder Hinweise: Spuren, Kadaver von gerissenen Rehen, Kothaufen und nachts das Heulen. Aber niemand sah sie. Niemand wusste, ob es ein Einzelgänger war oder mehrere. Einzelne Tiere kommen gelegentlich aus Polen, wo es noch über 500 Wölfe gibt. Wölfe zieht es nach Westen, sie schwimmen durch die Neiße und dann irren sie wochenlang in Brandenburg, Mecklenburg-Vorpommern oder Sachsen herum, bis sie überfahren oder einfach nie mehr gesehen werden. Bis zum Sommer 2000 wusste man nicht, woran man war. Dann sahen Jäger sechs Wölfe. Ein Rudel mit Jungen. Ein Wolf und eine Wölfin, eingewandert aus Polen, hatten sich auf dem Truppenübungsplatz Muskauer Heide niedergelassen. Und weil es dort kaum Menschen, aber viel jagdbares Wild gibt und sie das gelegentliche Übungsschießen von Hubschraubern und Panzern nicht stört, sind sie geblieben. 150 Jahre, nachdem in Deutschland die systematische Ausrottung der Wölfe den Höhepunkt erreichte und 1904 mit dem Abschuss des letzten Wolfes bei Hoyerswerda endete, waren sie wieder da.

Gegen Mittag fährt Gesa Kluth nach Reichwalde, einem Dorf südlich des Truppenübungsplatzes, umgeben von aufgeforsteten Tagebauschluchten und Hügeln wie dem Jungfernberg und den Rabenbergen. Ein Jagdpächter rief an. Er hatte zwei Wolfsspuren gesehen. Gesa Kluth ist sehr zufrieden. "Wolfsspuren. Ein größerer und ein kleinerer." Aber alte Spuren. Die Tiere zogen einen Tag zuvor vorbei.
Jetzt beginnt, was sie Feldarbeit nennt. Oder: eine Spur ausgehen. Sie will wissen, woher die Wölfe kamen, wohin sie gingen. Am besten noch, was sie unterwegs machten. Sie geht los: dicker Anorak, eine abgewetzte Jeans, Wanderschuhe, eine Mütze auf dem Kopf, ein Tuch gegen die Kälte vor dem Mund. Es wird eine vierstündige Wanderung.

Sie geht zügig, folgt den Spuren über die langen Wege zwischen den Aufforstungen: Robinien, Kiefern, Eichen, mal hüfthoch, mal höher, soweit das Auge reicht. Neues Leben, neue Wälder für die Mondlandschaften, die der Braunkohleabbau hinterließ. Hier leben die Wölfe, hier jagen sie, in einem menschenarmen Stück Deutschland, 400 Quadratkilometer groß.

Wölfe laufen die Wege entlang, weil das bequemer ist. Sie laufen geschnürt, immer die Hinterpfoten in die Vorderpfoten setzend. Ganz akkurat, anders als Hunde. "Das unterscheidet sie", sagt Gesa Kluth. Manchmal laufen sie in den Reifenspuren von Autos, weil das noch bequemer ist. Oder so hintereinander, dass es aussieht, als sei hier nur ein Wolf gewesen. Manchmal gesellt sich eine Fuchsspur dazu: Füchse sind schlau. Sie laufen den Wölfen nach. Vielleicht fällt etwas ab von der großen Beute.

Ende April vergangenen Jahres passierte, was sie den "Super-Gau" nennt. Drei Wölfe waren über eine Schafherde bei Mühlrose hergefallen. 250 Schafe. Am Ende fehlten 33. 18 waren tot, gerissen von den Wölfen. Der Rest war verschwunden. Ein Gemetzel im Morgengrauen. Gesa Kluth fuhr hin und redete mit dem Schäfer. Er bekam den Verlust vom Land Sachsen ersetzt. Er baute einen höheren Weidezaun und zog oben einen Stromdraht ein. "Das schreckt Wölfe ab", sagt Gesa Kluth. "Wölfe sind misstrauisch." Sie sagt, solche Angriffe könnten immer wieder passieren. Die Weidefläche liege auf der Wolfsroute. Der Schäfer wisse das auch.

Im Juni fand ein Briefträger vier tote Schafe auf einem Hof in Weißenberg. Wieder hieß es: die Wölfe. Wieder fuhr Gesa Kluth als Gutachterin des Umweltministeriums hin. Diesmal waren es aber Hunde, zwei Doggen aus dem Nachbardorf. "Man erkennt es am Biss", sagt sie. Hunde beißen zu, zerren, reißen und schütteln. Wölfe schnappen das Opfer am Hals, an der Kehle. Das reicht. "Sie töten effektiver."

Eine Stunde ist sie jetzt gegangen. Immer den Spuren nach. Der Himmel ist strahlend blau, der Schnee klirrt wie zerstoßenes Glas. Kein Mensch weit und breit, das Land sieht vergessen aus. Ab und zu macht sie Fotos von schnurgeraden Spuren und blickt in ihre Karten. Meist folgten die Wölfe den Wegen. Sie gingen um einen Hügel herum, checkten ein Gebüsch, folgten kurz einer Bahnstrecke, kletterten ab und zu auf die hohe Kante des Tagebaus, so als wollten sie nachsehen, was der große Bagger macht, dessen fernes Brummen das einzige Geräusch ist, unendlich weit unten in der Schlucht.

Wölfe sind neugierig, und Gesa Kluth gefällt das. Sie liebt es, den Spuren nachzulaufen. "Ich renne ihnen hinterher und sie bleiben mir immer voraus. Man holt sie nie ein. Und am Ende bleiben mehr Fragen als Antworten übrig."

Sie hat sich schon immer für Wölfe interessiert. Seit Kindesbeinen, seit sie ein Buch las über Wölfe. Gesa Kluth ist bei Göttingen groß geworden, hat in Bremen Biologie studiert und dann großes Glück gehabt. Riesenglück, man kann es nicht anders sagen. Wölfe interessierten sie -- aber es gab keine in Deutschland. Nur die seltenen Einwanderer oder Ausreißer aus Zoos. Sie hätte nach Portugal gehen müssen, oder nach Norditalien oder Spanien. Oder nach Finnland oder Schweden. Dort gibt es noch Wölfe, in Italien noch über 500, in Portugal 200. Aber dann, 1989, fiel die Mauer in Deutschland. Und ein paar Jahre später zog sie in den Osten, nach Brandenburg, und suchte Wölfe. In der alten Bundesrepublik gab es keine Wölfe. Auch sie schafften es nicht über den Todesstreifen.

Jetzt lebt sie in der Lausitz, hat sich eingerichtet in einem kargen Lehrlingswohnheim eines Milchviehbetriebes am Rande von Klein-Düben, einem Nest im Wolfsland. Es hat sich alles richtig gefügt in ihrem Leben: Sie hat die Wölfe studiert, sie hat Spuren lesen gelernt. Sie hat 1997 ihr Diplom gemacht. Über Wölfe in Estland. Sie war Wolfsexpertin, aber ohne Wölfe. Sie war bereit. Und dann ist ein ganzes Rudel aufgetaucht, vor ihrer Nase, aus dem Nichts, wie für sie geschaffen.

Seit bald drei Stunden läuft sie den Spuren nach, immer noch eilig, ab und zu einen Blick in die Karte werfend. An einer Wiese hält sie. Dort ist der Schnee an einigen Stellen weggekratzt, stumpfes braunes Gras schimmert durch. Hier lagerten Rehe. Die Wölfe haben sie nicht aufgescheucht. Sie kamen zu spät, verraten die Spuren.

Sie hat keine Angst vor Wölfen. "Muss man auch nicht", sagt sie. "Nur wenn man allein im Wald ist und ein rotes Käppchen trägt." Ein alter Wolfsforscherwitz. Wölfe seien scheu, sie fürchteten die Menschen. Sie gingen ihnen aus dem Weg. Die Märchen seien schuld, die hätten eine Urangst geschaffen. Es sei doch verrückt: Da lebten Leute in einem Dorf zwischen 35 Kampfhunden. Und das kratze keinen. Aber bei einem Wolf spielten alle verrückt. Sie meint: "Man soll die Wölfe machen lassen." Das sagt sie auch all den Bürgermeistern und Landräten, die sie einladen. Zu Vorträgen und Aufklärungsabenden.

Acht Wölfe sind es jetzt vermutlich. Möglicherweise aber auch schon elf. Wenn sie sich weiter vermehren, wird sich ihr Gebiet vergrößern. Einige werden weiterwandern nach Westen. Wenn sie sich vermehren. Sie hält auch für möglich, dass das Rudel wieder ausstirbt, wenn eines der Elterntiere umkommt und kein neuer Partner auftaucht.

Nach vier Stunden Spurenauslaufen geht die Sonne langsam unter. Es wird noch kälter. Die Nase verklebt beim Einatmen. Die Wolfsspuren verlieren sich in einem dichten Wald hinter einem Bach. Weiter geht es heute nicht. Zeit, nach Hause zu fahren.

Und warum ausgerechnet Wölfe? Warum diese Leidenschaft für Wölfe? "Wölfe werden nie langweilig", sagt Gesa Kluth.

Am nächsten Tag will sie erneut aufbrechen. Vielleicht ruft ja wieder jemand an, der Spuren gesehen hat. Wenn nicht, geht sie auf eigene Faust los. Durch den Schnee, der nicht ideal ist, ihr aber doch eine Menge über Wölfe erzählt.

<c> Frankfurter Rundschau 16.Januar 2003 www.fr-aktuell.de 

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zuletzt geändert: 24.08.03 19:02:25
 Reinhard Donath, Aurich