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Kunstmythos

Kunstmärchen kennen wir seit der Zeit der Romantik, als Literaten den typischen Stil des überlieferten Volksmärchens nachempfanden und literarisch verfeinerten; Kunst-Mythen will eigentlich vieles in der Fantasy sein, aber nur einer erreicht (immer noch) wirklich die Breite und den weiten Atem eines echten Mythos: Altmeister J.R.R. Tolkien.

Den "Herrn der Ringe" kennt inzwischen, auch und gerade wegen der aktuellen Verfilmung, jedes Kind. Doch dieses Buch, so monumental und umfassend es auch sein mag, ist nur eine Momentaufnahme vom Ende eines weitaus weiteren Mythenbogens. Durch den Romantext blitzen allenthalben Hinweise auf einen älteren Mythos, eine Vorgeschichte, die allen handelnden Personen bekannt ist und die die Grundlage ihrer Kultur bildet - und die Wurzeln des gegenwärtigen Konflikts, der in der Trilogie ausgefochten und zu Ende gebracht wird. Dieser Hintergrund erhält seine Stringenz, man möchte fast sagen, seine Realität, dadurch, dass er auf gewisse Weise wirklich existierte: schon Jahrzehnte vor dem "Herrn der Ringe" hatte Tolkien an seiner großen Mythologie gearbeitet, die in erster Linie der sprachgeschichtliche Hintergrund für seine erfundenen Elbensprachen sein sollte. Zuallererst und im tiefsten Herzen war er schließlich Linguistikprofessor. Diese Sammlung von Mythen, an denen Tolkien sein ganzes Leben lang gearbeitet hatte, wurde nach seinem Tod von seinem Sohn Christopher unter dem Titel "Das Silmarillion" herausgegeben.
Doch nicht nur für Leser oder gar eingefleischte Fans des "Herrn der Ringe" ist das Silmarillion interessant oder lesenswert; im Gegenteil, manche Liebhaber der Trilogie werden herb enttäuscht werden, denn das Buch macht sich nicht einmal die Mühe, als Roman daherzukommen. Es enthält nur sehr wenig wörtliche Rede, und auch durchgängige Hauptpersonen wird man vermissen. Wenn man denn so etwas braucht: in den Schöpfungs- und Geschichtsmythen realer Völker ist dergleichen auch nicht vonnöten. Nein, dies ist eine komplette Kosmogonie, angefangen von der Erschaffung der Welt aus dem Geiste der Musik bis hin zu einem als subjektive Gegenwart empfundenen "historischen" Punkt auf der Zeitlinie (gut hundert Jahre nach dem Ende des "Herrn der Ringe"). Auf dieser gewaltigen Leinwand entfaltet sich ein unglaublicher Reichtum von Metaphern, Archetypen und Jahrtausende umfassenden Erzähllinien mit einer Leitmotivik, die sich im Verhältnis von Gut und Böse, von Mensch (bzw. Elb) und Welt, von Liebe und Tod, von Freundschaft und Auflehnung bewegt. Über den Inhalt kann man allerdings nicht viel sagen, ohne gleich das ganze Buch unter Weglassung der eigentlichen Aussagen nachzuerzählen oder sich auf Ausschnitte zu konzentrieren, die einem anderen Leser völlig unwesentlich vorkommen würden.
Für die Rezensentin mit ihrem bekannten Hang zu stilvollen Schurken steht und fällt der Erzählungsbogen mit dem prometheischen, tragischen Anti-Helden Feanor, dessen Auflehnung gegen das Pantheon jener Welt eine schicksalhafte Verkettung für blutige Jahrhunderte eines mythischen Kriegs gegen das Böse heraufbeschwört, an dessen Ende selbst auf der Seite der "Guten" niemand mehr ganz schuldlos dasteht. Andere jedoch würden den Kern der Erzählung sicherlich mehr in der Geschichte von Luthien und Beren suchen wollen, den archetypisch unglücklichen Liebenden, die gegen alle Mächte der Welt zusammenfinden - und mit genau so viel Fug und Recht behaupten, dass Feanor und seine Silmaril nur eine Vorgeschichte sind, die den beiden ein würdiges Objekt für ihre Suche und einen Hintergrund für ihre Leiden bietet.
Ein besonders faszinierender Aspekt bei diesem erfundenen Mythos ist allerdings, dass die gesamte Geschichte nicht aus der Perspektive von Menschen, sondern aus der der unsterblichen Elben erzählt wird. Wir Menschen sind in diesem Mythos die "anderen", diejenigen, die man nicht so recht verstehen kann. Während der epische Blick der Elben die Jahrhunderte locker im Griff hat und mit tiefer Selbstverständlichkeit davon ausgeht, dass man nach ein paar hundert Jahren immer noch die gleichen Leute antrifft, dass man seinen Feind fast tausend Jahre lang belagert, wenn man es ernst meint, und dass es nichts ausmacht, wie viel älter oder jünger als man selbst eine Person ist, sobald sie die notwendigen ersten paar Jahrhunderte der Reife auf dem Buckel hat, sind die kurzlebigen Menschen, intensiv und bewusst wie die Elben selbst, doch so viel schneller wieder vorbei, für sie eine Quelle düsterer Faszination. In der Andersartigkeit der Elben sehen wir ganz realen Menschen uns auf eine neue und fremdartige Weise gespiegelt, die unseren eigenen Selbstverständlichkeiten eine neue Perspektive gibt - immer eine empfehlenswerte Eigenschaft bei einem Buch.
Die einzige unaufgelöste philosophische Schwierigkeit, die für einen modernen Leser in Tolkiens Welt übrigbleiben muss, ist die Rolle der Orks: anders als andere Geschöpfe des Bösen, die selbst gewählt haben, böse zu sein, werden sie von Morgoth, dem ersten Herrn der Finsternis (der Böse im "Herrn der Ringe", Sauron, ist ursprünglich lediglich dessen Vasall) aus Elben und Menschen gezüchtet, um in wilden Horden zu töten - und, als Konsequenz aus dem unvermeidlichen Sieg des Guten, in wilden Horden ohne die geringste Reue getötet zu werden. Selbst Morgoth war nicht ursprünglich böse, und nicht alles, was er vom Anfang der Welt an verursacht hat, ist nur zerstörerisch - sein Element sind die Extreme, erfahren wir zu Anfang des Silmarillion, Hitze und Kälte sind sein Werk, und der Allvater hat ihn die Welt gelassen, da auch die Schneeflocke und das Kaminfeuer Teil der Arbeit sind, die er bei der Erschaffung der Welt zu leisten hatte. Das Böse hat seinen Platz in der Schöpfung (deren umfassendes Verständnis die Fähigkeiten jedes erschaffenen Bewusstseins übersteigt), und weder Gut noch Böse sind je absolut - davon ist Tolkien tief in seiner katholischen Seele überzeugt. Allein für die armen Orks gibt es in seinen Augen jedoch überhaupt keine Rettung. Wenn auch ihre Kultur plump und grausam sein mag, so gibt es doch für das heutige Empfinden keinerlei legitime Begründung dafür, dass eine Kultur oder Spezies von einzeln unschuldigen, bewussten Individuen für ihr bloßes So-Sein mit Stumpf und Stil ausgerottet werden muss. In einer aktuellen Analogie (für die sich die Rezensentin heftig entschuldigt, denn Tolkien hasste alle Analogien wie die Pest) könnte man genauso behaupten, dass man alle Talibane töten oder ohne Gerichtsverfahren für den Rest ihres Lebens einsperren dürfe, weil sie als Individuen nicht mehr zu retten seien, was auch immer ihre persönliche Vorgeschichte sei. Nein, an diesem Punkt ist Tolkien, trotz seiner Betonung des Leitmotivs von Gut und Böse doch ein erstaunlicher Meister der Graustufen, leider die letzte Auflösung nicht gelungen: bei allem kulturellen Miteinader, bei aller Wertschätzung von Verschiedenheit zwischen Elben, Menschen, Zwergen, Hobbits (und Ents, die sich aber meistenteils heraushalten) haftet der Charakterisierung der Orks ein letzter Hauch des Rassismus an, den man als Widerspruch zu aller philosophischen, ja fast religiösen, Untermauerung des Buchs einfach stehen lassen muss, um eine Runde darüber nachzudenken und letztlich die eigenen Werte daran zu messen.
Reine Fantasy zum einfachen Konsum ist dieses Buch also ganz definitiv nicht: wer ein Buch sucht, um ein kaltes Wochenende angenehm zu verbringen, sollte tunlichst die Finger davon lassen. Hier gibt es keine "normale" Unterhaltung, sondern Kosmogonie, Philosophie, Unmengen fremdartiger Namen und eine altertümliche, abgehobene, fast raunende Sprache, die im englischen Original (trotz der ungewöhnlich hervorragenden deutschen Übersetzungen, die der Verlag Klett-Cotta für alle seine ursprünglich fremdsprachigen Werke in Auftrag zu geben pflegt) noch eine Spur altertümlicher, getragener und gewachsener klingt als das irgendeine Übersetzung je darstellen kann. Fast möchte man das Silmarillion kapitelweise über einen längeren Zeitraum laut vorlesen, statt es in kurzer Zeit still zu lesen, wie das bei modernen Romanen üblich ist, so anders ist dieses Buch, so altertümlich die Sprache und der Duktus, so zeitlos die Erzählung und die Botschaft. Nicht mit irgendeinem Roman, sondern höchstens mit Ossian oder Kalevala (beide bekanntlich selbst nur semi-echt) muss sich dieses eigenartige, schwer verdauliche, faszinierende Werk messen lassen.


John Ronald Reuel Tolkien/Christopher Tolkien
Das Silmarillion
Broschiert, 390 S., (2001) Klett-Cotta
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The Silmarillion
Taschenbuch, 439 S., (1992) Harper-Collins
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