Auserwählte Kinder

Der tibetische Buddhismus ist hochabstrakt in seinem Denken, zutiefst persönlich in seiner Praxis und fasziniert nicht nur durch seine Inhalte, sonder auch durch die Riten und die Persönlichkeiten, die diese Inhalte tragen. Einer der interessantesten wie befremdlichsten Aspekte sind die Tulkus, die "lebenden Buddhas" oder vielmehr Inkarnationen numinoser buddhistischer Wesenheiten, die von einem irdischen Leben zum nächsten ihr religiöses Amt weiterreichen und nach ihrem jeweiligen Tod als Wiedergeburt durch ihre Gefolgsleute gesucht und in jungen Kindern wiedergefunden werden. Von "Persönlichkeiten" im westlichen Sinn kann hier kaum noch die Rede sein; wer sich mit diesen Inkarnationen beschäftigt, erlebt eine Auffassung von Identität und Selbst, die der unseren diametral entgegengesetzt ist.

Der Karmapa ist die höchste Inkarnation der Kagyü-Schule des tibetischen Buddhismus, ohne die (ehemals) weltliche Macht des Dalai Lama, aber auf geistlichem Gebiet ebenso einflußreich. Vor kurzem geriet er durch seine Flucht aus Tibet nach Indien in die Schlagzeilen - dabei war er schon längst ins Exil gegangen und 1981 ausgerechnet in Chicago gestorben. Der junge 17. Karmapa wiederholte nun die Flucht seines Vorgängers. Von der Suche nach der Reinkarnation des 16. Karmapa in den späten 80er und frühen 90er Jahre handelt der Dokumentarfilm "Living Buddha" von Clemens Kuby.
Fiktiv, meditativ und bildgewaltig kommt dagegen "Kundun" daher, die ruhige, authentische und unprätentiöse Filmbiographie des Dalai Lama. Komplett mit exiltibetischen Laienschauspielern (in einigen Fällen direkte Verwandte der dargestellten Personen, in einem Falls selbst ein leibhaftiger Tulku, wiewohl niederen Ranges) drehte Star-Regisseur Martin Scorsese eine filmische Meditation über die Seele des Buddhismus und das Wesen und Leiden Tibets; trotz der unverholen dargestellten Gewalt der chinesischen Besatzer ein zutiefst ruhiger und besinnlicher Film, der eine völlige Abkehr von Scorseses üblichen Sujets darstellt. Er verzichtet völlig auf irgendwelche westliche Identifkationsfiguren und läßt uns allein mit dem buddhistischen Identitätsbegriff, der so völlig verschieden ist vom westlichen Ego. Die Filmmusik von Philip Glass unterstreicht den meditativen Charakter und verhilft uns zu einer inneren Erfahrung Tibets.

Demjenigen, der uns speziell im deutschsprachigen Raum Tibet nahegebracht hat, wurde dagegen mit einer unerträglich psychologisierenden Verfilmung seines Reiseberichts Unrecht getan: Heinrich Harrer. Sein agnostischer, fortschrittsgläubiger westlicher Blick war für viele von uns die erste Perspektive auf das Land, wenn wir in der Jugend seinen Reisebericht "Sieben Jahre in Tibet" gelesen haben. Doch er hielt sich in der Hauptsache zurück, erzählte Geschehnisse und Beobachtungen, wie er sie wahrnahm, aber sprach nicht von sich. Die handelnde Person "Heinrich Harrer" mußte der Regisseur Jean-Jacques Annaud für das Drehbuch erfinden, und diese Erfindung übernimmt die Geschichte: der ganze Film ist nur ein Ego-Trip vor exotische Kulisse. Ganz abgesehen davon, daß Brad Pitt als "Heinrich Harrer" auch noch eine blatante Fehlbesetzung ist. Empfehlung: nicht anschauen, lieber das Original lesen!


Kundun
Regie: Martin Scorsese
Musik: Philip Glass
DVD, Regionalcode 2, deutsche und englische Fassung
Dolby Surround, 133 min.
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Kundun
Regie: Martin Scorsese
Musik: Philip Glass
VHS-Video, deutsche Synchronfassung
Dolby Surround, 128 min.
ASIN B00004RWIA
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Mary Craig
Kundun - Der Dalai Lama und seine Familie
Die Biographie
ISBN 3785709277
DM 44,00
Gebunden, 478 Seiten (1998), Lübbe
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Clemens Kuby/Ulli Olivedi
Living Buddha - Die siebzehnte Wiedergeburt des Karmapa in Tibet
Das Buch zur Kino-Dokumentation
ISBN 3442424909
DM 24,90
Taschenbuch, 249 Seiten (1994), Goldmann
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Living Buddha
Soundtrack
Audio-CD, erschienen bei Virgin/EMI
ASIN B000025FZF
DM 31,99
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Heinrich Harrer
Sieben Jahre in Tibet
Mein Leben am Hofe des Dalai Lama
ISBN 3548357539
DM 16,90
Taschenbuch, 447 Seiten (1997), Ullstein
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Heinrich Harrer
Wiedersehen mit Tibet
ISBN 3548356664
DM 14,90
Taschenbuch, 239 Seiten (1997), Ullstein
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