Landessynode 2006
Hauptvortrag Kirchenmusik
Pressemitteilung T 13 - Es gilt das gesprochene Wort!Rektor der Hochschule für Kirchenmusik in Tübingen
anlässlich der Landessynode der Evangelischen Kirche im Rheinland am Dienstag, 10. Januar 2006
Kirchenmusik im Jahre des Herrn 2099
Seit im Jahre 2037 die einzelnen Kirchenkreise und Landeskirchen zugunsten einer ausschließlich zentral angelegten Struktur mit Sitz in Hannover (Evangelische Kirche von Deutschland) aufgelöst wurden, hat sich der Prozess der Auflösung der Gruppen, Kreise und besonders der Chöre einer jeden Kirchengemeinde beschleunigt. Was sich Anfang des 21.Jahrhunderts mit den Stichworten „Überalterung" und „normative Kraft der Medienindustrie" abzeichnete, ist längst Realität geworden. Konzertante Kirchenmusik findet schon seit Jahren nicht mehr statt, weil man ja zu jedem Zeitpunkt an jedem Ort - auch unabhängig von konkreten Anlässen oder dem früher sinnstiftenden „Kirchenjahr" (siehe Brockhaus-CD-ROM, 35.Auflage) - jegliche Musik herunterladen, hören und auch wieder stoppen kann. Mittlerweile ist es durch einfache Bedienelemente möglich, die innere Struktur von Musik interaktiv zu verändern und je nach Stimmungslage für sich individuell zu arrangieren. In der Visualisierung der Musik sind die einzelnen gewünschten Kamerapositionen wählbar und somit ein individueller Blickwinkel möglich.
Gottesdienstliche Kirchenmusik findet ebenfalls seit Jahren nur noch in technikfeindlichen Kleinstkirchen statt. Dies liegt daran, dass seit den Pfarrereinsparungsgesetzen von 2049 und den Gottesdienstreformprogrammen von 2055 keine Gottesdienste im herkömmlichen Sinne mehr gefeiert werden. Nach 2055 versammelten sich die Gemeindeglieder jeweils am Sonntagvormittag zwischen 9 und 11 Uhr vor ihren Bildschirmen in ihren normierten Wohnungen und Häusern, um die zentral aus Hannover gesendeten Gottesdienst-Programme zu empfangen, die dank der von der Elektronikindustrie entwickelten Stimm-Modulatoren auch auf die noch immer in Deutschland anzutreffenden regionalen Spracheigenheiten in den Predigten und Gebeten eingehen konnten. Weitere Interaktionsmöglichkeiten waren z. B. die Wahl zwischen verschiedenen Predigtstilen von evangelistisch über den bildungsbürgerlich-akademischen bis zum meditativ-seelsorgerlichen Typus. Die Klangqualität der gesendeten Kirchenmusik und hier besonders der altehrwürdigen Choräle und der Alten Geistlichen Lieder (die einmal im letzten Drittel des 20. Jahrhunderts NGL, Neue Geistliche Lieder, hießen) war so hervorragend und animierend, dass man sich in seiner eigenen Wohnung mit der simulierten Kathedralakustik bestens angeregt fühlte, hier mitzusingen. Auch hier reichte die Auswahl von der Gregorianik bis zum geistlichen Volkslied des 21. Jahrhunderts. Das Problem des gemeinsamen Abendmahls hatte sich aufgrund der Epidemien Anfang der 2040er Jahre zugespitzt, so dass sich die von der chemischen Lebensmittelindustrie entwickelte Oblatentablette mit integriertem Weinersatzstoff als Lösung anbot, die nun nach Aufforderung vor den Bildschirmen gemeinsam eingenommen wird. Zwischen 2049 und 2055 hatte es wiederholt Versuche, wie schon einmal gegen Ende des 20. Jahrhunderts, gegeben, die Kirchengebäude mittels Gottesdienstübertragungen auf Großleinwände zu füllen. Diese Versuche scheiterten an organisatorischen Problemen (u. a. standen zu wenige Gebäude zur Verfügung, nachdem ein Großteil der unrentabel gewordenen Kirchengebäude verkauft und kommerzialisiert worden waren) und scheiterte an inhaltlichen Problemen: Nachdem die Menschen fast ihr gesamtes Leben, begonnen beim elektronischen Babysitter über die interaktive Bildschirm-Schule bis hin dann zu den bequemen weltweiten elektronischen Shopping-Möglichkeiten in ihren normierten Wohnungen und Häusern verbrachten, war die Angst vor größeren Menschenansammlungen weit verbreitet. Die Kontaktfähigkeit der Menschen war weitgehend verloren gegangen. Dieser Verlust ging zudem mit mancherlei Sprachstörungen einher. Heute (2099) kann man, nachdem der Sonntag längst abgeschafft ist, die von Hannover aus zentral ins Internet gestellten Texte und Predigten, die Musik und Gottesdienste individuell abrufen. Jeder kann zu jedem Zeitpunkt jegliche Art von Gottesdienst und Kirchenmusik auf seinem Bildschirm empfangen und in seiner gewohnten Umgebung bestens erleben: seien es Übertragungen von Andachten der Mondkolonie oder Erlebnisgottesdienste für bestimmte Seelenzustände oder gar Nostalgiegottesdienste, entweder neu inszeniert oder in Video-Kopie vom Beginn dieses Jahrhunderts. Und genauso breit erlebbar ist eine individuell auswählbare Kirchenmusik, für deren Auswahl stimmungsabhängige Suchmaschinen entwickelt wurden, die ...
STOP!!! Welch ein Unsinn, welch ein Non-Sense! Im Jahre des Herrn 2099 (so Gott will und die Menschheit noch lebt!) wird es ein blühendes gottesdienstliches und kirchenmusikalisches Leben geben. Nach der Allverfügbarkeit von Musik und der musikalischen Umweltverschmutzung durch Dauerberieselung in Kaufhäusern, Arztpraxen und Telefonanlagen zu Beginn des 21. Jahrhunderts setzte sich 2016, ausgehend von kleinen Kreisen und dann auf weiteste Teile der Bevölkerung übergehend, die Erkenntnis durch, dass Musik und Gottesdienst eine zu große Kostbarkeit darstellen, um sie den Elektronik- und Medienkonzernen zu überlassen. Man wurde sich wieder der vielfältigen und komplexen Kommunikationsprozesse bewusst, die sich bei „live" und „self-made" musizierter und gehörter Musik ereignen, und des hohen Wertes an sich, den diese darstellen. Wieder rückte die große pädagogische Wirkung und heilende Kraft der je selbst gesungenen oder je selbst gespielten Musik ins Bewusstsein der Menschen. Gottesdienste und die in ihnen erklingende Musik von einfachen Gesängen bis hin zu komplexen Meisterwerken wurden als Pretiosen schätzen gelernt, als Orte, an denen man sich der Fremdbestimmung durch die alles Leben bis dato durchdringende Elektronikindustrie entziehen und sich wehren konnte. Auch lernte man wieder Gottesdienste und das Musik-Machen und Musik-Hören als Zeit-Räume ohne Stress schätzen. Bis dahin war die Macht derjenigen Maschinen ständig gestiegen, deren Hersteller durch geschickte Werbung den Menschen suggerierten, mittels dieser Maschinen könne man Zeit sparen. In Wirklichkeit aber wurde Zeit knapper und Leistung so verdichtet, dass immer mehr Menschen, bis zur Besinnungslosigkeit arbeitend, seelisch krank wurden. Der nach 2016 einsetzende Bewusstseinswandel fand seine Ausdrucksmöglichkeiten u. a. besonders im gemeinsamen Feiern von mehrstündigen Gottesdiensten und in zahlreichen Gruppen, in denen gemeinsam musiziert wird. Mittlerweile gibt es in jeder noch so kleinen Kirchengemeinde leistungsfähige Kinderchöre und Kantoreien. Es vergeht kein Gottesdienst, der nicht von Instrumentalisten und Vokalisten mitgestaltet wird und in dem sich Menschen stets aufs neue der guten Gottesgabe Musik bewusst werden sowie sich im Hören und Selbermusizieren mit eigener Stimme und/oder Instrument ihres (Er-)Lebens freuen.
Soweit die allfällige Glosse!Kirchenmusik ist also ein „Lebensmittel“
Kirchenmusik, ein Lebensmittel, ein Mittel zum Leben? Oder war Kirchenmusik einst ein Lebensmittel, dessen Haltbarkeitsdatum heutzutage längst abgelaufen ist? Welche Chance hat Kirchenmusik im Abseits, in dem Gottesdienst heute zu stehen scheint, und im Leben einer Gemeinde? Braucht man im Zeitalter der ständigen Verfügbarkeit und Wiederholbarkeit von Musik überhaupt noch Kirchenmusik, wie ich zuvor im Horrorszenario ausgeführt habe, wobei ich meine hoffnungsvolle Vision für 2016 ebenso entfaltet habe? Es stellt sich die Frage, was Kirchenmusik ist: Ist Kirchenmusik „Musik für die Kirche“ (als Beschreibung einer Funktion von Musik), oder „Musik in der Kirche“ (als Beschreibung des Ortes ihres Erklingens) oder gar „Musik der Kirche“ (als Beschreibung der Machtrepräsentanz von Kirche, auch im Sinne von dem, was Kirche sich leisten kann)? Womöglich wäre es richtiger, in den Definitionsversuchen statt „Kirche“ besser „Gottesdienst“ oder „Gemeinde“ zu setzen. Vielleicht aber ist das Wort auf seiner zweiten Hälfte zu betonen: Kirchenmusik:
Musik ist „tönend bewegte Form in der Zeit“ (Eduard Hanslick), die flüchtigste aller Künste, nicht festzuhalten oder gar zu betrachten wie andere Kunst. Musik ist akustisches Material (einschließlich des Schweigens) verbunden mit einer leitenden Idee, oder wie Victor Hugo sagte: „Musik ist das Geräusch, das denkt“
Zur Liturgiefähigkeit von Musik
Grundsätzlich gibt es keine „himmlischen“ Töne oder „teuflische“ Rhythmen. Das einzige Kriterium für eine Liturgiefähigkeit von Musik ist Qualität. Aber eine Diskussion über künstlerische Qualität lässt sich „prinzipiell gar nicht erschöpfend führen, da ja durch einen festen Kriterienkatalog die Autonomie künstlerischen Schaffens zerstört würde“ (Andreas Marti).
Also dann: anything goes! Oder gibt es doch Zeichen des Erkennens musikalischer Qualität?/
Zum Beispiel: Führt die Musik den Hörer hinaus aus eingefahrenen Hör- und Gefühls-gewohnheiten? Wie geht Musik mit dem Hörer um? Betrachtet die Musik den Hörer als Person oder als Konsumenten? „Musik ist immer so schlecht, wie sie das menschliche Gehirn unterfordert“ (Steffen Reiche, Bildungsminister in Brandenburg)
Zur Liturgiefähigkeit gehört neben der Qualität auch das Eingehen auf theologische Konzepte. Pfarrer Bernhard Leube, Dozent an der Hochschule für Kirchenmusik Tübingen, führte in einem Vortrag 1998 aus: „Nicht oft genug kann man Luthers Gottesdienstdefinition wiederholen, die er bei der Einweihung der Torgauer Schlosskapelle am 5.10.1544 in der Predigt gab, das neue Haus nämlich solle dahin ausgerichtet werden, ,dass nichts anderes darin geschehe, denn dass unser lieber Herr selbst mit uns rede durch sein heiliges Wort, und wir wiederum mit ihm reden durch Gebet und Lobgesang‘. Die wichtigste Frage für einen Gottesdienst und mithin für seine Musik ist demnach nicht, ob’s „gut ankommt“..., sondern ob diese grundlegend dialogische Struktur ihre angemessene Darstellung findet.“
Im Gottesdienstbuch der Württembergischen Landeskirche von 2004 heißt es: „Im Singen betet die Gemeinde, sie dankt und lobpreist Gott, sie klagt ihm und bittet. Darin drückt Gemeinde sich selbst vor Gott aus und erfährt sich als solche. Die Menschen präsentieren sich selbst vor Gott im Gottesdienst, aber sie feiern sich nicht selbst. ... Situation und Erwartung der Gemeinde können aber nicht das einzige Kriterium für die Musik im Gottesdienst sein, denn im Singen geht die Gemeinde auch über sich und ihre Situation hinaus. In Singen und Musik wird auf besondere Weise ebenso die Zeit und Raum übersteigende unsichtbare Kirche erfahrbar, die im Gottesdienst präsent ist. Gottes Wort und auch die Musik sind situations-überlegen. Diese Präsenz der ganzen Kirche zeigt sich in der prinzipiellen Gleichzeitigkeit der Zeiten im Gottesdienst. ... Im Singen gibt die Gemeinde den ihr vorausgegangenen Vätern und Müttern ihre Stimme und präsentiert bzw. re-präsentiert sie.“ In der EKiR heißt es im alten Presbyterhandbuch: „Mit Kirchenmusik antwortet die Gemeinde auf Erfahrungen des Glaubens. Sie folgt damit der Tradition des Alten Bundes (Psalm 96) und dem Auftrag des NT (Kolosser 3,16)“, im neuen Handbuch: „Sie folgt damit der Tradition Israels und des Judentums“.
Zielgruppen der Kirchenmusik
Aber auch Kirchenmusik muss sich nach ihrer „Zielgruppe“ fragen lassen und sich darüber im Klaren sein, wie wenig Einfluss auf die musikalische Geschmacksbildung und Urteilsfähigkeit heute noch Familie, Schule und Kirche haben, und wie viel hier fremdbestimmt ist durch die fast omnipotente Musikindustrie (U+E) und die Gruppenzwänge der „peer-groups“. Das kann Kirche nicht einholen und sollte sie auch nicht wollen. Hat demnach Kirchenmusik Musikgeschmäcker zu bedienen?
- Kirchenmusik wäre sicher besser beraten, mehr Wert auf das Eigene, das der Gesellschaft vielleicht auch Fremdgewordene zu legen und dies zu pflegen und zu leben. „Wir sind den Menschen die Fremdheit des Evangeliums schuldig“ (Fulbert Steffensky). Dies gilt auch musikalisch!
- Kirchenmusik sollte sich durch ein eigenes Profil vor der Gefahr der Belanglosigkeit und Austauschbarkeit wappnen, denn sie scheint teilweise verkommen zum Zeichenhaften für eine bestimmte Situation. So wie man im Kaufhaus von Musik berieselt wird, wie es auf der Alm zu „jodeln“ hat, so „orgelt“ es eben in der Kirche: Kirchenmusik als religiöser Andachtsgenerator, als Geschmacksverstärker, dessen was Gemeinde zu hören gewohnt ist und deshalb wohl auch hören will. „Wenn ich der Gemeinde nur das gebe, was sie erwartet, gebe ich ihr weniger, als ich geben könnte“ (Gerd Zacher).
- Oder geht es gar nicht um Kunst als einer Welt-Anschauung, sondern eher um Kunsthandwerk? Oft spricht man ja von kirchenmusikalischer „Gebrauchsmusik“, gewissermaßen von Musik, die zum baldigen Verzehr bestimmt ist und deren Haltbarkeitsdatum bald abgelaufen ist.
- Da wäre Kirchenmusik doch besser beraten, ihre musikalische und interpretatorische Kompetenz vermehrt wieder zu entdecken ebenso wie die pädagogischen Fähigkeiten zur Vermittlung von Musik, angefangen von uns immer noch unbekannten sogenannten ,alten’ Chorälen, die ja gerade je nach theologischer Situation das „neue Lied“ sein können, über Gospels und Spirituals bis hin zu den Neuen Liedern, von der Heinrich-Schütz-Motette bis zum Musical „Jesus Christ“.
Kirchenmusik zwischen Kunst und Propaganda?
Im Nachwort zur ersten Veröffentlichung „Neue geistliche Lieder aus dem 1.Wettbewerb der Evangelischen Akademie Tutzing" von 1963 schrieb Günter Hegele: „Es soll niemand durch diese Lieder geködert werden, es noch einmal mit der Kirche zu versuchen. Es geht den Autoren darum, mit musikalischen Stilelementen ihrer Zeit christlichen Glauben auszudrücken. Sie meinen, dass das musikalische Material des Jazz und der heutigen Unterhaltungsmusik auch nicht schlechter sei als etwa das des 16.Jahrhunderts. ... Deshalb möchte das Liedblatt helfen, dass Erfahrungen gesammelt werden, um herauszufinden, wie es weiter gehen soll.“ Das scheint mir doch ein ehrenwerter und ehrlicher Ansatz gewesen zu sein, der allen Versuchen, Musik zu Propagandazwecken zu missbrauchen, eine Absage erteilt. Aber heute findet sich da und dort auch im kirchlichen Bereich manipulative Musik, Musik also, deren Produzent die Gefühle, die diese Musik auszulösen sucht, nicht teilt; Musik, die den Willen des Einzelnen in einer Gruppe ohne Kontrolle und Selbstreflexion aufgehen lässt, eben Propagandamusik; Musik als Mittel zu einem Zweck, der nicht in ihr selbst liegt. Aber: der Zweck heiligt nicht die Mittel! – Musik darf sich nie als Mittel zur Bekehrung, als Mittel zur Verführung oder Ekstase verstehen. Besinnungslosigkeit ist kein Mittel zum Leben! Das Hören auf die Gute Nachricht und auf Musik aber braucht Besinnung – und Verantwortung für sich selbst.
Andererseits Luthers Erkenntnis: Singen als Propaganda des Evangeliums. Singen predigt, je nach Text. „Die Noten machen den Text lebendig“, wie Luther in seinen Tischreden einmal äußerte (Tischreden Nr. 2545b). Kirchenmusik kann Verkündigung sein, einen Auftrag hierzu hat sie nicht. Die etwa 100 Bibelstellen, die vom Singen und Spielen reden, betonen mehr die vertikale, gottbezogene und nicht die horizontale Richtung des Singens in der Gemeinde.
Ich denke, in der Frage Kunst oder Nicht-Kunst, Alt oder Neu, E- oder U-Musik oder wie die allzu pauschalen Kategorisierungen auch heißen mögen, sollte man in der Kirchenmusik die Vielfalt der Stile und die je nach Situation angemessene Verschiedenartigkeit, sich musikalisch auszudrücken, tolerant zur Kenntnis nehmen. Nicht zu früh sollte man den Maßstab eines Ewigkeitsanspruchs oder Ewigkeitswertes anlegen oder einen bestimmten Stil sakrosankt setzen. Die Alternative heißt nicht „Bach oder Pop“, sondern, ob es sich um gute oder schlechte Musik handelt (s.o.). Das Überzeugende am Raum Kirche ist doch, dass Kirche kein Konsumtempel ist, dass hier die Gesetze des Marktes mit Profitgier und Gewinnsucht nicht gelten. Gottesdienst-Besucher (welch unpassendes Wort!) sind Beteiligte am gottesdienstlichen Geschehen und nicht passive Konsumenten. Neben dem „Priestertum aller Gläubigen“ (Martin Luther) gibt es auch ein „Kantorentum aller Gläubigen“ im Singen der Gemeinde. Kirchenmusik ist generationen- und zugleich milieuverbindend (Posaunenchor) und schrittweise generationen- und milieuverbindend (die aufeinander aufbauenden Chorgruppen, vom Kinder- über den Jugendchor bis hin zur Kantorei).
Aber wenn in (Landes)Synoden oder Kirchengemeinderäten, in Landeskirchenämtern oder Gemeinden von Jugendarbeit die Rede ist, ist allzu selten die Kirchenmusik im Blick mit all ihren vielen Kinder- und Jugendchören. Wenn von Erwachsenenbildung die Rede ist, ist sie allzu selten im Blick mit all ihren (Gesprächs-)Konzerten, Vorträgen und musikalisch-theologischen Einsichten. Wenn von Diakonie die Rede ist, ist gar nie die Kirchenmusik im Blick! Kirchenmusik scheint zu den Selbstverständlichkeiten zu gehören in einem eher unbedachten Umgang mit ihr – auch im Umfeld des Gottesdienstes.
Kirchenmusik als Sprachschule des Glaubens
Bereits die allwöchentliche Chorprobe erweist sich in ihrer (Halb-)Öffentlichkeit als Ort der Verkündigung, als Ort der Vergegenwärtigung biblischen Wissens und theologischer Erkenntnisse, was man in einer Zeit des Verlustes grundlegender Bildung nicht hoch genug schätzen kann. Bereits die Chorprobe erweist sich als Einblick in die Frömmigkeits- und Auslegungsgeschichte eines Textes durch die Musik sowie als Konkretisierung dieser Verbindung von Text und Musik mittels der zeitgenössischen, ins Heutige zielenden Interpretation. Mit allen Identifizierungen mit Musik und Text, bei allen Zweifeln an Text und Musik erweist sich bereits das gemeinsame Singen und Musizieren in der Chorprobe als gelebter Glaube, eine zielgerichtete Arbeit hin zu einem Laut-Werden der biblischen Botschaft, eben einer Verlautbarung der Frohen Nachricht. „Darum, solange wir noch Zeit haben, lasset uns Gutes tun an jedermann, allermeist aber an des Glaubens Genossen“ (Galater 6,10).
Das Singen und Musizieren hat verschiedene Richtungen: Soli Deo Gloria (auch wenn wir nicht sicher sein können, ob Gott uns überhaupt gerade hören und ertragen kann, vgl. Amos 5,23: „tut weg das Geplärr Eurer Lieder“), dann aber auch als Dienst an der und in der und für die Gemeinde und eben, nicht zuletzt: man singt und musiziert auch für sich selbst. Musik vermag zu erfreuen und zu trösten und der Verzweiflung oder Klage Ausdruck zu geben. Musik muntert auf, spornt an, beseelt und vermittelt ein Hochgefühl beim Singen, gerade wegen des In-Mir-Klingens beim eigenen Singen. Allein die Atemführung und die Klangwelten meines Körpers, die mitschwingenden Resonanzräume und Klangfarben beglücken den Singenden zunächst ein mal selber, so dass Singen sich immer mehr als eine Anleitung zum Glücklichsein, als Akt der Selbstbefriedigung und Eigenliebe, ja als Selbst-Therapie erweist: also als ein Akt der Liebestätigkeit an sich selbst, eben Diakonie und damit das Doppelgebot der Liebe in seinem zweiten Teil erfüllend. Die Gabe des Singens ist jedem gegeben, der über funktionierende Stimmbänder und ein steuerndes Gehör verfügt. Singen ist eine Grundäußerung des Menschen. Es scheint sogar so zu sein, als ob weit vor der Sprachfähigkeit primär die Fähigkeit zum Singen und noch früher die zum Hören angelegt ist. Für mich ist Sprache mit all ihren musikalischen Parametern (hoch/tief, schnell/langsam, einer Vielzahl von (Vokal)Farben und Lautstärken sogar „nur“ eine Sonderform der Musik, was Luther mit „davon ich sing’n und sagen will“ (EG 24,1) formuliert hat.
So viel Musik wie heute gab es noch nie! In diesem Zuviel an akustischen Reizen (Ohren kann man, außer mit den Händen, nicht verschließen) und angesichts der ständigen Verfügbarkeit vieler auf CD, DVD etc. konservierter Musik stellt sich die Frage, wo hat da Musik in der Kirche ihren Platz? Oder wäre Kirche und damit Kirchenmusik nicht sogar besser beraten, die Wiederentdeckung der Stille als Privileg und Aufgabe im Gottesdienst zu sehen? Hier sind die Gesetze von Angebot und Nachfrage außer Kraft und die ansonsten alles regierende (Einschalt-)Quote gilt nicht, oder?
Es gilt, bewusst zu machen, dass Musik kein Konsumgut, keine Berieselungsmaschine ist und Musik keine Klangtapete für unsere Gottesdienste. Musik in der Kirche versteht sich weder als Stimulans noch als Betäubungsmittel, sondern als Beitrag und Hilfe zum Mündigwerden der Gemeinde, um Hör-Horizonte zu öffnen, so dass sich Gemeinde mittels der Musik und der durch die Musik kommentierten und interpretierten Texte selbstbewusst und ihrer selbst bewusst wird.
Musik als Diakonie
Diakonie wird heute meist als Synonym für „Liebestätigkeit“ verwendet. Gemäß Markus 2,17 ist Diakonie Dienst am Nächsten im Namen und im Auftrag Jesu Christi. Diakonie ist eine Einübung in und Ausübung der Nächstenliebe, denn hinter allem Diakonischen steht das Doppelgebot der Liebe (Matthäus 22, 37-39). Die Not vieler Menschen schreit auch heute noch nach Hilfe, aber sind alle Nöte offensichtlich und offenkundig? Gibt es über die wieder wachsende materielle Not nicht vermehrt seelische Nöte und eine vermehrte Sprachunfähigkeit? Hier könnten Musik und Stille als Hilfe zur Klage, als Mittel beispielsweise Verzweiflung und Wut auszudrücken, in vielfältigen Formen, Stilen und Niveaus den Menschen wieder eine Sprache und Stimme geben – in ihrer erschütternden und erfreuenden, in ihrer tröstenden und bewegenden Kraft und Fähigkeit. Hier beizutragen zu aktiv hörendem Mitvollziehen und Mitleiden dessen, wovon Text und Musik sprechen, letztlich aber zu eigenem Tun anzuleiten im Befähigen zum Mündigwerden, das wären Ziele für eine „evangelische Stimmbildung“, bei der Kirchenmusik als Diakonie wirken würde. Dies reicht von einfachen Klang- und Rhythmuserfahrungen in der an Bedeutung gewinnenden Musiktherapie (vom Kindergarten bis hin zu Altersheimen) über die musikalische Früherziehung, über die Bandarbeit und das Musizieren im Posaunenchor und Blockflötenensemble bis hin zum gemeinschaftsstiftenden Singen im Seniorenchor, vom Singen mit Konfirmanden bis hin zum fantasievollen Singen und Musizieren mit der Gemeinde im Gottesdienst und Offenen Singen. Hier geschieht im Vollzug des Singens und Musizierens Diakonie/Caritas, eben Liebesdienst am Nächsten und an mir (s.o.) gemäß dem Doppelgebot der Liebe in Verantwortung für die anvertrauten Menschen und für die anvertraute Musik.
Aber Kirchenmusik ist nicht nur Diakonie an innerer Gemeinde, sondern wirkt über ihre kulturelle Verankerung dann auch diakonisch (und durchaus auch missionarisch) über die (Kirchen-)Gemeinde hinaus. Wobei sie sich auch ihrer Grenzen bewusst sein sollte; sie kann vielleicht Sauerteig sein, der die Welt durchdringt und sie kann sich mit ihrem Wirken und ihren Wirkungen auch an Jesu Verheißung halten: „Was ihr diesen meinen geringsten Brüdern (und Schwestern) getan habt, das habt ihr mir getan“ (Matthäus 25,40).
Ich komme zum Schluß:
Kirchenmusik – ein Lebensmittel !
Kirchenmusikalische Arbeit im Leben einer Gemeinde unterscheidet sich an einem Punkt deutlich von dem Leben und Arbeiten anderer Gemeindegruppen. Während diese, außer den in der Diakonie Tätigen, eher nach innen orientiert sind, so ist die Arbeit der kirchenmusikalisch aktiven Gruppen, vom Kinderchor bis zum Posaunenchor, von der Kantorei bis zur Band, vom Beerdigungschor bis zum Instrumentalensemble darüber hinaus eher zielstrebig, auf Außenwirkung bedacht; sei es die musikalische Gestaltung eines Gottesdienstes, einer Geistlichen Abendmusik oder eines Konzertes, oder sei es das diakonische Singen und Musizieren in Altenheimen und Krankenhäusern. In den allwöchentlichen Proben geschieht eben eine Erziehung nicht nur in musikalischer Hinsicht und in Fragen der Geschmacksbildung und des Erkennens von Qualität, nicht nur im Hinblick auf sängerische und interpretatorische Kompetenz, sondern auch eine Erziehung im Hinblick auf theologische Einsichten, auf ein Miteinander-Gestalten-Wollen und Arbeiten an einer gemeinsamen Sache und weitere gruppendynamische Prozesse.
Nochmals sei angesprochen: „Musik als Trösterin“. Wer hat das nicht auch schon erlebt, was es heißt, mit anderen, für andere und eben auch für mich zu musizieren, und so zur Menschwerdung des Menschen und zum Mündigwerden der feiernden Gemeinde beizutragen. Im Singen und Musizieren wird der Mensch selbstbewusst und sich seiner selbst bewusst, im Gottesdienst in der Gemeinde und darüber hinaus.
Kirchenmusik, ein Lebensmittel? Ich denke schon! Die „live“ erklingende Musik, die miteinander gesungene und musizierte Musik, die auf den Menschen bezogene Musik, all das macht Kirchenmusik zu einem Lebens-Mittel.
10.01.2006