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 mare No. 39: OSTSEEPERLEN
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Ulrich Müther baute an der Ostseeküste der DDR Muscheln, Wellen und Segel aus Stahl und Beton. Das vereinigte Deutschland tat sich lange schwer mit den revolutionären Bauten, doch jetzt haben sie engagierte Fürsprecher gefunden

Text: Uta von Debschitz   Fotos: M. Dorfmüller und M. Kroeger

Textauszug

"Sonderbauten" hießen sie zu Zeiten der DDR, und so sehen sie auch aus, die Schalenbauten von Ulrich Müther. Hinter den dynamischen Entwürfen steckt allerdings kein expressiver Künstler, sondern eher ein kühler Rechner. Als Kind hatte der Rüganer mit Muscheln gespielt und ihre dünne, enorm belastbare Schale bestaunt. Nach diesem Vorbild entwickelte er als Erwachsener gekrümmte Tragwerke aus gebogenen Stahlmatten, die er durch eine Spritzbetonschicht stabilisierte.

Diese zeitaufwendige, aber materialsparende Bauweise entsprach den wirtschaftlichen Bedingungen der DDR. In Westdeutschland dagegen, wo Baustoffe günstig und Arbeitskräfte teuer waren, traten Schalenbauten nur als unwirtschaftliche Randerscheinung auf. Heute gelten die letzten ostdeutschen Exemplare in Fachkreisen als erhaltenswerte Zeitzeugen der Baugeschichte. Unter jungen Berliner Architekten sind Müthers Schalenkonstruktionen längst Kult.


Mit Design hat Müther selbst nicht viel im Sinn. Als 24-Jähriger übernimmt der gelernte Zimmermann und Absolvent der Ingenieurschule die elterliche Baufirma. Nebenbei beginnt er ein Fernstudium an der Technischen Universität Dresden. Die Schalentheorien ungarischer und rumänischer Mathematiker faszinieren ihn. 1963 entwirft er als Diplomarbeit eine gekrümmte Spritzbetonplatte als Terrassenüberdachung für ein Binzer Ferienheim. Beton gilt als Baustoff der unbegrenzten Möglichkeiten, aber noch ist in Dresden niemand in der Lage, die Kraftverläufe solcher Konstruktionen präzise zu berechnen. Müther wird an einen neu eingerichteten Berliner Lehrstuhl verwiesen. Vier Monate lang experimentiert er dort mit Modellen, 14 Monate lang berechnet er den Kräfteverlauf, dann wird endlich gebaut.

Müthers fliegende Platte erregt Aufsehen. Der Staatsrat ordert daraufhin ein freitragendes Dach für einen alten Speisesaal. 1966 wird er beauftragt, innerhalb von 150 Tagen eine große Halle für die Ostseemesse in Rostock zu planen und zu bauen. Zur offiziellen Eröffnung wird der junge Ingenieur allerdings nicht eingeladen, denn er hat kein Parteibuch. Doch die Messehalle spricht für sich, und auf Folgeaufträge muss Müther nicht lange warten. Immer wieder variiert er die Maße und Krümmung seiner Betonschalen. Tagsüber leitet er die geerbte Baufirma, seit der Enteignung als von der Belegschaft gewählter Chef. Gefragt sind vor allem Kuppelbauten für Planetarien. Am Feierabend tüftelt er an Konstruktionen mit mehrfach gekrümmten Flächenschalen. Seine Entwürfe sind stark vom traditionellen Schiffbau und von seiner Erfahrung als Segler beeinflusst. Aus Materialien wie Sand, Fischernetzen und Segelstoffen baut er Modelle und experimentiert damit so lange, bis er die optimale Form gefunden hat.

Der Rüganer "Landbaumeister" arbeitet in Binz weit ab vom Schuss, aber seine Stadthallen, Restaurants, Kirchen und Schwimmbäder kennt jeder DDR-Bürger. Seine Planetariumskuppeln, Pilzdächer, Faltschalen und Bobbahnen lassen sich bis nach Libyen und - gegen 10000 VW Golf - auch in die Bundesrepublik verkaufen.

Zehn Jahre nach der Wende muss er wegen Außenständen in Millionenhöhe Konkurs anmelden und Anfang 2003 die nächste Niederlage einstecken: Eines seiner bekanntesten Objekte, das baulich völlig intakte Restaurantgebäude "Ahornblatt" auf dem Berliner Alexanderplatz, soll abgerissen werden. International renommierte Tragwerksplaner, Architekten und Denkmalschützer setzen sich dafür ein, das 1973 gebaute Falttragwerk zu erhalten. Ohne Erfolg.


Der Umgang mit DDR-Architektur ist nicht nur in Berlin ein heikles Thema. Auf Rügen verfallen Müthers alte Schalenbauten in aller Öffentlichkeit und bester Strandlage, Vandalismus gibt ihnen oft den Rest. Die "Ostseeperle" hat ihren Glanz verloren, die Vertreibung aus dem "Inselparadies" ist lange her, der Verkauf der beiden leer stehenden Restaurants an vermeintlich tatkräftige Investoren auch. Der Ingenieur lässt sich keine Bitterkeit anmerken, immerhin sind die Schalentragwerke statisch noch in Ordnung. Der Warnemünder "Teepott" wurde inzwischen wieder eröffnet. Doch die Sanierung hatte ihren Preis. Viele gewerbliche Nutzer drängeln sich nun unter der weiträumigen Überspannung, die charakteristische Metallfassade wurde erst einmal eingelagert.

Sein kleinstes Bauwerk nimmt Ulrich Müther nun für fünf Jahre unter seinen persönlichen Schutz. Am südlichen Ende des Binzer Strandes lugt es wie ein Stielauge aus den Dünen: rundlich, glatt, nach allen vier Seiten große Kulleraugen, ein Rettungsturm nach Kindchenschema; ein Liebhaberstück für alle, die sich trotz der Altersspuren über eine Betonkapsel aus zwei hauchdünnen Halbschalen freuen können. Wulstig verheilte Nahtstellen, unbeholfen aufgemalte Ziffern, zugepinselte Fensterscheiben, bröckelnde Betonkanten, eine ins Leere ragende Stahltreppe - der Kontrast zur endlosen Parade gelifteter Strandvillen könnte kaum größer sein.

Ulrich Müther genießt den Austausch mit jungen und ambitionierten Leuten und möchte in Prora Schalenbau-Workshops anbieten. Zu DDR-Zeiten kam eine Lehrtätigkeit nicht in Frage, jegliche akademische Anerkennung wurde Müther verwehrt. Inzwischen ist der "Landbaumeis ter" aus Binz gern gesehener Referent an Hochschulen und auf Kongressen. Denn auch im internationalen Vergleich fallen die ostdeutschen Schalentragwerke als Sonderbauten auf. Mit seinen aus Beton gebauten Muscheln, Pilzen, Wellen und Segeln hat der Küstenmensch Ulrich Müther eine eigene, von der Ostseeküste geprägte Formensprache gefunden.

Uta von Debschitz, Jahrgang 1964, ist Architektin und studiert Kulturjournalismus an der UdK Berlin. Der "Grandseigneur des Schalenbaus" bewirtete sie charmant auf seinem Schiff im Hafen von Saßnitz.
Die Hamburger Fotografen Markus Dorfmüller und Markus Kröger haben sich auf Architekturfotografie spezialisiert. In mare No. 31 war ihre Arbeit über die Hafencity Hamburg zu sehen.



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 Inhalt mare No. 39
Pfeil Die Verbannten
Pfeil Ostseeperlen
Pfeil Lietzows Leben
Pfeil Lebenskünstler
PfeilDie Megawerft
PfeilAn den kleinen Schrauben drehen
PfeilDer Nachtfalter
PfeilStrandung am Ararat
PfeilSchiffe machen Geschichte
PfeilPorträt der jungen Königin
PfeilTradition und Zuckerguss
PfeilSchwein, Weib und Gesang
PfeilDie Materialschlacht
PfeilFórcola
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