Karl Kraus am Antikriegstag
„Seit 5 Uhr 45 wird jetzt zurückgeschossen!“ So verkündete Adolf Hitler am 1. September 1939 vor dem Nazi-Reichstag den Beginn des Zweiten Weltkrieges und log damit gleich doppelt: von „Zurück“-Schießen konnte keine Rede sein, denn sogar der Angriff der polnischen Armee auf den Reichssender Gleiwitz war in Wahrheit von deutschen SS-Truppen organisiert und vorgetäuscht worden, und die deutsche Beschießung der polnischen Westerplatte bei Danzig begann befehlsgemäß pünktlich um 4 Uhr 45. Die andere Zeitangabe hatte Hitler offenbar nur gewählt, weil es sich rhetorisch besser anhörte. „Vier Uhr“ hätte in der Radioübertragung womöglich zu sehr gequietscht. Als Rhetoriker, also als Mensch, dem der schöne Klang einer Formulierung höher galt als ihr Wahrheitsgehalt, war Hitler ganz Gefangener seiner Jugendzeit.

Die sich vor Begeisterung überschlagenden Zeitungsberichte über die Freudenausbrüche und Volksverbrüderungs-Szenen bei Kriegsausbruch im August 1914, -bei der Versammlung in München war er sogar selbst dabei, wie ein zufällig vergrößertes Foto belegt-, hatten das ausgetrocknete Künstlerhirn des „spinnerten Adi“ dermaßen ergriffen, dass er sein ganzes Leben lang kein anderes positives Ideal hatte, als diese rauschhafte „Volksgemeinschaft“ dauerhaft wieder herzustellen. Die Rhetorik der Kriegsberichte hatte ihn vollkommen für immer besoffen gemacht.

Es war aber schon damals in Deutschland wenigstens eine Gegenstimme zu vernehmen, die die Verlogenheit der Kriegsberichterstattung kritisierte und über den Verlust von Moral, Anstand und Wahrheit auf Seiten der deutsch-österreichischen Verbündeten und ihrer Presseorgane räsonnierte. Das war der Wiener Autor Karl Kraus mit seiner Einmann-Zeitschrift „Die Fackel“. Mit einer neuen kritischen Methode, die wir 1968 als „Hinterfragen“ kennenlernten, enthüllte er ohne Verletzung der Zensurregeln, also ohne Enthüllung von Militärgeheimnissen oder Angabe von Spezialwissen, nur durch Anwendung von Logik und Moral auf die Presseberichte, die ganze abgründige Bestialität der Militärkaste und ihrer Handlanger und Liebediener. Sein Beruf, sagte Karl Kraus, ist das Lesen von Zeitungen als Arzt, um „am Auswurf der Welt ihr Übel zu erfassen.“

Nach dem Krieg, 1920, faßte er einige hundert dieser Arbeiten zu dem großen Dokumentardrama „Die letzten Tage der Menschheit“ zusammen, dessen komplette Aufführung fünf Tage dauern würde und deswegen nur einem „Marstheater“ möglich wäre, wo die Tage tausend Stunden dauern. Obwohl noch nie vollständig aufgeführt, gehört diese Tragödie zu den bedeutendsten Kulturwerken des letzten Jahrhunderts und der Antikriegsliteratur der Welt. Anhand der 7. Szene aus dem 1. Akt kann man gut zeigen, wie Kraus arbeitet. In der Wiener Presse las er den Frontbericht der Frau Schalek, ein emanzipiertes „Flintenweib“ nach Art der schießgeilen Grünen Beer, und fragte sich, wie mag so ein gewissenloser Artikel entstanden sein und welche Folgen mag das im Felde haben. Der „Urtext“ der Frau Schalek läßt sich aus dem Theatertext leicht rekonstruieren.

„ I/7 Bei der Batterie.

Ein Artillerieoffizier: Da schauts, unser guter Feldkurat kommt zu uns aus der Infanteriestellung. Das ist schön von Ihm!

Der Feldkurat Anton Allmer: Gott grüße euch, ihr Braven! Gott segne eure Waffen! Feuerts tüchtig eini in die Feind?

Der Offizer: Sauber laufts, Hochwürden.

Der Feldkurat: Mit Gott möcht ich auch einmal ein Geschütz probieren.

Der Offizier: Gern, Hochwürden, hoffentlich treffen Sie einige Russen.

(Der Feldkurat feuert ein Geschütz ab.)

Der Feldkurat: Bumsti!

Rufe: Bravo!

Der Offizier: Jetzt erst, da Hochwürden geschossen hat. sind unsere Waffen gesegnet!

(Die Schalek nähert sich.)

Die Schalek: Was ist das für eine Stellung? Das soll eine Stellung sein? Ich hab schon bessere Stellungen gesehn!

Der Offizier: Bitte Nachsicht zu haben - in der kurzen Zeit -

Die Schalek: Sie, Herr Oberleutnant, wissen Sie was, ich möcht bißl schießen.

Der Offizer: Von Herzen gern Fräulein, aber das is momentan leider unmöglich, weil es den Feind aufregen könnte. Jetzt is grad eine Gefechtspause und wir sind froh -

Die Schalek: Aber bitt sie machen Sie keine Geschichten -

also der Kurat darf und ich darf nicht? - wenn ich schon eigens herausgekommen bin - wie Sie wissen, schildere ich nur aus dem persönlichen Erleben - bedenken Sie, daß ich die Schilderung unbedingt vervollständigen muß - es is doch für Sonntag! Geben Sie her. Also wie schießt man?

Der Offizier: So -

(Die Schalek schießt. der Feind erwidert.)

Der Offizier: Also da ham mrs!

Die Schalek: Was wollen Sie haben? Das ist doch interessant!

(Verwandlung)


Um den Antikriegstag nicht immer nur mit den üblichen Versammlungen und Bekundungen zu begehen, hat sich aus einigen interessierten Künstlern und Gruppen ein „Karl-Kraus-Komitee“ gegründet, das „Die letzten Tage“ erstmals ganz und als Verbindung zwischen den Weltkriegen zur Aufführung bringen will. Das werden wir dieses Jahr noch nicht ganz schaffen, aber in einer zwölfstündigen Marathonlesung werden die wichtigsten Szenen vorgestellt, nach der gekürzten „Bühnenfassung“, die Kraus selbst 1928 erstellt hat. Wir wollen mit der Lesung in dem Moment fertig sein, an dem der Zweite Weltkrieg begann; denn wenn schon die Schrecken des Ersten, wie sie Kraus beschrieben hat, nicht ausreichten, weitere Kriege zu verhüten, „dann ist die Menschheit wahrlich verflucht“ und ihre letzten Tage dauern seitdem immer noch an. Diese Marathonlesung am Vorabend des Antikriegstages soll deswegen eine neue Tradition bilden, in der Hoffung, mit Kunst gegen Krieg andere Formen der Friedenspolitik auszuprobieren und andere Menschen dafür zu gewinnen. Das Kraus-Komitee sucht weitere Mitleser und Sponsoren für das nächste Jahr.

Bei den Proben ist uns immer wieder die unglaubliche Aktualität der Kraus´schen Kritik aufgefallen und es wäre zu wünschen, dass sich ein moderner Autor finde, der in ähnlicher Weise die Verbrechen des Jugoslawienkrieges „besingt“: Die Vorbereitung in den Höheren Nato-Kreisen (M. Albright zu den Nato-Außenministern: „So boys, what shall we now do together? Sex or war?“). Wie der Oberkommandierende mal eben den Angriff auf die Russen in Pristina befiehlt und nur durch die Courage eines britischen Offiziers der Dritte Weltkrieg verhindert wird. Wie die Awacs-Mannschaft den Raketenangriff auf unbewaffnete Flüchtlingskolonnen befiehlt. Wie Ausreden gesucht werden nach der Bombardierung der chinesischen Botschaft. Wie der Verrückte Scharping Hufeisenpläne erfindet. Wie in der Taz-Redaktion Massaker erfunden werden um die Leser gegen Serbien einzunehmen. Es war, was Karl Kraus erlebte und beschrieb, noch nicht der mögliche Tiefpunkt journalistischer Feigheit und Dummheit, das blieb erst dem modernen Grünen-Krieg und Taz und Spiegel vorbehalten.
Ziemlich witzig war auch die Frage der Journalistin einer Berliner Zeitung bei unserer Pressekonferenz, sie hätte gehört, am Ende des Dramas würden Marsmenschen die Erde angreifen?! Offenbar hat die bürgerliche Presse seit Karl Kraus „Grubenhund“ keine großen Fortschritte gemacht.

Leider hat auch die PDS in Berlin und Friedrichshain wenig Ahnung von Friedenskultur und deswegen nicht mal ein paar hundert Mark übrig, um die Aufführung zu unterstützen. Superpeinlich für die Landes- und Bezirksvorstände. Die klügeren Mitglieder haben sich bei uns für deren Kulturbanausentum entschuldigt und werden die Lesung besuchen und zur Schande ihrer Funktionäre ordentlich was spenden. Während also die PDS-Vorstände nichts für Karl Kraus übrighaben, sammelten die Obdachlosen der beteiligten LBI-Gruppe soviel sie können. So herrscht bekanntlich im Himmel größere Freude über das Scherflein der Witwe denn über die Goldstücke der Habenden. Vor allem, wenn von denen nichts kommt.

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