Prof. Rüsen
Prof. Jörn Rüsen: Zum Umgang mit Differenz im interkulturellen Dialog  

Fortschritt sei traditionell ein westliches Konzept, leitete Prof. Rüsen, Professor für Kulturwissenschaften an der Universität Witten-Herdecke, seinen Vortrag ein. In der Regel spreche man im akademischen Kontext von Modernisierung, aber auch der Begriff der Globalisierung werde verwendet. Mit Blick auf die Kultur habe man es mit Rationalisierung zu tun. Heute stehe man vor weitreichenden Problemen, zu denen Prof. Rüsen u.a. Ungleichheit und Umweltverschmutzung zählte. Im Bereich der Kultur konstatierte er ein Austrocknen der Ressourcen des Sinns. Man habe es weiter mit einem Prozess der westlichen Hegemonie und ihren heute spürbaren postkolonialen Auswirkungen zu tun. Für andere Kulturen sei die westliche Dominanz ein Problem, da sie sich durch diese ihre Identität bedroht sehen. Die meisten Probleme seien globale, ihre Lösungen aber lokal verwurzelt.

Das Problem des Fortschritts müsse gemeinsam angegangen werden. Es provoziere die Kritik an der westlichen Dominanz, die auf verschiedenen Ebenen existent sei. Er wolle sich in seinem Vortrag auf den Bereich der Kultur konzentrieren. Die Kritik habe zwei Modi, die westliche und die nicht-westliche Kritik. Die Kritik an der Moderne finde man in beiden Modi. Ihr Argument basiere auf der Annahme, dass die Moderne westlich sei und alle anderen Kulturen zerstöre. Diese Kritik werde bspw. im religiösen Fundamentalismus sichtbar, der den Menschen das Gefühle gebe, besser zu sein. Dies sei aber keine Lösung, da sie letztlich auf die Zerstörung des westlichen Lebensstils hinauslaufe. Es sei eine negative, gegen den Westen gerichtete Strömung, die zwar die Moderne kritisiert, jedoch ihre Mittel nutze (z.B. Telekommunikation). Hier sehe er einen Widerspruch, erklärte Prof. Rüsen.

Eine zweite Kritik, die er nennen wolle, sei eine pro-modernistische Kritik. Sie greife die Uniformität an, indem sie sage, dass es mehr als eine Entwicklungsrichtung gebe. Dabei handele es sich um eine kulturelle Kritik, die es jedoch auch schon lange im Westen gebe. Das Ergebnis dieser Kritik ist das Konzept der multiplen Moderne. Es stelle einen ersten Schritt zur Lösung des Problems Fortschritt dar. Man solle jedoch nicht von einem multiplen Fortschritt sprechen.

Es müsse ein Konzept entwickelt werden, das die Anderen und ihr Anderssein einbeziehe. Es gebe mit einem universellen Ansatz, der für alle gelte, und einem relativierenden Ansatz zwei Möglichkeiten, die aber beide nicht realisierbar seien. Die erste Variante wäre nur eine modifizierte Variante der westlichen Moderne und stünde somit für die Kontinuität des Problems. Die zweite Variante würde nur Konflikte, einen Kampf der Kulturen erzeugen, denn in diesem Konzept könnten wir nicht auf kulturelle Mittel zurückgreifen, um den Konflikt zu lösen. Sein Vorschlag sei daher eine diskursive Beziehung zwischen verschiedenen Relativismen. Wir bräuchten einen umfassenden Blick auf den Fortschritt, der die gegenseitige Anerkennung der kulturellen Differenz beinhalte. Dies ließe sich nicht auf dem traditionellen Wege, d.h. der Entwicklung einer neuen Geschichte der Welt, sondern nur über einen dauerhaften interkulturellen Diskurs umsetzen. Ein solcher Diskurs sei inklusiv und grenze nicht aus. Er wende den traditionellen ethnozentrischen Universalismus in einen alle einbeziehenden Universalismus. Jede Kultur müsse daran mitwirken. Dabei müssten zwei Dinge miteinander verbunden werden: zum einen der Blick auf die Vergangenheit, der kritisch sein müsse, und zum anderen der Blick in die Zukunft, wo aus der interpretierten historischen Erfahrung eine Gemeinsamkeit erwachse.

Diese Beziehung zwischen Vergangenheit und Zukunft nenne er Fortschritt, erklärte Prof. Rüsen. Ob es diesen Fortschritt gebe, liege an uns. Denn über unsere eigenen Interpretationen entwickeln wir diesen Diskurs. Im Lichte der Probleme, denen wir uns stellen müssen, würden wir in eine neue Zeit geführt. Wir müssten die exklusive Logik des Handelns in eine inklusive wandeln. Dieser Prozess bedeute die Rückkehr zu den eigenen kulturellen Ursprüngen.

 

Diskussion

In der sich anschließenden Diskussion würdigte Prof. Yassin den Vortrag als ausgezeichnet. Er führe unterschiedliche Sichtweisen zusammen. Der erste Schritt in einem interkulturellen Dialog sei die Selbstkritik. Man müsse akzeptieren, dass man unter den Auswirkungen einer globalen Zivilisation lebe. Es gebe keine universellen Werte, sondern unterschiedliche Werte. Man müsse gemeinsam ein neues internationales System entwickeln.

Prof. Munshi erklärte, dass der Vortrag Hoffnung gebe. Er betonte, dass es ohne die Kritik des eigenen Erbes keine Bewegung nach vorne geben könne. Das eigene Erbe müsse nicht aufgegeben werden, jedoch sei eine kritische, objektive Subjektivität wichtig. Es habe in allen Kulturen kritische Stimmen geben, wobei er Luther als Beispiel anführte. Man solle nicht wieder von vorne anfangen, sondern man müsse wieder eine Brücke zu diesen kritischen Stimmen der Vergangenheit schlagen.

Prof. Rüsen bekräftigte daraufhin, dass Selbstkritik wichtig sei. In dem Moment, in dem man die negativen Elemente seiner Geschichte, wie z.B. den abwertenden Blick auf seine Nachbarn, annehme, könne man seinen Nachbarn besser verstehen. In Deutschland habe man diese Erfahrung im Zuge der Aufarbeitung der eigenen Vergangenheit gemacht. Er ergänzte weiter, dass auf internationalen Konferenzen über Kulturen gesprochen wird, als seien diese getrennt. Dies müsse man ändern. Man brauche ein anderes Verständnis von Kultur, das sich von dem einer semantischen Totalität unterscheidet. Man müsse internalisieren, dass es eine gemeinsame Menschheit gebe. Dies sei der Ausgangspunkt für eine neue Sicht auf die Kulturen.

Godofredo Sandoval erläuterte, dass man in Lateinamerika, insbesondere in Mexiko, an einigen Theorien gearbeitet habe und man sehr intensiv über multikulturelle Theorien diskutiere. Es gebe Kritik an der Perzeption eines linearen Fortschritts. Bei indigenen Völkern Lateinamerikas gebe es Sichtweisen, die nicht unbedingt davon ausgehen, dass das Heute immer besser ist als das Gestern. Er denke, dass sich dieser philosophische Ansatz von dem des Westens unterscheide.

Er stimme mit Godofredo Sandoval vollkommen überein, erklärte Prof. Rüsen. Fortschritt werde nicht immer als linear betrachtet, daher bräuchten wir verschiedene Sichtweisen. Wir müssten eine Regel entwickeln, die verhindert, dass die Diskussion eines gemeinsamen Konzeptes im Kampf der Kulturen mündet. Die Diskussion müsse als Basisbewegung der wissenschaftlichen Arbeit entstehen. Man dürfe nicht abwarten, bis die UNESCO eine Konferenz zu dem Thema abhalte. An die Wissenschaft würden dabei hohe Anforderungen gestellt, müsse sie sich doch neuen Sichtweisen öffnen.


Kann Kultur die Entwicklung eines Landes hemmen oder vorantreiben? Gemeinsames Projekt der GTZ und des Goethe-Instituts.