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24.09.2007    15:32 Uhr Drucken  |  Versenden  |  Kontakt
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SS-Maskottchen Alex Kurzem

Vom jüdischen Jungen, der die Mörder unterhielt

Die Nazis ermordeten seine Eltern, steckten ihn in eine Uniform und ließen ihn Juden in KZ-Züge locken: Die unglaubliche Geschichte des Alex Kurzem.
Von Oliver Das Gupta

Jahrzehntelang hatte er sein Geheimnis mit sich herumgetragen. Weder die australische Ehefrau noch der Rest der Familie ahnten, welche dunklen Kindheitserinnerungen Alex Kurzem in sich verbarg.

1997 kam der Tag, an dem er seiner Familie davon erzählte, inzwischen hat er gemeinsam mit seinem Sohn ein Buch* über die Geschichte geschrieben: Die, von dem jüdischen Jungen, der Maskottchen einer SS-Einheit wurde.

Kurzem wächst in einem kleinen Dorf in Weißrussland auf. Am 20. Oktober 1941 ändert sich sein Leben grundlegend: Deutsche Einheiten erobern das Dorf. Nach der Einnahme müssen sich alle Männer auf dem Dorfplatz aufstellen - und werden erschossen.

"Meine Mutter sagte mir, mein Vater sei ermordet worden. Und, dass wir alle umgebracht werden würden", zitiert die BBC den heute 72-Jährigen.

Nachts entschließt sich der Junge, auf eigene Faust wegzurennen, in den Wald. Am nächsten Tag massakrieren die Deutschen auch Kurzems Mutter, den Bruder, die Schwester.

Kurzem hört die Schüsse, biss sich in die Hand, ein Schrei könnte ihn verraten. Nachdem das Morden endet, ist ihm klar: "Ich war der Einzige, der übrig geblieben war" - fünf Jahre alt und völlig auf sich alleine gestellt.


Mehr als Brotstückchen erhält er von anderen Zivilisten nach eigener Aussage nicht: "Niemand wollte mich." Oft bleibt ihm nichts anderes übrig, als die Leichen von Soldaten zu plündern.

Monatelang, so Kurzems Erinnerung, schlägt er sich so durch. Bis ihn ein Zivilist an baltische Handlanger der Nazis ausliefert - eine spätere lettische Einheit der SS. Die Verbrecher führen eine Erschießung an einer Schule durch. Auch Alex Kurzem wird aufgestellt - und spricht einen der Soldaten an.

"Ich sagte: 'Könntest du mir ein Stückchen Brot geben, bevor du mich tötest?'". Der Unteroffizier sieht Kurzem an, geht mit ihm hinter das Schulgebäude. Dort vergewissert der Balte sich, dass der Junge beschnitten ist - er ist Jude.

"Nicht gut, nicht gut", sagt der Uniformierte laut Kurzem - und entschließt sich trotzdem, den Jungen mit sich zu nehmen und noch mehr: Er gibt ihm einen anderen Namen und erzählt seiner Mord-Truppe, es handele sich um ein russisches Waisenkind.

Ob es sein "arisches" Aussehen war, der das Mitleid jenes Unteroffizier namens Jekabs Kulis erregt, ist Kurzem bis heute unklar. Sicher ist nur: Beide behalten das Geheimnis um die Herkunft des Jungen für sich.

Die Aufnahme in die SS-Truppe verläuft ohne Probleme, die Vereinnahmung als Maskottchen der Massenmörder ist total: Kurzem wird in eine Miniatur-Uniform gesteckt, erhält sogar eigene Waffen.


Fotos zeigen den Jungen mal in Reiterhosen, Armeeschiffchen und umgehängtem Gewehr inmitten von gutgelaunten Schlächtern, mal auf dem Schoß eines lachenden Soldaten.

Sogar die Wochenschau lichtet laut BBC den hübschen Buben, der so gut ins NS-Weltbild passt, für Propagandazwecke ab: als "den jüngsten Nazi des Reiches".

Neben kleineren Jobs - Schuhe putzen, Wasser holen, Feuer machen - soll der jüdische Junge vor allem eines: Die Soldaten unterhalten - "damit sie sich ein bisschen besser fühlen".

Kurzem erlebt auch das volle Grauen des Krieges mit - und "unaussprechliche Gräueltaten". Die SS setzt ihn als Köder ein. Der harmlos wirkende Junge muss Schokolade verteilen, damit Juden in die Viehwaggons der Züge steigen, die sie in die Todesfabriken von Auschwitz, Treblinka und Majdanek bringen.


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Bildstrecke Täter und Opfer des KZ Auschwitz Rahmen
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Im Jahr 1944 - die Deutschen und ihre Verbündeten waren auf dem Rückzug - endet Kurzems Zeit bei der SS. Der Kommandant der Einheit bringt ihn bei einer lettischen Familie unter.

Alex Kurzem überlebt den Krieg. Im Frieden verlässt er den Kontinent, wandert nach Australien aus - und will nur noch vergessen: "Knips es aus", sagt er sich.

Nachdem er sich seiner Familie offenbart hat, arbeitet er seine Kindheit gemeinsam mit seinem Sohn auf. Kurzem findet das Dorf, in dem er geboren ist, einen Film in lettischen Archiven, das ihn in Uniform zeigt.

Und Alex Kurzem erhält zurück, was ihm der Krieg genommen hat: seinen echten Namen. Er lautet Ilya Galperin.

Mark Kurzem: "The Mascot: The Extraordinary Story of a Jewish Boy and an SS Extermination Squad", Verlag: Rider & Co, 352 Seiten. ISBN-10: 1846040361

Bislang ist das Buch nur in englischer Sprache erschienen.

(sueddeutsche.de)


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