Papst Pius XII (1876-1958)

Die Katholische Kirche und der Holocaust

„Zeit bedeutet hier nichts. Die Jahrhunderte kommen und gehen. Es ist, als ob man eine vierte Dimension betritt. Und inmitten all dessen, umgeben von der päpstlichen Garde und der Ehrenwache, umgeben von den Monsignores, den Bischöfen, umgeben von den Kardinälen und all den Zeugen der Vergangenheit sitzt der kleine, heilige Mann: besorgt, sichtlich selbstlos und heilig. Eine bemitleidenswerte Gestalt und doch zugleich außerordentlich.“

(der spätere britische Premier Harold Macmillan über eine Papstaudienz unmittelbar nach der Befreiung Roms)

 

Das Leben des Eugenio Pacelli / Papst Pius XII (1876-1958)

Papst Pius XIIEugenio Pacelli wurde am 2. März 1876 in eine Familie von Kirchenjuristen im Dienste des Papstes hinein geboren. Die Kindheit Pacellis war durchzogen von tiefer Frömmigkeit, die sich zum Beispiel darin äußerte, daß der junge Pacelli sich selbst züchtigte durch den Verzicht auf Fruchtsäfte. Pacelli ging auf eine private katholische Grundschule, die den Vorlieben und Launen seines Gründers und Direktors, Signor Guiseppe Marchi, ausgesetzt war. Marchi hatte die Gewohnheit, über die „Hartherzigkeit der Juden“ Vorträge zu halten. Zwischen 1886 und 1894 besuchte Pacelli das humanistische Gymnasium Visconti. Er zeigte von frühem Alter an ein beeindruckendes Maß an Intelligenz und Gedächtnisstärke und konnte bei Bedarf seitenweise auswendig lernen. Außerdem hatte er eine Begabung für die klassischen und modernen Sprachen. Im Sommer 1894 beendete Pacelli die höhere Schule mit einem Diplom, einer licenza „ad honorem“. Er zog sich für zehn Tage zu Exerzitien zurück, wobei er entschied, Priester zu werden. Für die Familie stellte das keine große Überraschung dar. In den Jahren 1894 bis 1899 studierte Pacelli Philosophie und Theologie an der römischen Jesuitenuniversität „Gregoriana“. Gleichzeitig war er an der weltlichen Universität Sapienza zum Studium der Sprachen immatrikuliert. Soziale Kontakte knüpfte er dabei nicht. Am 2. April 1899 wurde er zum Priester geweiht. Im Herbst immatrikulierte sich Pacelli erneut, um kanonisches Recht zu studieren. Gleichzeitig begann Anfang 1901 seine Karriere im Vatikan mit einer Stelle als "apprendista", als „Auszubildender“ im Staatssekretariat des Vatikans. 1904 erhielt er einen Doktorgrad für seine Dissertation über die Beziehung zwischen Kirche und Staat. Bis 1905 stieg Pacelli bis zum päpstlichen Hausprälaten auf. Nach der Ernennung zum Erzbischof übernahm Pacelli 1917 die bayrische Nuntiatur in München und fördert als erster Nuntius des Deutschen Reiches entschlossen die Konkordatspolitik von Papst Pius XI. Aus dieser Zeit stammt auch seine Begeisterung für Deutschland und die deutsche Kultur. 13 Jahre später wurde er als Kardinalstaatssekretär eingesetzt und damit zum rechtlichen Stellvertreter des Papstes. Am 20. Juli 1933 handelt Pacelli mit Franz von Papen das Reichskonkordat aus, das einen Verzicht der politischen Betätigung des Klerus beinhaltete, aber die materielle und institutionelle Stellung der katholischen Kirche im Deutschen Reich sichern sollte. Nach dem Tod von Papst Pius XI. im Februar 1939 wurde Pacelli am 2. März zum Papst gewählt. Er start am 9. Oktober 1958 als Papst Pius XII.

 

Papst Pius XII. und die Judenverfolgungen im Dritten Reich

Über die Haltung von Papst Pius XII. zu den Judenverfolgungen und zum Zweiten Weltkrieg gibt es zwei Meinungen, die nicht miteinander zu vereinbaren sind. Piusanhänger behaupten, Papst Pius XII. habe alles für die Juden in den verfolgten Gebieten getan, was in seiner Macht stand. Piusgegner dagegen werfen ihm vor, geschwiegen und damit dem Naziregime zugestimmt zu haben. Den Piusanhängern zufolge hat Papst Pius XII. geschwiegen, um die Situation der Juden nicht noch zu verschlimmern. Das sei zum Beispiel festzumachen an den Berichten seiner Haushälterin Schwester Pasqualina Lehnert zu dem Vorfall der Deportation von 40.000 „nichtarischen“ Christen in Holland. Die holländischen Kirchen hatten ein Protestschreiben gegen die Deportation von Juden an den deutschen „Reichskommissar“ geschickt. Darin drohte man mit breiten Protesten christlicher Kreise. Die Nationalsozialisten reagierten mit dem Angebot, „nichtarische“ Christen von den Deportationen zu verschonen, wenn die Kirchen weiter schweigen würden. Der Erzbischof von Utrecht, Dejong, wollte sich darauf nicht einlassen und verfaßte einen Hirtenbrief. Daraufhin wurden katholischen „Nichtarier“ aus Holland deportiert. Im Seligsprechungsprozeß berichtete Schwester Pasqualina aber, daß der Papst ein Dokument verfaßt hatte, das das Handeln Hitlers verurteilte. „Ich erinnere mich, wie der Heilige Vater zur Mittagszeit in die Küche kam und zwei mit der Hand geschriebene Blätter Papier mitbrachte. 'Sie enthalten', so sagte er, 'meinen Protest gegen die grausame Verfolgung der Juden und ich wollte sie eigentlich heute abend im Osservatore veröffentlichen lassen. Aber ich denke jetzt: Wenn der Hirtenbrief der Bischöfe 40.000 Menschenleben gekostet hat, dann kann mein eigenen Protest, der noch nachdrücklicher formuliert ist, leicht das Leben von 200.000 Juden kosten. Eine so schwere Verantwortung kann ich nicht auf mich nehmen. Es ist besser, in der Öffentlichkeit zu schweigen und insgeheim alles Erdenkliche zu tun.'“ Schwester Pasqualina zufolge wurde das Dokument verbrannt. Es gibt jedoch keine Beweise dafür, daß nach dem Protest der Bischöfe 40.000 „nichtarische“ Katholiken deportiert wurden. Nach Jonathan Lewis’ Film sind nur 92 katholische Konvertierte deportiert und ermordet worden.

Im Ersten Weltkrieg hatte Papst Pius XII. sich sehr für Kriegsgefangene beider Seiten eingesetzt. Auch im Zweiten Weltkrieg habe er, so seine Anhänger, humanitäre Hilfe geleistet für Kriegsgefangene und Verfolgte. So soll auch eine enge Zusammenarbeit mit dem Roten Kreuz bestanden haben, um einen Nachrichtendienst zum Informationsaustausch zwischen Kriegsgefangenen und ihren Familien zu organisieren. Des weiteren sollen mehrere Hilfsprojekte diskutiert worden sein, um die Juden aus den besetzten Gebieten zu evakuieren und in Sicherheit zu bringen. Papst Pius XII. wird auch mit dem Hinweis verteidigt, daß er den guten Kontakt zum Deutschen Reich nur deshalb gesucht habe, um die Situation der katholischen Kirche und ihrer Anhänger zu verbessern. Auch sein Verhalten während der Besetzung Roms und der Deportation der römischen Juden wird oft als Anlaß für Diskussionen genutzt. Seinen Anhängern zufolge hat Papst Pius XII. auch dabei alles getan, was in seiner Macht stand. So öffnete er zum Beispiel die sonst abgeschiedenen Klöster für geflüchtete Juden und erklärte die Anwesen für Territorium des Vatikanstaates. Somit konnten mehrere Tausend Juden in ganz Italien gerettet werden.

In der Weihnachtspredigt am 24. Dezember 1942 sprach Papst Pius XII. über die „Grundelemente des Gemeinschaftslebens“. Darin befaßte er sich auch mit den Greueln des Krieges. Ein Absatz wird von den Anhängern des Papstes als eindeutige Anklage der NS-Vernichtungspolitik verstanden: “Dieses Gelöbnis schuldet die Menschheit den Hunderttausenden, die persönlich schuldlos bisweilen nur um ihrer Volkszugehörigkeit oder Abstammung willen dem Tode geweiht oder einer fortschreitenden Verelendung preisgegeben sind.“ Seine Gegner dagegen sind der Überzeugung, Papst Pius XII. habe sich deshalb nicht eindeutig gegen die Judenverfolgung geäußert, weil er selbst Antisemit war. Diese Abneigung habe sowohl religiöse, als auch rassistische Wurzeln. Danach habe Papst Pius XII. geglaubt, die Juden selbst hätten ihr Unglück über sich heraufbeschworen. Tatsächlich war die römisch-katholische Kirche dem Judentum gegenüber traditionell feindlich eingestellt. Sie würfen ihnen unter anderem vor, Jesus Christus getötet zu haben. Papst Pius XII. wußte auch frühzeitig von den Verfolgungen und den Vernichtungslagern und habe dennoch nichts getan, so der Vorwurf der Piusgegner. So erhielt der Vatikan unter anderem einen Bericht von Rudolf Vrba, der aus Auschwitz fliehen konnte. Vrba beschrieb darin die Vorbereitungen, die in Auschwitz getroffen wurden, um die ungarischen Juden zu vernichten. Ein Vertreter des Vatikans traf sich mit Vrba, um den Bericht durchzusprechen. Dennoch wurde der Bericht nur für den internen Gebrauch genutzt. Weiter soll Papst Pius XII. ein Freund der Deutschen und von Hitler selbst gewesen sein. Vier Tage nach seiner Amtsantritt schrieb er mit Hilfe der deutschsprachigen Kardinälen Bertram, Schulte, Faulhaber und Innitzer einen Brief an Hitler, den er mit „Dem hochzuehrenden Herrn Adolf Hitler“ überschrieb.

Im Gegensatz zu den Anhängern sind die Gegner Pius XII. nicht der Meinung, er habe für die Juden Roms bei ihrer Deportation alles getan, was in seiner Macht stand. Sie werfen ihm vor, die Juden nicht gewarnt und keinen Protest erhoben zu haben, obwohl der Abtransport mehr oder weniger genau unter seinem Fenster stattfand. Der Vatikan bekam auch Nachricht von jeder Station des Zuges, mit dem die Juden von Rom nach Auschwitz transportiert wurden. Dennoch schwieg er. Statt dessen habe er sich mehr für die Schäden in Rom interessiert, die durch die Luftangriffe der Alliierten entstanden waren, wird ihm vorgeworfen.

 

Die Aufarbeitung der Rolle des Vatikans

Papst Pius XIIDie Aufarbeitung der Zeit des Nationalsozialismus und des Pontifikats Papst Pius XII. begann erst 1963 durch die Uraufführung von Rolf Hochhuths Stück „Der Stellvertreter“ in Berlin. Das Werk wurde im gleichen Jahr auch in London und im darauffolgenden Jahr in New York unter dem Titel „The Deputy“ aufgeführt. Es war der früheste und bekannteste Angriff auf die Haltung Pacellis während des Krieges. Papst Pius XII. wird in dem Stück als gleichgültig dargestellt. Hochhuth macht aus ihm einen großen Zyniker, den am meisten interessiert, wie viel Schaden die italienischen Industrieanlagen unter den alliierten Bombenangriffen genommen haben. Dieses Stück ist jedoch rein fiktiv und nicht auf historische Tatsachen zurückzuführen. Dennoch prägt es das Bild, das die Allgemeinheit von Papst Pius XII. hat, bis heute. Dessen ungeachtet hatte Hochhuths Stück auch für die Historiker Folgen. Die Debatten, die nach Hochhuths Werk folgten, gaben der Erarbeitung zuverlässiger Dokumentationen Aufwind. Mitten in der Auseinandersetzung um das Hochhuth-Werk wurde 1964 in Paris die erste Dokumentation veröffentlicht, die sich auf die vorhandenen Akten stützt: „Pius XII. und das Dritte Reich“ von Saul Friedländer. Friedländer hatte den Krieg in einem katholischen Kloster in Frankreich überlebt, während seine Eltern in Auschwitz umkamen. Sein Buch war der konsequente Versuch, die zugänglichen Dokumente und Akten für sich sprechen zu lassen. Die Dokumentation stützt sich hauptsächlich, aber nicht ausschließlich auf die Akten des Auswärtigen Amtes im Dritten Reich, das heißt auf Berichte der deutschen Botschafter beim Heiligen Stuhl während des Krieges. Friedländer äußert sich im Schlußteil seines Buches hoffnungsvoll, daß die durch sein Buch aufgedeckten Lücken in der Dokumentation dadurch geschlossen werden, daß der Vatikan seine Archive öffnet. Und genau dies geschah.

Im Jahre 1964 wies Papst Paul VI. eine Gruppe gelehrter Jesuiten an, die vatikanischen Kriegsdokumente für eine Publikation vorzubereiten. Das Werk erschien zwischen 1965 und 1981 in elf Bänden unter dem Titel „Actes et Documents du Saint-Siège relatifs à la Seconde Guerre mondiale“. Die Dokumente sind dabei alle in ihrer Originalsprache veröffentlicht und mit einem wissenschaftlichen Apparat in französischer Sprache versehen. Allein der erste Band ist in englischer Sprache. Das dadurch vorliegende Aktenmaterial ist beachtlich. Es enthält die Botschaften und Reden des Papstes und den Briefwechsel Pius XII. mit weltlichen und kirchlichen Würdenträgern. Weiter enthält es die Noten des Staatssekretariats, interne Noten, die von Mitarbeitern für ihre Vorgesetzten verfaßt wurden, um Informationen weiterzuleiten oder Vorschläge zu machen. Schließlich die zwischen dem Staatssekretariat und dem beim Hl. Stuhl akkreditierten diplomatischen Corps ausgetauschten Noten und die Korrespondenz des Staatssekretariats mit den im Ausland wirkenden päpstlichen Diplomaten. Dennoch kommt gerade in neuester Zeit immer wieder die Frage nach der Vollständigkeit auf. Die wurde unter anderem durch die Memoiren von Gerhart Rieger, der während des Krieges in der Schweiz Informationen für den Vatikan sammelte und weiterleitete, in Frage gestellt. Er weist darauf hin, dass in den Dokumenten eine höchst wichtige Denkschrift fehlt, die er am 18. März 1942 dem päpstlichen Nuntius in Bern übergeben hat. Es ging darin um die Lage der Juden in einigen katholischen Ländern.

Nach John Cornwells Buch 1999 und einer Analyse des einheimischen Historikers Giovanni Miccoli ein Jahr später setzte Papst Johannes Paul II. erneut eine Wissenschaftlerkommission ein. Diese bestand aus drei Katholiken und drei Juden und hatte die Aufgabe, die Rolle von Papst Pius XII. anhand des vorhandenen Aktenmaterials zu untersuchen. Des weiteren bestand aber auch die Aufgabe, das Aktenmaterial auf seine Zuverlässigkeit hin zu überprüfen. Die Studiengruppe kritisierte, dass in den vorhandenen Dokumenten nur eine Auswahl der archivierten Dokumente zu finden ist und verlangte Zugang zu den Archiven. Dieser wurde jedoch vom Vatikan verwehrt mit der Begründung, die Akten seien noch nicht gesichtet. Peter Gumpel, der sich mit dem Seligsprechungsverfahren von Papst Pius XII. beschäftigt, wurde ein 47 Fragen umfassender Fragenkatalog zu speziellen Dokumenten, zu dem gesamten Dokumentenkatalog sowie zu generell entstandenen Fragen vorgelegt. 12 davon wurden in einem Gespräch geklärt. Nach internen Streitigkeiten wurde jetzt die Studiengruppe für gescheitert erklärt.

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Literatur

Benz, Wolfgang / Hermann Graml /Hermann Weiß: Enzyklopädie des Nationalsozialismus, München 1997.

Benz, Wigbert / Bernd Bredemeyer / Klaus Fieberg: Nationalsozialismus und Zweiter Weltkrieg. Beiträge, Materialien Dokumente. CD-Rom, Braunschweig 2004.

Kammer, Hilde / Elisabet Bartsch / Manon Eppenstein-Baukhage / Manon Eppenstein- Baukhage: Lexikon Nationalsozialismus, Berlin 1999

Blet, Pierre: Papst Pius XII. Und der Zweite Weltkrieg. Aus den Akten des Vatikans. Paderborn 2000.

Brzoska, Emil: Porträt der Päpste. Pius XII. bis Johannes Paul II. 1939 – 1979. Festgabe an Hubert Thienel. Köln 1979.

Cornwell, John: Papst Pius XII. Der Papst, der geschwiegen hat. München 1999.

Friedländer, Saul: Pius XII. und das Dritte Reich. Eine Dokumentation. Reinbek bei Hamburg 1965.

Goldhagen, Daniel Jonah: Die katholische Kirche und der Holocaust. Eine Untersuchung über Schuld und Sühne. Berlin 2002.

Gotto, Klaus & Repgen, Konrad (Hg.): Die Katholiken und das Dritte Reich. Mainz 1990.

Gutman, Israel / Eberhard Jäckel / Peter Longerich (Hrsg.): Enzyklopädie des Holocaust. Die Verfolgung und Ermordung der europäischen Juden. München 1998

Hochhuth, Rolf: Der Stellvertreter. Reinbek bei Hamburg 1963.

Lewis, Jonathan: Dokumentarfilm „The Silence of Pius XII“, BBC 1996, deutsche Übersetzung „Der Papst, die Juden und die Nazis“, Arte 2002

Sanchez, Jose M.: Pius XII. und der Holocaust. Anatomie einer Debatte. Paderborn 2003.