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Chiracs Partei für EU-Referendum
Vorpreschen Sarkozys - Nachziehen Juppés
Frankreichs Präsidialpartei hat sich für eine Volksabstimmung über die künftige EU- Verfassung ausgesprochen. Wegen der Gefahr einer ablehnenden Mehrheit zögert Präsident Chirac indes eine Entscheidung darüber noch immer hinaus.
Ch. M. Paris, 10. Mai
Frankreichs Finanzminister Sarkozy hat mit seinem Eintreten für eine Volksabstimmung über die künftige EU-Verfassung die gesamte Regierungspartei Union pour un mouvement populaire (UMP) in dieser Frage auf einen riskanten Kurs festgelegt, der Präsident Chirac unter zusätzlichen Druck setzt. Das Parteiparlament der UMP applaudierte am Wochenende dem Vorschlag des Publikumslieblings und Politstars Sarkozy ausgiebig. Wenig später blieb dem Parteipräsidenten Juppé kaum etwas anderes übrig, als seinerseits für die Abhaltung eines Referendums zu plädieren. Ein entsprechender Zusatz wurde in die parteioffizielle Motion aufgenommen. Wie vor ihm auch Sarkozy wies Juppé allerdings darauf hin, dass die Entscheidung über die Ratifizierung der Verfassung entweder in einer Volksabstimmung oder im normalen parlamentarischen Verfahren in letzter Instanz einzig durch Präsident Chirac gefällt werden könne.
Absprache mit dem Elysée
An die Prärogativen des Staatschefs erinnerte wenig später Premierminister Raffarin, indem er dazu aufforderte, jeder solle an seinem Platz bleiben. Auch Aussenminister Michel Barnier wies darauf hin, dass die EU-Verfassung noch gar nicht verabschiedet sei. Sarkozy hatte in Vorwegnahme absehbarer Einwände ausdrücklich versprochen, dass er sich gegenüber Chiracs Entscheidung, wie immer sie auch ausfalle, solidarisch verhalten werde. Mit kaum verhohlener Ironie fügte er hinzu, der politischen Formation, die den Präsidenten unterstütze, sei es nicht verboten, Ideen und gelegentlich sogar Überzeugungen zu haben. Der Finanzminister hatte die Stimmung des Parteivolkes richtig eingeschätzt; enormer Applaus zeigte an, dass die meisten Gaullisten und auch die übrigen in der Präsidialpartei aufgegangenen Formationen der parlamentarischen Rechten in einer solch wichtigen Frage wie der EU-Verfassung eine direkte Konsultation der Wählerschaft wünschten. Juppé selber hatte wenige Tage zuvor in kleinerem Kreis das Gleiche gesagt, wenn auch vorsichtshalber noch angefügt, er vertrete seine persönliche Meinung. Nun versicherte er, für ein Ja zur EU-Verfassung eintreten zu wollen, sofern diese dem jetzt vorliegenden Entwurf im Wesentlichen entspreche.
Ganz ohne Absprache mit dem Staatschef gesellte sich die UMP nicht zum Lager der Referendumsbefürworter. Juppé hatte offenbar das Problem bereits drei Tage zuvor mit Chirac erörtert. Gleichwohl erinnerte dann das Elysée kurz nach der Verabschiedung der UMP-Motion in einer leicht pikierten Verlautbarung daran, dass der Zeitpunkt für eine Entscheidung über das Ratifizierungsverfahren noch nicht gekommen sei und der Präsident zu gegebener Zeit seinen Entschluss treffen werde. Zusammen mit dem britischen Premierminister Blair bemühte sich Chirac gleichentags um Zurschaustellung weitgehender Übereinstimmung bei einer Diskussion mit Jugendlichen im Präsidentenpalais. Blairs Entscheid für ein EU-Referendum bedeutete eine unangenehme Überraschung für Chirac; in der Türkei-Kontroverse liegen dagegen die Standpunkte nahe beieinander. Juppé hatte schon zuvor bezüglich eines - nun von der UMP abgelehnten - EU-Beitritts der Türkei etwas taktische Distanz zum Staatschef markiert. Dabei berief er sich sogar auf das Vorbild des einstigen sozialistischen Premierministers Fabius, der vor zwei Jahrzehnten, als Mitterrand den polnischen Machthaber Jaruzelski empfing, seine Missbilligung dieser Demarche des Staatschefs in die Worte gefasst hatte: «Lui c'est lui, moi, c'est moi.» Diese Formulierung könne man wieder gebrauchen, meinte nun Juppé.
Überraschte Konkurrenz
Als Parteipräsident gedenkt Juppé im Juli zurückzutreten; für September hat er die Niederlegung seines Abgeordnetenmandats vorgesehen. Im Oktober geht das Revisionsverfahren in seinem Prozess wegen illegaler Parteifinanzierung über die Bühne; in erster Instanz war Juppé im Januar zu 18 Monaten Gefängnis auf Bewährung und zur Aberkennung seiner Wählbarkeit auf 10 Jahre verurteilt worden. Der Abschied von der Politik - ob definitiv oder nur vorübergehend, ist unklar - mag es dem UMP-Parteichef psychologisch erleichtern, grössere Autonomie gegenüber seinem Ziehvater Chirac in Anspruch zu nehmen. Mit dem offiziellen Einschwenken auf die Referendumslinie gelang ihm indes vor allem ein Überraschungseffekt. Sarkozy wurde völlig der Wind aus den Segeln genommen.
Juppés Taktik argumentativer Umarmung liess zudem alle anderen Referendumsbefürworter der Konkurrenz im angelaufenen EU-Wahlkampf sprachlos zurück. An erster Stelle verlor der Zentristenchef Bayrou sein wahlkampfpolitisches Steckenpferd. Vom hohen Ross herunter purzelten jedoch auch die Rechtsextremisten Le Pens, die nationalistischen Souveränisten und - auf der entgegengesetzten Seite - die Kommunisten. Sie alle plädierten seit langem für eine Volksabstimmung und finden sich nun plötzlich Seite an Seite mit der Regierungspartei. Zugleich machen die Sozialisten eine noch schwächere Figur. Sie möchten sich durch den EU-Wahlkampf allein mit schönen Slogans für ein «soziales Europa» schlängeln und den Urnengang in ein neues Strafvotum für die Regierung Raffarin verwandeln. Über die EU- Verfassung sind sie indes heillos gespalten, und auch die Knacknuss Türkei fassen sie ernsthaft gar nicht erst an.
Neue Zürcher Zeitung, 11. Mai 2004 |
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