grau
grau
mare No. 39: SCHIFFE MACHEN GESCHICHTE

SCHIFFE MACHEN GESCHICHTE

Revolutionäre Konstruktionen wie Langschiff, Karavelle und Galeone haben über Aufstieg und Fall von Imperien entschieden


Ein Essay von Christian Heynen


Textauszug

Die fortgeschrittensten Nationen, konstatierte der amerikanische Philosoph Ralph Waldo Emerson, sind immer diejenigen, die Schifffahrt treiben. Das Vehikel ihres Erfolgs ist ergo das Schiff, denn in dem Maß, wie Schiffbauer mit neuen Entwürfen die eigenen geistigen Horizonte erweiterten, dehnten sie die bis dato geltenden räumlichen Horizonte und Machtverhältnisse aus. Die menschliche Entwicklung vom Höhlenbewohner zum Homo technicus des 21. Jahrhunderts, ja unsere gesamte Geschichtsschreibung ist auf das Engste mit der Eroberung und Nutzung der Meere durch immer bessere Schiffskonstruktionen verbunden.

In meiner Kindheit versuchte ich gelegentlich selbst, das Wasser mit Konstruktionen der Marke Eigenbau zu erobern. Ein paar Plastikfässer und Holzpaletten miteinander vertäut, fertig war der Dampfer. Gott sei Dank, dass Noah ein besserer Schiffbauer war als ich, anderenfalls wäre es zu diesen Betrachtungen kaum noch gekommen. Seine Arche ist sicherlich der historische Prototyp eines Schiffbaus, der den Gang der Geschichte beeinflusst hat. Die Liste solcher Zäsuren im Lauf unserer Entwicklung ist lang; drei Beispiele mögen dies illustrieren: Die Galeone des englischen Schiffbauers Matthew Baker verhinderte 1588 die Invasion der Spanier, ihre Armada wurde vernichtend geschlagen. Die Spanier ihrerseits wären ohne die Karavelle nie zur Weltmacht aufgestiegen. Und ohne das Langschiff der Wikinger sähen die Europäer heute anders aus. Warum wohl haben die Iren rote Haare? Und wie kommt es, dass wir auf Reisen durch Apulien oder Sizilien naturblonde, hellhäutige Italiener treffen?

Es handelt sich dabei im wahren Sinn des Wortes um das Erbe der Wikinger.
Von Neufundland an der Ostküste Amerikas bis ins Zweistromland, von Island bis zur Nordküste Afrikas - die Spuren der Nordmänner sind bis auf "Down Under" auf jedem Kontinent zu finden. Was diese maritime Expansion ausgelöst hat, ist umstritten; unwiderlegbar ist aber, dass sie erst durch grundlegende Veränderungen im Schiffbau möglich wurde. Der entscheidende Impuls lag in der Kombination der Antriebsquellen: Bei günstigen Winden setzten die Wikinger ein Rahsegel aus Wolle, das sie mit Pferdefett wasserabweisend imprägniert hatten, bei widrigen Bedingungen wurde der Mast gelegt, und die Männer legten sich in die Riemen. Ein durchgehender Kiel garantierte Richtungsstabilität und Seetüchtigkeit, die Rümpfe wurden in Klinkerbauweise gefertigt, wobei die einzelnen Eichenplanken wie Dachziegel übereinander griffen. Die Schiffe waren so entworfen, dass sie den Wellen in einem gewissen Grad flexibel nachgaben.

Dass die Karavelle auf Kiel gelegt wurde, verdanken die Entdecker einer Vision des portugiesischen Prinzen Heinrich des Seefahrers, der die Westküste des afrikanischen Kontinents erforschen wollte. Ein für damalige Verhältnisse ketzerisches Unter- nehmen, denn das Ufer des heutigen Marokko galt als das Ende der bekannten Welt. Doch nicht nur diese psychologische Barriere des ausgehenden Mittelalters musste durchbrochen werden; es musste auch ein Schiff gefunden werden, das einerseits sowohl die Untiefen entlang Afrikas Küste befahren als auch dem Wellengang des Atlantiks trotzen konnte und andererseits in der Lage war, bei der Rückreise gegen den Nordostpassat zu kreuzen.

Die Lösung war ein bis zu 20 Meter langes Schiff, dessen Planken stumpf aufeinander stießen - eine Revolution im Bootsbau, die erste glatte Außenhaut. Ihr Vordersteven war der atlantischen Wellenamplitude angepasst, zwei, später drei Lateinersegel gewährleisteten gute Segeleigenschaften am Wind.

Der Stapellauf dieser kleinen, autarken Einheit war gleichsam der Startschuss für abenteuerhafte Expeditionen und Reisen, vergleichbar mit den ersten Flügen der Apollo-Raumkapsel ins All. Es entbehrt nicht einer gewissen Ironie, dass das spanische Weltreich, das auf dem Kiel eines neuen Schiffstyps errichtet wurde, durch eine überlegene Schiffskonstruktion sein Ende fand. Dieses Mal stammte sie aus England.

Die Beute aus den Kolonien entfachte zwangsläufig das Interesse anderer aufstrebender Staaten, die in der Folge den spanischen Hegemonialanspruch in Frage stellten. Insbesondere das damals eher unbedeutende Inselreich England wollte teilhaben an dem Reichtum aus Übersee. Den Höhepunkt dieses Konflikts markiert das Jahr 1588, als Spaniens Philipp II. 130 Schiffe aussandte, um ein 20000 Mann starkes Invasionsheer nach England überzusetzen.

Philipps Galeonen waren monströse und vor allem schwerfällige Kolosse mit ausladenden Achter- und Bugkastellen, mehrere Stockwerke hoch, mit einer Verdrängung von bis zu 2000 Tonnen und Platz für mehrere tausend Soldaten. Bei Calais trafen sie auf eine Flotte überraschend kleiner Segler, die alle geltenden Seekriegsregeln über den Haufen warfen. Die englischen Schiffbauer hatten unter der Anleitung ihres "Master Shipwright" Matthew Baker (1530-1613) auf ihren Schlachtschiffen radikal die Kastelle entfernt; Galeonen wie die legendäre "Revenge" des Seehelden Sir Francis Drake hatten schmale, lange Rümpfe, sie waren schnell und wendig. Ihre herausragenden Segeleigenschaften wurden mit einer völlig neuen Wertschätzung der schiffseigenen Artillerie gekoppelt.

Obwohl die Planken der englischen Galeone, der hispanischen Karavelle und des normannischen Langschiffs schon seit Jahrhunderten von unseren Weltmeeren verschwunden sind, wirken ihre Leistungen bis heute nach - drei Schiffe als Reaktion auf innere oder äußere Notwendigkeiten, stellvertretend für den bedeutsamen Einfluss des Schiffbaus in der menschlichen Historie.

Christian Heynen, Jahrgang 1973, lebt in Remscheid und arbeitet seit Abschluss seines Studiums der Theater-, Film- und Fernsehwissenschaften als freier Autor. Bei Recherchen für eine ZDF-Dokumentation über Ideen, die die Welt veränderten, stieß er in Portugal und in England auf die bahnbrechende Bedeutung der Karavelle und der Galeone. Zurzeit arbeitet er an einem Film über die ersten U-Boote der Weltgeschichte.



grau
 Inhalt mare No. 39
Pfeil Die Verbannten
Pfeil Ostseeperlen
Pfeil Lietzows Leben
Pfeil Lebenskünstler
 Schwerpunkt
PfeilDie Megawerft
PfeilAn den kleinen Schrauben drehen
PfeilDer Nachtfalter
PfeilStrandung am Ararat
PfeilSchiffe machen Geschichte
PfeilPorträt der jungen Königin
PfeilTradition und Zuckerguss
PfeilSchwein, Weib und Gesang
PfeilDie Materialschlacht
PfeilFórcola
  Titelbild
mare No. 39 bestellen
 Rubriken
Pfeil Kombüse
Pfeil Pitcairn
Pfeil Im Netz


Pfeil  Suche
Pfeil  Linktipps
Pfeil  Umfrage


Heft + mareTV DVD


grau
grau grau grau


grau grau grau