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mare No. 39: TRADITION UND ZUCKERGUSS

TRADITION UND ZUCKERGUSS

Wenn die Schiffbauer den Neubau des Luxusliners abgeliefert haben, rücken die Ausschmücker zu seiner Vollendung an. Für die "Queen Mary 2" haben sie mehr als 5000 Kunstwerke ausgewählt

Von Hans-Christof Wächter


Textauszug

Im November 2000 überraschte die Liebhaber des in die Jahre gekommenen Transatlantik-Liners "Queen Elizabeth 2" folgende Meldung: "Die Cunard Line gibt bekannt, dass sie heute die Werft Alsthom Chantiers de l'Atlantique im französischen Saint-Nazaire beauftragt hat, das weltweit größte Passagierschiff zu bauen, die ,Queen Mary 2'." Der Ankündigung folgten Zahlen, wie Reedereien sie lieben: Baukosten von 780 Millionen Dollar, 345 Meter Länge, 150000 Bruttoregistertonnen, 157000 PS, 30 Knoten Geschwindigkeit, 2620 Passagiere, 1254 Männer und Frauen Besatzung.

Eine Nachfolgerin für die "QE 2" im Transatlantikdienst würde es nicht geben - zu teuer, darin waren sich die Auguren einig gewesen. Aber sie hatten die Rechnung ohne Cunards Traditionsbewusstsein und eine clevere Überlegung gemacht: Nostalgie rechnet sich.

Und - das zeigen die Pläne und der Rohbau im Dock von Saint-Nazaire - trotz seiner gigantischen Größe wird es wirklich ein Schiff. Kein Spaßkreuzer mit aufgeschminktem Kussmund, kein hochgetürmt schwimmendes Disneyland - viel- mehr ein eleganter Liner in der Tradition der großen Cunard-Schiffe, der "Mauretania", "Queen Mary", "Queen Elizabeth" und "QE 2". Blauschwarz der Rumpf, rot abgesetzt über der Wasserlinie, mit schmal geschnittenem, kühn vorspringendem Clipper-Bug, schneeweiß die Aufbauten.

Vor allem aber: ein Liner. Elizabeth übergibt das Zepter an Mary. Wenn auch Kreuzfahrten den Hauptteil ihrer Agenda füllen, 15 Mal wird die Königin 2004 den Atlantik im Liniendienst queren. Beim Wechsel von "QE 2" zu "QM 2" werden sich Liebhaber der Königinnen bei allem Komfort und allen Innovationen - dem ersten Planetarium an Bord eines Schiffes - auch in der weltweit größten schwimmenden Galerie moderner Kunst wiederfinden. Vor mehr als zwei Jahren schon sind Gemälde, Skulpturen, Reliefs, Gobelins, Grafiken sonder Zahl weltweit in Auftrag gegeben worden. "Bei den Annehmlichkeiten für die Passagiere", sagt der Kunsthistoriker Erik Hermida, "ist Kunst der Zuckerguss auf der Torte."

Mit Bedacht aber haben die Designer bei aller Modernität der Innenausstattung sichtbare Traditionslinien zurück in die glanzvolle große Zeit der Ocean Liner gezogen. Die nahm ihren Ursprung am 5. Januar 1818, als erstmals ein Dreimaster, die "James Monroe", ausgestattet zur Beförderung von Passagieren, mit festem Abfahrtstermin von New York Richtung England aufbrach. Das war neu. Bislang waren Passagiere Beiladung auf Frachtschiffen, hatten zu warten, bis die Ladung beisammen war, mussten sich bescheiden - ein Strohsack als Bett, die große Suppenschüssel für alle. Auf der "James Monroe" flankierten Marmorsäulen die Kabinentüren, und an den getäfelten Wänden der Messe hingen Radierungen englischer Schlösser. Schon der erste Reeder im Transatlantikdienst nutzte nobles Design und gefällige Kunst, seine Passagiere zu beeindrucken. Und setzte Maßstäbe.


Das Rennen hatte begonnen. Ein Wettrennen nicht nur ums Blaue Band, vor allem um Passagiere. Natürlich zählte Geschwindigkeit, nicht minder aber auch Bequemlichkeit und Luxus. Der Prestigewert war ein entscheidender Faktor bei der Wahl des Schiffes. Speisesäle à la Versailles, Suiten im Renaissancestil, byzantinische Kapellen, pompejanische Bäder, ägyptische Rauchzimmer - die Reeder rüsteten auf. Der Pomp des Dekors, die wilde Mixtur der Stile, das "Steamboat Baroque", nahm immer groteskere Formen an, wucherte in den wilhelminischen Großschiffen am bombastischsten.

Irgendwo hierzwischen, zwischen Traditionalismus und hochglanzveredelter Stromlinienförmigkeit, zwischen ehrlichem Stilwillen und parvenühaftem Auftrumpfen im Chic der Start-up-Generation musste auch das "QM 2"-Designteam seine Linie finden.

Noch schwieriger aber die Aufgabe von Onderneming & Kunst / Enterprise & Art (O & K). Die Amsterdamer Firma mit sechs jungen engagierten wie geschäftstüchtigen Kunsthistorikern hat sich in den 15 Jahren ihres Bestehens zum führenden Unternehmen auf dem Sektor der Ausstattung von Luxuspassagierschiffen mit Kunst hochgearbeitet. Die Krönung: der Fünf-Millionen-Dollar-Auftrag, den ultimativen Cunard-Liner zu schmücken.

Das hieß nicht weniger, als 562 Kunstwerke für die öffentlichen Räume, für Restaurants, Ballsäle, Lounges, Lobbys, Foyers, Treppenhäuser, für Theatersaal, Schwimmbad, Casino, Kindergarten und Bibliothek in Auftrag zu geben und 683 weitere aufzukaufen. Das reicht vom 130 Quadratmeter großen Trompe-l'œil-Deckengemälde über Zyklen aus Hinterglasbildern und Holzreliefs von je neun Meter Länge bis zum sieben mal sieben Meter großen Flachrelief aus Bronze, das die "QM 2" auf ihrem Weg zwischen den Kontinenten zeigt. Außerdem sind Kabinen und Suiten mit 3400 Originalgrafiken und Drucken zu bestücken. Es ist für jeden Geschmack gesorgt, für den genügsameren zumal und zuhauf.

Hans-Christof Wächter ist Spezialist für Luxus und Linienschiffe. Der in Berlin lebende Autor fuhr für mare No. 1 mit der "QE 2" über den Atlantik, und in No. 15 schrieb er über das Blaue Band, die Rekordjagden der Luxusliner zwischen Amerika und Europa.




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 Inhalt mare No. 39
Pfeil Die Verbannten
Pfeil Ostseeperlen
Pfeil Lietzows Leben
Pfeil Lebenskünstler
 Schwerpunkt
PfeilDie Megawerft
PfeilAn den kleinen Schrauben drehen
PfeilDer Nachtfalter
PfeilStrandung am Ararat
PfeilSchiffe machen Geschichte
PfeilPorträt der jungen Königin
PfeilTradition und Zuckerguss
PfeilSchwein, Weib und Gesang
PfeilDie Materialschlacht
PfeilFórcola
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