grau
grau
mare No. 39: DER NACHTFALTER

DER NACHTFALTER

Wer zuletzt sinkt, gewinnt. Bei der Weltmeisterschaft der Papierbootbauer ist der Untergang das Maß aller Dinge.

Text: Dimitri Ladischensky
Fotos: Heike Ollertz

Tagsüber tüftelt Schiffbauer Jackstell an Containerfrachtern auf der Stralsunder Volkswerft, nach Feierabend faltet er für die apierboot-Weltmeisterschaft der Uni Rostock. Im wahren Leben gibt's den Germanischen Lloyd. Im Wettkampf nur den Untergang.



Ein Tropfen hat das Schiff versenkt. Abgesondertes Drüsensekret aus der Nase eines Jurors, eine schweißnasse Stirn, möglicherweise auch eine Träne, eine nicht abgetrocknete Hand. Menschliches Versagen. Das Schiff: schuldlos. Vier Monate hatte Bodo Jackstell an den Entwürfen für das Papierschiff gearbeitet, abends, wenn er von der Stralsunder Volkswerft nach Hause kam und man meinen konnte, er müsste erst noch hinter Gardinen warten, bis sich das Gewitter von Hammerschlägen aus seinem Kopf verzogen hatte.

Schreibtischlicht zu später Stunde. Bodo, der Nachtfalter. Knistern und Rascheln. Wann hat er schon einmal die Genugtuung, ein verpfuschtes Schiff in der Hand zerknüllen zu können? Stunden hat er in Schreibwarenläden nach dem Kleber mit dem meisten Lösungsmittel gesucht - "verdunstet und spart Gewicht". Tage über Excel-Computertabellen gebrütet und sich zum Faltbootprinzip durchgerungen. "Viel Gewicht in Aussteifung, wenig in die Außenhaut." Dann der Einfall mit den Zugbändern. "Unter Druck knautscht Papier, aber zugstark ist es." Was an Wasserkraft den Rumpf quetscht, hat er umgelenkt auf Zugbänder, die das Schiff auseinander ziehen. Vier weitere Wochen geklebt und geschnitten, Papier um Zeltheringe gerollt, herausgezogen - fertig waren die Spanten. Der Clou mit dem Seidenpapier für die Außenhaut. Extrem leicht und wasserfest. Butterbrotpapier für die Zugbänder. Nicht schwerer als zehn Gramm darf das Schiff sein und nur aus Papier. Kleber und Schere sind erlaubt. Das ist die Wettkampfregel der Papierboot-Weltmeisterschaft.

Der Tag des Untergangs. Auf einer Auslage die Zier der Schiffstäuflinge. Pink und grün, manche schachtelförmig, manche bauchig. Einige sind in luftdicht verschweißtem Cellophan angereist, Jackstells Schiff kam per Post-Express. Der Meister selbst hatte auf der Werft zu bleiben.

Die Zugbänder sind der Hingucker, manchen beschlägt es die Brille. Andere blicken gelangweilt zur Seite - gäbe es da was zu schauen? Gesichter mit Lippenbartflaum und unreiner Haut. Dresscode: Sweatshirt mit Emblem der Schule. Man stellt sie sich in ihrer Freizeit in weißen Schutzkitteln vor, wie sie bunte Zutaten in brodelnde Flüssigkeiten gießen.


Der Beladungstest. Ein Papierschiff nach dem anderen wird in ein Becken zu Wasser gelassen und mit Luftgewehrmunition gefüllt, bis es sinkt. Die untergegangene Ladung wird aufgelesen und gewogen. Wer am meisten vertragen hat, gewinnt. Rings um das Becken wachen die Eigner. Ob denn auch die nassen Bleikugeln mit dem Föhn befächelt werden, bis das Trockengewicht wieder hergestellt ist. Gleiche Bedingungen für alle. Jackstell ist als einer der Letzten dran. Bleikugeln, vier Gramm das Stück und gestiftet vom Jagdverein, klickern in den Bauch des Schiffchens. Mit jedem Schwall taucht es tiefer ein. Zugbänder spannen sich.

Der Juror hätte sich auch über seine Kaffeetasse beugen können. Die Striemen waren nur auf einer Seite imprägnierbar. Auf die andere fiel der Tropfen. Das Band knallte. Jackstell fiel auf einen hinteren Platz. Das war im Jahr 2000. Hundejahre multipliziert man mit sieben. 2001 hätte Faktor 14 verdient: die Sache mit dem Faserdarmpapier, ein Hauch von Knittergewebe, das sich, wie sich zeigte, bräunlich löst wie Instantkaffee. 2002 doppelter Untergang mit "B(l)eiboot II" und "B(l)eiboot III". Dieses Jahr? "Wenn ich morgen gewinne, bin ich ab davon."

Als sich vor sieben Jahren an der Universität Rostock genau zwei Studenten für den Hauptstudiengang Schiffbau einschrieben, suchten gestandene Maschinenbauer Hilfe in der Fachfremde und bemühten das Psychodeutsch. Dekan Robert Bronsart sprach vom "Verlust einer frühkindlichen Bindung". Das Schiff, das wohl jeder in der Badewanne gehabt habe - im beruflichen Werdegang tauche es selten wieder auf. Schuld sei das "Bild vom nietenklopfenden, schmutzigen Raubein", meint ein Kollege. Nicht besser präsentierten sich die Werften, zumal in Rostock. Abwicklungen, Fusionen, Entlassungen.

Seit 1997 greift die Strukturförderung Marke Origami. Veranstalter des "Internationalen Wettbewerbs: Das Papierschiff" ist das Institut für Maritime Systeme und Strömungstechnik der Uni Rostock. 92 Teilnehmer sind es in diesem Jahr, die meisten von ihnen Schüler. International ist die Cola, die ausgeschenkt wird. Zwar gibt es mittlerweile mehr Schiffbaustudenten, doch Bronsart "hat noch keinen getroffen, der es geworden ist wegen der Papierschiffchen". Schon gar nicht Jackstell. Die Lenkungskommission der DDR hatte ihn damals zurück in die Badewanne beordert. Berufsvorgabe: Spezialschiffbau. Kriegsmarine.

Als Schüler hat er bei einer Mathe-Olympiade den dritten Platz gemacht. Einer, der im Supermarkt der Kassiererin die Summe seiner Einkäufe aufs Komma vorhersagen könnte. Für den die Welt berechenbar sein muss, am besten in Formeln, Gleichungen, Funktionen. "Wie alt sind Sie?" Jackstell rechnet: "1966 geboren ... 36, ja 36 bin ich." Als er 1995, arbeitslos, auf einer Halde in Königs Wusterhausen Schrott brannte, hörte er vom Wettbewerb der Bauingenieure. Die stabilste Brücke aus Papier. Solange sie den Schwermut eines Unbeschäftigten trug: gut. Es kam noch besser, seine Konstruktion wurde einen Eintrag ins "Guinness-Buch der Rekorde" wert: 150 Gramm Papier, die über 300 Kilo tragen. Damals wurde "ich ein Fan von Optimierungen genereller Art". Seit 2000 ist er Festigkeitsberechner bei der Volkswerft Stralsund und verantwortlich dafür, dass ein Schiff schwimmt. Thema seiner Diplomarbeit: "Imperfektionsanfälligkeit von Deckskonstruktionen". Die Verwandten sagen: "Lass man gut sein mit der Optimiererei. Es gibt auch noch anderes." Wenn er angeln geht, ist ihm anders, sagt er, oder wenn er durch Wälder streift und Wild beobachtet. "Dann denke ich nicht an so was - sonst könnte ich meine Eindrücke ja nicht optimal genießen."


Mit den Brücken war er durch. Aber das Papierschiffchen, welches jeder schon einmal gefaltet hat - das eine, mit dem Segeldreieck in der Mitte -, hätte eine Faltencreme verdient. Das Prinzip des Archimedes besagt: Was viel verdrängt, trägt auch viel. Wird Papier nun doppelt und dreifach übereinander gefaltet, geht Nutzfläche verloren. Jackstell optimierte, der Rest ist bekannt.

11. April 2003, Wettkampftag. Für vier Kilo lege er seine Hand ins Feuer, sagt Jackstell, fünf seien nicht unrealistisch. Als die ersten Kügelchen auftupfen, tränkt sich der Rumpfboden. Spannpapier aus dem Flugzeugmodellbau leistet Optimales - zu Luft. Und mit Bleifreiem. Weitere 2,6 Kilo, und das Boot sackt auf den Grund. Platz sechs.

Was Jackstell jetzt noch aufrichten kann, ist die neueste Ausschreibung der Bauingenieure: der stabilste Hochspannungsmast aus Pasta. Was sich die Professoren dabei gedacht haben? Kinder, morgen ist Miracoli-Tag!

Dimitri Ladischensky, 31, ist mare-Redakteur für Reisen und Genuss.
Heike Ollertz, geboren 1967, freie Fotografin in Berlin, hat Hüte aus Zeitungen gefaltet, wenn sie anstreichen musste. Für ein Schiff hat es nie gereicht.



grau
 Inhalt mare No. 39
Pfeil Die Verbannten
Pfeil Ostseeperlen
Pfeil Lietzows Leben
Pfeil Lebenskünstler
 Schwerpunkt
PfeilDie Megawerft
PfeilAn den kleinen Schrauben drehen
PfeilDer Nachtfalter
PfeilStrandung am Ararat
PfeilSchiffe machen Geschichte
PfeilPorträt der jungen Königin
PfeilTradition und Zuckerguss
PfeilSchwein, Weib und Gesang
PfeilDie Materialschlacht
PfeilFórcola
  Titelbild
mare No. 39 bestellen
 Rubriken
Pfeil Kombüse
Pfeil Pitcairn
Pfeil Im Netz


Pfeil  Suche
Pfeil  Linktipps
Pfeil  Umfrage


Heft + mareTV DVD


grau
grau grau grau


grau grau grau