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Früher Kampf um Anerkennung

Lange Zeit blieb es in der Schweiz still um die Armenische Frage. Seitdem sich 1920 der Tessiner CVP-Bundesrat und zuvor auch der liberale Genfer Gustave Ador im Völkerbund für das "Märtyrervolk" eingesetzt hatten, hat sich die offizielle Schweiz nicht mehr mit armenischen Vorstößen oder Forderungen auseinandersetzen müssen. Das sollte sich erst  Mitte neunziger Jahre ändern.

Begünstigt durch den absehbaren Zerfall der UdSSR, wurde am 21. September 1991 über eine Umwandlung der Sowjetrepublik Armenien in einen demokratischen Staat und den Austritt aus der Union abgestimmt. Ganze 92 Prozent der Bevölkerung hießen die Sezession ihres Landes gut. Schon kurz darauf anerkannte die Schweiz die unabhängig gewordene Hajastani Hanrapetutjun und nahm diplomatische Beziehungen auf. Um wirtschaftliche und kulturelle Beziehungen zwischen der Republik von Armenien und der Schweiz aufzubauen, wurde 1992 von James Karnusian, Hans Schellenberg und dem Altnationalrat Alexander Euler ein Verein mit dem Namen „Gesellschaft Schweiz-Armenien“ (kurz: GSA) gegründet. Ursprünglich war nicht ganz klar, welches genau die Zwecke dieser frisch gegründeten Gesellschaft sein sollen. Es gab verschiedene Projekte zur Hilfe beim Aufbau des Landes, wie auch zur Hilfe wegen den Schäden durch das große Erdbeben. Auch Projekte zum kulturellen Austausch wurden geplant, ebenso die Gründung einer Handelskammer. Dieses Vorhaben konnte jedoch wegen den „ungünstigen handelspolitischen Rahmenbedingungen“ bis heute noch nicht realisiert werden. Obwohl „die GSA die Anerkennung des Völkermordes anfänglich nicht zu ihren Kerngeschäften zähle“, wie Rupen Boyadjian von der GSA in einem persönlichen Gespräch erzählte, sollte diese Gesellschaft gerade in dieser Hinsicht eine entscheidende Rolle spielen. Mittlerweile steht auch der Kampf für die Anerkennung in den Statuten: Art 2 Absatz 4: „Der Verein kann selber aktiv werden oder unterstützt Einzelpersonen und Personengruppen in ihren Bemühungen zum Anerkennen des armenischen Völkermordes, rechtlich und politisch. Der Verein kann zu diesem Zweck Straf-, Zivil- und Verwaltungsverfahren führen. Der Vorstand ist zur Prozessführung ermächtigt.“

Die GSA begann schon kurz nach ihrer Gründung die Fühler auszustrecken und abzuklären, wie sie einen parlamentarischen Vorstoß lancieren könnten. Mit der sozialdemokratischen Nationalrätin Angeline Fankhauser konnten sie schließlich eine Frau finden, die bereit war, sich für die armenischen Belange in der Schweiz einzusetzen. Am 24. März 1995 war es so weit. Fankhauser, die mittlerweile ebenfalls Mitglied der GSA geworden war, fragte in einer Interpellation den Bundesrat, ob dieser bereit sei, den Völkermord an den Armeniern anzuerkennen und zu verurteilen, und was er zur Verhinderung künftiger Genozide zu tun gedenke. Dreißig weitere Parlamentarier unterzeichneten ebenfalls die Interpellation, der ein Begründungstext folgte, wieso die Anerkennung notwendig sei. Hierzu wurden vor allem vier Argumente genannt. So wurde erstens darauf hingewiesen, dass es sich um eine „systematische Vernichtung der armenischen Bevölkerung“ handle, wodurch der Vorwurf des Genozids überhaupt erst erhoben werden konnte. Zweitens wurde betont, dass das Fehlen von Folgen auf den Genozid an den Armeniern Hitlerdeutschland nahezu eingeladen habe, sein Vorgehen damit zu rechtfertigen, dass „niemand mehr nach dem Schicksal der Armenier während des Ersten Weltkrieges frage“. Drittens sei die Schweiz durch eine lange humanitäre Tradition mit Armenien verbunden. Schon 1896 seien in einer Petition zugunsten der Armenierhilfe mehr als 400’000 Unterschriften gesammelt worden. Diese Sammlung hat mit ihrer unglaublichen Menge an Signaturen natürlich ein großes Gewicht, zumal sie bis heute als die größte des Landes gelten darf. Viertens sei der Genozid schon von verschiedenen anderen internationalen Gremien anerkannt worden.

Am 16. August 1995 antwortete der Bundesrat in einer schriftlichen Stellungnahme. Mit dem Hinweis darauf, dass die Schweiz die UNO-Völkermordkonvention von 1948 noch nicht ratifiziert habe, lehnte der Bundesrat eine Anerkennung ab. Dennoch verurteilte er „die tragischen Geschehnisse, welche – nach Massendeportationen und -vernichtungen während den Aufständen und Kriegen am Ende der osmanischen Herrschaft, 1894 – 1922, insbesondere im Jahre 1915 – den Tod von äusserst vielen Armeniern zur Folge hatten (gemäß Angaben zwischen 800’000 und 1,5 Millionen Menschen)”.

Am 4. März 1996 wurde die Antwort des Bundesrats auf die Interpellation Fankhauser im Parlament besprochen. Dort wiederholte Bundesrat Flavio Cotti wörtlich die bundesrätliche Verurteilung der „tragischen Geschehnisse” gegenüber Angeline Fankhauser und fügte hinzu: „Wenn der Bundesrat diese klare und unmissverständliche Verurteilung macht, so ist das in meinen Augen ein eindeutig klares politisches Zeichen.“ Darüber hinaus versicherte Cotti, dass der Bundesrat sich bemühte, die seit der Annahme des Postulates Braunschweig im September 1988 blockierte Ratifikation der Völkermordkonvention „schleunigst vorwärts zu bringen”. Dies geschah schließlich am 24. März 2001 – mehr als 50 Jahre nach der Verabschiedung der Völkermord-Konvention der Vereinten Nationen.

Aus der vergleichsweise kurzen Debatte im Nationalrat lässt sich die Nutzbarmachung des Historikerstreits erkennen: während es für Frau Fankhauser ganz klar war, dass es sich um einen Genozid handelte, schwenkte der Bundesrat auf eine eher türkische Geschichtsschreibung ein und sprach von „Massendeportationen und Vernichtungen während den Aufständen und Kriegen am Ende der osmanischen Herrschaft“. Aufgrund der Quellenlage kann nur darüber gemutmaßt werden, wie ein solches Geschichtsbild zu Stande kommt. Es ist jedoch kaum anzunehmen, dass diese Optik aus einer einseitigen historischen Berichterstattung resultiert. Man darf vielmehr von in der Politik üblichen pragmatischen Überlegungen ausgehen.

Die GSA als Koordinatorin der Vorstöße wollte sich jedoch nicht mit einer Interpellation begnügen. Zeitgleich mit den Vorbereitungen im Parlament war die armenische Gemeinde damit beauftragt worden, Unterschriften für eine Petition zu sammeln. Wie die Interpellation Fankhauser verlangte auch diese Petition des „Armenischen Komitees für die Gedenkfeier“, wie sich die Initianten selbst nannten, die „offizielle Anerkennung des Tatbestandes des Völkermordes an den Armeniern und dessen Verurteilung“. Die Gründe, welche das Petitionskomitee geltend machte, entsprechen in etwa den Punkten, die auch in der Interpellation Fankhauser genannt wurden.  Bis zum 26. September 1995 waren rund 5000 Unterschriften zusammengekommen. Sie wurden so eingereicht, dass sie zusammen mit der Interpellation Fankhauser am 4. März 1996 im Nationalrat behandelt und zur Kenntnisnahme an den Bundesrat überwiesen werden konnte.

Ebenfalls am 4. März wurde eine Petition der Koordinationsstelle der türkischen Verbände in der Schweiz im Nationalrat behandelt. Wie die Basler Zeitung später berichtete, habe die Koordinationsstelle die fragliche Eingabe an die eidgenössischen Räte, die am 30. Januar 1996 mit ca. 4200 Unterschriften eingereicht worden ist, in Absprache mit der türkischen Botschaft einstimmig beschlossen. Die Petition darf als eine Reaktion auf die Unterschriftensammlung der armenischen Gemeinde verstanden werden. Entsprechend war, wie schon der Titel nahe legt, die „Verurteilung der Kampagne des armenischen Komitees für die Gedenkfeier“ ihr primäres Ziel. Mittels der Petition sollten die eidgenössischen Räte davon überzeugt werden, dass solche Kampagnen zu verurteilen seien, weil sie angeblich beabsichtigten, die Völker mit ethnischen und religiösen Motiven auseinanderzutreiben. Zudem wurden in einer längeren historischen Herleitung, welche die bereits bekannte türkische Position widergibt, die Verbrechen der osmanischen Regierung gerechtfertigt und verharmlost. Die Stossrichtung dieser Petition lag klar in der Behauptung, dass es sich bei den Geschehnissen während des Ersten Weltkrieges im Osmanischen Reich nicht um einen Völkermord gehandelt habe und es deshalb auch keinen Völkermord gebe, den man anerkennen könnte. Vielmehr wurde die schon mehrmals erwähnte Dolchstosslegende kultiviert und die osmanischen Aktionen als „Antwort auf diesen Verrat“ und als „Selbstverteidigung“ beschönigt. Auch diese Petition wurde an den Bundesrat überwiesen.

Nach einigem Zögern entschloss sich die Gesellschaft Schweiz-Armenien gegen die Urheber der Petition Anzeige zu erstatten. Da sich die GSA nicht alleine exponieren wollte, suchte sie einen Schulterschluss mit zahlreichen weiteren Organisationen – unter ihnen das Hilfswerk der Evangelischen Kirchen der Schweiz, Caritas Schweiz und die Gesellschaft für bedrohte Völker. Im April 1997 kam es zur Anzeige. Da das Kreisgericht  Bern-Laupen die GSA als Anklägerin ablehnte, musste aus verfahrenstechnischen Gründen eine Privatklage eingereicht werden. Diese wurde von zwei armenischstämmigen Privatpersonen geführt: Sarkis Shahinian, der eine wichtige Stellung in der GSA einnahm, und Aram Djambazian, einer der letzten Überlebenden des Völkermords an den Armeniern. Er ist mittlerweile am 11. Mai 2003 gestorben. Der angeklagte Vorstand der Koordinationsstelle der türkischen Verbände bestand aus 17 Personen, die sich auf sieben Verbände aufteilten. Hauptangeklagter war der Präsident der Koordinationsstelle: Fikri Karaman. Er wurde am ausführlichsten verhört. Einer der Angeklagten war von 1995 bis 1998 Mitglied der eidgenössischen Kommission gegen Rassismus gewesen, verließ diese jedoch im Zusammenhang mit dem Verfahren.

Die strafrechtliche Grundlage sollte die Antirassismus-Strafnorm bilden. Diese Strafnorm ist eine Eigenart der Schweizer Rechtsprechung. Während in anderen Ländern meistens nur die Leugnung des Holocausts strafbar ist, gilt dies im Schweizer Recht erweitert für jegliche Leugnung von Völkermorden. Gemäß der Strafnorm wird derjenige bestraft, der aus diskriminierenden Gründen “Völkermord oder andere Verbrechen gegen die Menschlichkeit leugnet, gröblich verharmlost oder zu rechtfertigen sucht”. Um ein Urteil zu fällen, muss also auch hier sowohl ein objektiver wie auch ein subjektiver Tatbestand erfüllt sein. Das heißt, der Berner Strafeinzelrichter hat zuerst zu klären, ob im Fall der Armenier tatsächlich von einem Völkermord oder einem anderen Verbrechen gegen die Menschlichkeit gesprochen werden kann. Erst wenn er diese Frage bejaht hat, muss er in einem zweiten Schritt überprüfen, ob die Leugnung des Verbrechens in diskrimatorischer Absicht begangen worden ist. Da im Falle einer Verurteilung der Völkermord als solcher durch das Gericht implizit anerkannt worden wäre, war das Interesse am Prozess entsprechend groß. Türken und Armenier aus der ganzen Welt verfolgten die Verhandlungen in den Medien.

Der Gerichtspräsident Lienhard Ochsner sprach die zwölf in der Schweiz lebenden Angeklagten frei. In der Begründung zum Urteil führte er aus, dass obwohl „mit diesen pauschalen, undifferenzierten, relativierenden und apodiktischen Formulierungen [...] jedenfalls die im Gesetz erwähnten Tathandlungen des Leugnens und gröblichen Verharmlosens erfüllt“ seien, der subjektive Tatbestand, in diesem Falle also die Rassen diskriminierende Absicht der Leugnung nicht gegeben war. Die Angeklagten hätten den Völkermord nicht aus Rassismus, sondern aus “borniertem Nationalismus” geleugnet, wie aufgrund des türkischen Bildungssystems nicht anders zu erwarten war. Hier folgte Ochsner der Darstellung von Frau Dr. Priska Furrer vom Institut für Islamwissenschaften der Universität Bern, die während der Verhandlung darauf hinwies, dass die sehr einheitliche Geschichtsdarstellung in der Türkei kaum Raum für eine Kontroverse lasse und dass jegliche Debatte über Massaker und Völkermord an den Armeniern als armenische Propaganda diffamiert werde, die von gewissen Staaten aus eigennützigen Gründen unterstützt werden solle. Daher folgerte das Gericht: „Dass man in dieser Konstellation gewissermaßen Schaden vom unbefleckten Bild des Heimat- bzw. Herkunftslandes abwenden wollte, ist zunächst verständlich und entspricht einem nachvollziehbaren subjektiven Reflex, zumal letztlich zur kulturellen Identität eines jeden Menschen namentlich auch das Geschichtsbild der eigenen Volksgruppe, Nation oder des Landes gehört: Dabei ist unbeachtlich, ob dieses letztlich objektiv richtig, falsch, unvollständig oder ideologisch geprägt ist. Dieser Entstehungshintergrund spricht gegen die Annahme eines rassistischen Motivs.“ Diese Begründung ist insofern erstaunlich, als dass sie der Rechtfertigung individueller Straftaten durch kollektive Desinformation Vorschub leistet. Es wäre durchaus einleuchtender gewesen davon auszugehen, dass die Verfasser die Möglichkeit gehabt hätten, sich kundig zu machen, diese Chance aber, aus welchen Gründen auch immer, nicht wahrgenommen haben. Stattdessen wurde auf diese Weise mit einem Präzedenzfall ein Tor zur Negationspolitik aufgestoßen, welches auch mit der späteren Anerkennung des Genozids nicht so leicht wieder verschlossen werden kann.

Ebenfalls bemerkenswert ist, dass sich Ochsner nicht für eine explizite Anerkennung und Verurteilung des Völkermordes zuständig sah. Da sowieso der subjektive Tatbestand nicht gegeben sei, könne diese Frage offen bleiben. Zudem sei eine „gewisse Zurückhaltung seitens des Gerichtes angebracht, wenn der Gesetzgeber explizit oder implizit zu diesbezüglichen Aspekten Stellung genommen“ habe. Dennoch fuhr er fort: „Die in den entsprechenden Antworten des Bundesrates bzw. in den negativen Entscheiden betreffend die parlamentarischen Vorstöße Ziegler und Zisyadis zum Ausdruck kommende Meinung bzw. Bewertung erstaunen auf dem Hintergrund der hier von der Privatklägerschaft ins Recht gelegten eindrücklichen historischen Faktenlage. Es darf ohne Zweifel davon ausgegangen werden, dass sowohl dem Bundesrat als auch dem Parlament ebenso umfangreiche wie qualitativ hoch stehende Informationsquellen zur Verfügung standen wie dem Gericht. Materiell kommen letztlich die negativen Beschlüsse des Nationalrates zu der klar und unmissverständlich formulierten Motion bzw. dem Postulat einer authentischen Gesetzesinterpretation sehr nahe. In Kenntnis bedeutender Informationen über die damaligen Geschehnisse und auch entsprechender Beschlüsse ausländischer Parlamente hat es der Nationalrat abgelehnt, den Bundesrat verbindlich (Motion Ziegler) mit der Ausarbeitung - wohl eines einfachen Bundesbeschlusses - zu beauftragen, der die Ereignisse von 1915 als Völkermord anerkennt. Gleiches gilt im Wesentlichen für das Postulat Zisyadis mit der Einschränkung, dass es sich wegen der Postulatsform nur um einen Prüfungsauftrag handelte. [...] Dieses Ergebnis legt den Schluss nahe, dass diese Ereignisse vom Parlament mehrheitlich nicht als Völkermord bewertet werden.“ Mit diesem Urteil wurde zwar indirekt die Faktizität des Völkermordes anerkannt, gleichzeitig aber die Stellungnahme durch den Bundesrat und das Parlament als Aberkennung interpretiert. Hier muss das Gericht wohl einem Irrtum aufgesessen sein, zumal (wie sich noch zeigen wird) die Motion Ziegler wegen seines Ausscheidens aus dem Nationalrat nie behandelt wurde und die knappe Ablehnung des Postulat Zisyadis auch auf Formfehler zurückgeführt werden kann.

Eingedenk dieser Problematik hat der Anwalt der beiden Privatkläger unmittelbar nach der Urteilseröffnung Berufung gegen das Urteil eingereicht. Die Appellation wurde jedoch aus Verfahrensgründen abgelehnt, weil das in Art 261bis StGB geschützte Gut von den beiden Privatklägern nicht einklagbar sei. Die Gesellschaft Schweiz-Armenien als eine der Hauptinitiantinnen der Klage ließ in einer Pressemitteilung verlauten: „Die Justiz hat sich in der Behandlung der Frage nach dem geschützten Rechtsgut inkohärent gezeigt. Während einer Vorabklärung hat das Obergericht die Gesellschaft Schweiz – Armenien 1999 nicht als Privatklägerin zugelassen und einen Bundesgerichtsentscheid zitiert, in dem die Menschenwürde als primär geschützt genannt wurde. Da nur Privatpersonen über eine solche verfügen können, führte dies schließlich zur Zulassung von zwei Privatklägern durch die erste Instanz. In seiner Urteilsbegründung von 2002 scheute sich das Obergericht nicht davor, sich zu widersprechen und nun den öffentlichen Frieden als geschützt anzusehen, um auch noch die individuellen Privatkläger auszuschließen um nicht auf deren Appellation gegen den Freispruch eintreten zu müssen.“ Dies ist auch insofern erstaunlich, nachdem das Gericht im Urteil selber schrieb: „Nach eingehender Analyse von Doktrin und Rechtsprechung kommt die Kammer zum Schluss, dass es hinsichtlich des durch Art. 261bis StGB geschützten Rechtsgutes bis heute weder eine gefestigte höchstrichterliche Praxis noch eine einhellige oder auch nur dominierende Meinung in der Literatur gibt.“

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Während die Gesellschaft Schweiz Armenien mit ihren Mitstreitern auf das Urteil von Bern warteten, hatten sich mittlerweile zwei weitere Parlamentarier um Vorstöße bemüht. Nachdem am 28. Mai 1998 die französische Nationalversammlung einstimmig einen Gesetzesentwurf angenommen hat, der den am armenischen Volk begangenen Untaten den Status des Völkermordes zuerkennt, sah der Genfer Nationalrat Jean Ziegler die Zeit für einen neuen parlamentarischen Vorstoß gekommen. Am 11. Juni 1998 reichte Ziegler eine Motion ein, in der er den Bundesrat einlud, „so rasch als möglich im Namen der Schweiz mit einer förmlichen und öffentlichen Erklärung den Gräueltaten, welche die ottomanische Regierung 1915 am armenischen Volk begangen hat und die 1,3 Millionen Opfer forderten, den Tatbestand des Völkermordes anzuerkennen.“ Die Motion wurde von 33 weiteren Parlamentariern mitunterzeichnet.

Im Ganzen schätzte der Bundesrat die Lage jedoch anders als der Urheber der Motion ein: „Hinsichtlich der tragischen Ereignisse in der Geschichte des armenischen Volkes hat der Bundesrat nicht die Absicht, sich anders zu äußern, als er dies schon auf eindeutige Art und Weise bei anderer Gelegenheit getan hat.“ Der Bundesrat beantragte eine Ablehnung der Motion. In seiner schriftlichen Stellungnahme vom 21. Oktober 1998 wies er daraufhin, dass sich die Lage seit der Interpellation Fankhauser nicht wesentlich geändert habe, auch wenn der Bundesrat durchaus zur Kenntnis nehme, „dass sich seit seiner Antwort auf die Interpellation Fankhauser mehrere Akteure des internationalen Lebens zu den Ereignissen von 1915 geäußert haben.“ Er betonte jedoch zugleich, dass die Anerkennungen in den anderen Staaten ausschließlich auf Parlamentsebene erfolgt seien. Daraus lässt sich schließen, dass sich der Bundesrat selber als nicht zuständig für eine Anerkennung hielt.

Motionen müssen nach einer Stellungnahme des Bundesrates in den beiden eidgenössischen Räten behandelt werden. Erst wenn beide zugestimmt haben, muss der Bundesrat die Motion ausführen und ein Gesetz ausarbeiten oder die geforderten Maßnahmen treffen. Wie die WoZ berichtet, wurde der Vorstoß immer wieder vertagt, bis Jean Ziegler, als ihr Urheber, am 22. Dezember 1999 aus dem Nationalrat ausschied. Da er die Motion aus eigener Initiative, ohne Rücksprache mit den betroffenen Kreisen, eingereicht hatte, ließ sich auch niemand finden, welcher den Vorstoß weiterführte.

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Erst rund ein halbes Jahr nach dem Ausscheiden Zieglers, nahm sich der in Istanbul geborene Nationalrat Josef Zisyadis dessen Erbe an und reichte am 6. Juni 2000 ein Postulat ein, das den Bundesrat ersuchte, den Völkermord an den Armeniern offiziell anzuer-kennen. Ähnlich wie schon bei der Motion Ziegler wurde in der Postulatsbegründung angeführt, dass die Anerkennung mittlerweile schon 1987 durch das Europäische Parlament und 1998 durch die Parlamentarische Versammlung des Europarates vollzogen worden sei. Der Bundesrat nahm dazu am 30. August 2000 Stellung. Zwar verweist der Bundesrat vorerst darauf, dass er schon in früheren Antworten „klar und deutlich zu den tragischen Ereignissen Stellung“ genommen habe. Aber indem der Bundesrat in seiner Stellungnahme die Massaker in einen Kontext von „Revolten und Kriegen“ setzte, zeichnete er noch immer ein klar apologetisches Geschichtsbild, wie es sich in türkischen Leugnungsschriften bis heute findet. Somit spielt die bundesrätliche Antwort in ihrer Konsequenz darauf ab, dass die Massaker als Reaktionen auf armenische Aufstände zu bezeichnen seien. Das ist nichts weiter als eine Spielart der häufig kultivierten Dolchstosslegende, was Niklaus Ramseyer, seines Zeichens Inlandredaktor bei der Basler Zeitung, dazu bewegte zu schreiben: „Der Bundesrat hat sich bisher nämlich nicht getraut, den ‚ersten Genozid des 20. Jahrhunderts’ auch klar als solchen zu bezeichnen: Noch Ende August verharmloste der ihn in einer Antwort auf ein Postulat als ‚tragische Geschehnisse’ – gerade so, als ginge es um ein Erdbeben oder eine Überschwemmung. Damit geht die Landesregierung gefährlich nah an den Artikel 261 des Strafgesetzbuchs heran.“. Trotzdem begründete der Bundesrat seine ablehnende Haltung nicht etwa über diesen feinen negationistischen Einsprengsel, sondern damit, dass „auf staatlicher Ebene […] einzig nationale Parlamente die Initiative ergriffen [haben], den armenischen Völkermord anzuerkennen.“ Die Regierung sei somit also für solche Fragen der falsche Ansprechpartner. Gleichsam als Gegenleistung versprach der Bundesrat dafür, dass die Schweiz dem Statut des geplanten Internationalen Strafge-richtshofes beitreten würde, welcher genau mit der Beurteilung solcher Fälle betraut sei.

Am 13. März 2001 wurde das Postulat des Waadtländers Zisyadis nach einer heftigen Debatte im Parlament mit 70 zu 73 Stimmen knapp abgelehnt. Darüber, welche Gründe bei diesem knappen Entscheid maßgebend waren, kann nur spekuliert werden. Klar ist jedoch, dass die Türkei massiven Druck auf die Parlamentarier ausübte. Der jurassische Sozialdemokrat Jean-Claude Rennwald, einer der vier Mitunterzeichner des Postulates, will vom türkischen Botschafter einen fünfseitigen Brief bekommen haben, in welchem dieser jenen auf wohl kaum sanfte Weise aufforderte, vom Postulat Abstand zu nehmen. Seine Nachrednerin in der parlamentarischen Debatte ist die Bernerin Ruth-Gaby Vermot. Auch sie, als Präsidentin der Gesellschaft für bedrohte Völker, stößt ins gleiche Horn und spricht von Drohungen der Türkei gegenüber Parlamentariern. Joseph Zisyadis, wegen seines Vorstoßes zur Zielscheibe des Hasses nationalistischer türkischer Kreise geworden, soll sogar in Hürriyet mit einer Morddrohung bedacht worden sein.

Bis auf die Schlussrede von Bundesrat Joseph Deiss hatten sich alle Redner, die jedoch hauptsächlich aus der französischsprachigen Linken kamen, für eine Überweisung des Postulats ausgesprochen. Selbst der skeptische Liberale Claude Ruey sieht eine Aner-kennung als unvermeidbar an, fasst aber sein Anliegen in der griffigen Parole zusammen:  „En d’autres termes, reconnaissance du génocide oui, condamnation non“. Deiss hatte jedoch die Linie des Bundesrates zu vertreten und tat dies vor allem mit zwei Argumenten: zum einen malte er die Gefahr einer Verschlechterung der bilateralen Beziehungen zwischen der Schweiz und der Türkei an die Wand, sollte der Vorstoß überwiesen werden. Dass dies vor allem für die Wirtschaft ein größeres Problem darstellen könnte, belegen die Zahlen, welche das EDA einen Monat zuvor in einer Pressemitteilung veröffentlicht hat. Dort steht unter anderem: „Die Türkei steht unter unseren Export- bzw. Bezugsmärkten in Europa an zehnter resp. an vierzehnter Stelle. Die schweizerischen Direktinvestitionen in der Türkei stiegen zwischen Ende 1998 und 1999 von 726 Millionen auf 1 Milliarde Franken. Im gleichen Zeitraum vergrößerten sich die türkischen Direktinvestitionen in der Schweiz von 126 Millionen auf 155 Millionen Franken.“ Zum anderen sprach Deiss davon, dass sich seit dem Besuch des türkischen Außenministers Ismaïl Cem im Januar 2001 ein fruchtbarer Dialog mit der Türkei bezüglich der Menschenrechte entwickelt habe. Dieser Dialog dürfe durch eine Anerkennung nicht gefährdet werden. Als Beleg für die türkische Bereitschaft zum Dialog sprach Bundesrat Deiss von einer internationalen Historikerkommission, welche auch die türkische Vergangenheit diskutieren solle und die gerade am entstehen sei. Auch sie könne durch die Anerkennung gefährdet werden. Tatsächlich sollte sich jedoch zeigen, dass die „türkisch-armenische Versöhnungs-kommission“ (engl. Abkürzung: TARC), die Deiss damit wohl meinte, aus ganz anderen Gründen gefährdet war: Die Wahl der zehnköpfigen Kommission allein war bereits problematisch. Sie setzte sich aus vier Armeniern und sechs türkischen Mitgliedern zusammen, wobei es sich bei letzteren um pensionierte Berufsdiplomaten handelte, die mehrmals öffentlich erklärt hatten, dass nicht die Wahrheitsfindung ihr Ziel sei. Vielmehr wollten sie verhindern, dass noch weitere nationale Gesetzgeber über den Genozid debattierten. Wolfgang Gust hat in einer Internetpublikation die deutlichsten Aussagen zusammengestellt: „Eines der türkischen Mitglieder, Gündüz Aktan, bezeichnet den Kampf gegen die ‚armenische Lüge’ wie er die Forderung nach Anerkennung des Völkermords an den Armeniern nennt, als ‚Krieg’. In vielen Artikeln legte er dar, wie dieser ‚Krieg’ zu führen und zu gewinnen sei. ‚Das Hauptziel besteht darin’, so der angebliche Versöhner, ‚dafür zu sorgen, dass das Völkermord-Problem nicht dauernd ein Thema in den westlichen Ländern ist’. Özdem Sanberg, früherer türkischer Botschafter in Großbritannien, sagte in der Pressekonferenz zur Einsetzung der Kommission über ihr Ziel: ‚Ihre Aufgabe ist nicht, die Wahrheit zu ergründen.’ Der frühere türkische Außenminister Ilter Türkmen äußerte zum gleichen Thema: ‚Die Aufgabe der Kommission ist nicht, zu einem historischen Urteil zu kommen. Mit fortlaufendem Dialog hoffen wir, die Probleme zu überwinden, was aber nicht heißt, dass wir uns ein genaues Bild davon machen wollen, was vor 85 Jahren passierte.’“ Dass somit eine fruchtbare Diskussion schon von Beginn an nicht möglich und das Scheitern der Kommission bereits vorprogrammiert war, ist klar. Daher erstaunt es kaum, dass die im April 2001 in Genf gegründete Kommission bereits nach wenig mehr als einem halben Jahr zerbrach. Bereits am 3. November 2001 verkündete Gündüz Aktan, ehemaliger Botschafter der Türkei bei den Vereinten Nationen in Genf, dass die Kommission hinsichtlich der Frage des Genozids zu keinem gemeinsamen Standpunkt gekommen sei und dass dies auch keine Angelegenheit für Historiker, sondern für Juristen sei. Als daraufhin die armenischen Kommissionsmitglieder vorschlugen, das Center for Transitional Justice, eine unabhängige amerikanische Forschungseinrichtung, mit einer Studie zur Frage zu beauftragen, ob die Massenvernichtung der Armenier einen Völkermord im juristischen Sinn darstellt, stießen sie auf der türkischen Seite auf sturen Widerstand. Anfang Dezember 2001 löste sich die TARC schließlich auf. Es hatte sich also bereits nach weniger als einem Jahr gezeigt, dass die von Bundesrat Deiss vorgetragene Hoffnung allzu illusorisch war.

Die ablehnende Haltung des Parlaments erstaunt jedoch auch aus einem weiteren Grund: am selben Tag wie der Vorstoß von Zisyadis behandelt wurde, besprach das Parlament ebenfalls eine Petition des im Jahre 1998 von vorwiegend in Deutschland lebenden Staatsbürgern der Türkei gegründeten Vereins der Völkermordgegner. Diese Organisation hatte im November 1999 eine Petition bei der Großen Nationalversammlung der Republik Türkei eingereicht. Diese Petition, die über zehntausend in Deutschland lebende Türken unterzeichnet hatten, forderte das türkische Parlament auf, den Völkermord an den Armeniern anzuerkennen. Doch weil dieses das Unterschriftenpaket kommentarlos an die Petenten zurückschickte, entschloss sich der Verein, die Petition in verschiedenen europäischen Staaten einzureichen. Am 13. April 2000 reichte er sie gemeinsam mit armenischen Organisationen beim Petitionsausschuss des Deutschen Bundestages ein und am 14. September schließlich auch beim Schweizer Parlament. Am 14. Dezember 2000 wurde die Petition im Ständerat und am 13. März 2001 auch im Nationalrat behandelt. Sowohl die Außenpolitische Kommission des Ständerats wie auch die des Nationalrats beantragten einstimmig, „die Petition dem Bundesrat zur Kenntnisnahme zu überweisen, verbunden mit der Bitte, im Rahmen des schweizerisch-türkischen Dialogs den Völkermord an den Armeniern zur Sprache zu bringen.“ Bemerkenswert ist, dass das Parlament in seiner Empfehlung zum ersten Mal wörtlich von „Völkermord“ sprach, was als eine implizite Anerkennung verstanden werden kann.

 

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