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Einleitung

Vor rund zwei Jahren führte mich eine längere Reise in das mittelgroße ostanatolische Städtchen Van. Der Ort wird normalerweise wegen des malerischen Vansees und des alten „Van Karesi“, einer weitläufigen Felsenruinenstadt, besucht. Weit weniger bekannt ist das kleine Museum mit dem schlichten Namen „Van Müzesi“. Auf den zwei Stockwerken wird nicht nur die Ethnographie der ansässigen Völker behandelt, sondern es gibt auch einen eigenen Ausstellungsraum, der sich einem Völkermord widmet, welchen die Armenier an den Türken verübt haben sollen.

Ein halbes Jahr später, im Dezember 2003, als ich längst wieder zu Hause war, titelten die Schweizer Zeitungen „Genozid an den Armeniern durch das Schweizer Parlament anerkannt“. Das machte mich stutzig, hatte ich ja eben erst über die Ereignisse genau das Gegenteil gelesen. Wer hat nun wen ermordet?

Gewiss, es gab wohl kaum je ein historisches Thema, an dem sich nicht die Geister schieden, und zweifellos liegt ein solcher Streit im Wesen einer wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit der Geschichte, da Ansichten stets von den unterschiedlichen methodischen Ansätzen, aber auch von anderen Erkenntnisinteressen und letztlich auch der politischen Couleur geprägt sind.

In diesem Fall liegt die Sache jedoch anders. Seit bald neunzig Jahren bestreitet die Türkei mit allen Mitteln, dass ein Genozid je stattgefunden habe. Mehr noch: man könnte getrost von einer eigenen Tradition sprechen, in der sachliche Argumente geschickt mit Verweisen auf die Zerbrechlichkeit der Beziehungen und die wichtige geopolitische und wirtschaftliche Bedeutung der modernen Türkei gekontert werden. Darüber hinaus sorgt eine handvoll, insbesondere türkisch- und englischsprachiger Autoren dafür, dass der Büchermarkt mit Publikationen überschwemmt wird, welche die türkische Sicht der Dinge darlegen. Das führt zu einer Situation, die Vahakn Dadrian in seinem Büchlein über die Negationspolitik der Türkei als eine regelrechte „Industry of denial“ bezeichnete. Mittlerweile ist die Geschichte der Negation zu einem eigenen Forschungsschwerpunkt innerhalb der Debatte um diesen Völkermord geworden.

Als ich also letzten Winter von der Anerkennung erfuhr, begann ich mich mehr und mehr für das Thema zu interessieren.  Besonders irritierte, dass es in den letzten zehn Jahren in der Schweizer Politik mehrere politische Vorstöße gegeben hatte, die insgesamt aber erfolglos geblieben waren. Wie kam es also, fragte ich mich nun, dass ein Vorstoß, dessen fast identische Vorgänger mehrmals abgelehnt worden waren, plötzlich mit einem klaren Ja angenommen wurde? Was waren die Gründe, die diesen Stimmungswandel im Parlament bewirkt haben? Diese Frage nach den Gründen, respektive bescheidener auch nur die Frage nach den Bedingungen zur Möglichkeit, dass das Schweizer Parlament „plötzlich“ ein Postulat überwies und damit die Faktizität des türkischen Genozids anerkannte, soll das Schwergewicht dieser Untersuchung bilden.

Eine solche Fragestellung birgt allerdings zwei Gefahren in sich: zum einen die Monokausalisierung und zum anderen die Hierarchisierung der Gründe in Haupt- und Nebengründe. Es sollte eigentlich selbstverständlich sein, muss aber hier doch noch einmal betont werden: bei einer Ansammlung von notwendigen Bedingungen kann es keinen Hauptgrund geben. Wenn bloß einer dieser Faktoren weggefallen wäre, wären damit bereits nicht mehr die Bedingungen zur Möglichkeit erfüllt. Es müsste also bei jedem Grund bedacht werden, ob dieser notwendig ist oder nicht. Diese Gründe wiederum müssten auf ihre notwendigen Bedingungen untersucht werden. Es ist klar, dass man sich dabei nicht nur in eine komplizierte Rechnung stürzt, sondern geradeaus in einen infiniten Regress steuert. Ein solcher Ansatz wäre methodisch sehr zweifelhaft. Deshalb vermag hier einzig ein narrativ-deskriptiver Ansatz zu überzeugen.

Um die gestellte Frage zu beantworten, ist die Arbeit in drei grobe Teile gegliedert. Im ersten Teil liegt die Optik auf den Geschehnissen während des Ersten Weltkrieges auf dem Gebiet des Osmanischen Reiches. Dieses Kapitel soll eine kurze Einführung in die Ereignisgeschichte bieten, sofern diese auf unbestrittenen Daten beruht. Doch genau hier stellt sich das größte Problem: unumstrittene Fakten gibt es im vorliegenden Fall kaum. Wichtige Quellen, welche den Genozid beweisen, bezeichnen die Kämpfer für die Sauberhaltung der türkischen Geschichte schlicht als gefälscht. Worauf kann man sich also stützen, wenn man einen einleitenden Teil zu den historischen Hintergründen schreiben will? Insbesondere dann, wenn die Zeit für eine vertiefte Archivarbeit fehlt und zudem, bedingt durch mangelnde Osmanischkenntnisse und schwieriger Archivlage (die meisten Archive in der Türkei sind noch immer nicht für eine unvoreingenommene Geschichtsschreibung offen), ein solcher Zugang auch größtenteils nicht möglich ist. Hier bleibt nichts anderes übrig, als die bereits vorhandene Geschichtsschreibung unter die Lupe zu nehmen und auf ihre Plausibilität zu prüfen. Das Bild, das sich uns auf diese Weise skizziert, ist keineswegs konturlos; vielmehr kann dieses auch in einem verkürzten Text, wie er hier erforderlich ist, leicht nachgezeichnet werden, zumal doch über ein Minimum an Fakten Konzens herrscht und hier die Schlacht erst bei der Auslegung der Quellen tobt.

Diese Auslegung hat einen regelrechten „Akademikerstreit“ ausgelöst. Auf der Nachzeichnung dieses Streites soll im zweiten Teil das Hauptaugenmerk dieser Arbeit liegen. Ausgangspunkt ist die juristische Seite des Streits: hier zunächst die Frage, was überhaupt ein Genozid ist, wie mit dem Begriff umgegangen wurde und wie die juristische Wertung der Ereignisse von 1915 durch verschiedene internationale Gremien ausfiel. Beim parallel laufenden „Historikerstreit“ werden zwei Hauptlinien gesondert herausgearbeitet und dargestellt: zum einen der Streit zwischen der „türkischen“ und der „armenischen“ Geschichtsschreibung, aber auch jener Streit, welchen wohl die meisten Leser am ehesten mit dem „Historikerstreit“ assoziieren: nämlich die Frage nach der Einzigartigkeit des Holocausts. Da die Annahme der Einzigartigkeit der Judenvernichtung mit der Gefahr der Verharmlosung anderer Verbrechen gegen die Menschlichkeit korrespondiert, ist der Streit um die Shoah stark mit der Wahrnehmung anderer Genozide verknüpft. Im Hinblick auf die eingangs gestellte Frage sollen insbesondere auch die Entwicklungen der letzten 10 Jahre berücksichtigt werden. Auf diese Weise soll ein Zusammenhang zwischen den unterschiedlichen akademischen Debatten und der Politik hergestellt werden.

Der dritte Teil dieser Arbeit widmet sich der Schweizer Politik. Hier werden die verschiedenen, nicht erfolgreichen, politischen Vorstöße für die Anerkennung vor dem erfolgreichen Postulat Vaudroz gesondert behandelt. So kann herauskristallisiert werden, wo genau die Unterschiede liegen. Hierbei sind besonders die außenpolitischen Faktoren zu berücksichtigen, seien dies internationale Verträge wie der späte Schweizer Beitritt zur UNO-Völkermordkonvention im Jahre 2000 oder auch politische Entwicklungen im Ausland, wie beispielsweise die Anerkennung des Völkermordes durch das französische Parlament. Im Falle der politischen Anerkennung des Völkermordes durch das Schweizer Parlament sind jedoch noch weitere Faktoren zu berücksichtigen: dazu gehören zweifellos grundsätzliche parteipolitische Überlegungen, aber auch das komplizierte Interessensgeflecht von Organisationen, die sich für oder gegen die Anerkennung einsetzten und die mittels geschickter Lobbyarbeit auch durchaus Einfluss nehmen konnten. Ebenfalls wichtig und sinnvoll wäre es gewesen, den Einfluss der Medien auf den Entscheidungsprozess zu untersuchen. Aus Zeitgründen war das jedoch bei der vorliegenden Arbeit leider nicht möglich. In einem abschließenden Teil sollen die Ergebnisse kompakt zusammengefasst und über die Bedeutung der Anerkennung nachgedacht werden.

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Die Quellenlage gestaltet sich in den drei Hauptteilen sehr unterschiedlich. Gerade die Ereignisgeschichte hat eine bereits unüberschaubare Menge an Literatur produziert. Auch der zweite Teil veranlasst mit seiner großen Zahl an Publikationen, die zugleich als Quellen dienen, keineswegs dazu, über Literaturmangel zu klagen. Probleme birgt am ehesten die Untersuchung der Politik in der Schweiz. Da seit der Annahme des Postulat Vaudroz kaum ein halbes Jahr vergangen ist, wird dieses noch in keinen Büchern erwähnt. Hier ist die einzige Möglichkeit, auf Berichte in Tageszeitungen und Mitteilungen der beteiligten Organisationen zurückzugreifen. Da das Bild, aufgrund dieser Dokumente noch recht unscharf ist und es zudem keine Quellen gibt, mittels derer die Lobbyarbeit historisch fassbar wird, führt hier nur der Weg über Interviews zu Ergebnissen. Im Rahmen dieser Arbeit führte ich mit sechs Personen Gespräche: die ehemalige Nationalrätin Angeline Fankhauser, die mit ihrer Interpellation den politischen Prozess erst in Bewegung gesetzt hatte; Franziska Stocker, die als wissenschaftliche Leiterin der Gesellschaft für bedrohte Völker wichtige Dokumentationen erstellte; Georg Kreis, Geschichtsprofessor an der Universität Basel und Präsident der Eidgenössischen Kommission gegen Rassismus; Hans Schellenberg, Sarkis Shahinian und Rupen Boyadjian, die alle bei der Gesellschaft Schweiz-Armenien tätig sind oder waren. Drei Interviews finden sich im jeweiligen Wortlaut im Anhang.

Bei Arbeiten, die sich sehr stark auf fremdsprachige und oder gar fremdschriftliche Namen beziehen, ist die Orthographie resp. die Transkription immer mit gewissen Problemen verbunden. In dieser Arbeit wird nach folgenden Kriterien verfahren:

Eingedeutschte Namen und Begriffe sind in der deutschen Schreibweise belassen worden. Da zu Zeiten des Osmanischen Reiches in arabischer Schrift geschrieben wurde, musste eine Form der Transkription gewählt werden. Da es in der Literatur allgemein üblich ist, für Orts- und Personennamen aus der osmanischen Zeit die moderne türkische Orthographie zu benutzen, wurde dies auch für diese Arbeit übernommen. Typische türkische Begriffe, die tendenziell unübersetzbar sind, werden kursiv und klein geschrieben und kurz erläutert. Aus Gründen des Leseflusses verwende ich die Begriffe „Osmanisches Reich“ resp. „osmanisch“ und „Türkei“ resp. „türkisch“ synonymisch. Das scheint auf den ersten Blick einem historisch korrekten Gebrauch der Begriffe zuwider zu laufen, lässt sich aber dadurch rechtfertigen, dass sich bereits lange vor der Jungtürkischen Revolution die Bezeichnung „Türkei“ eingebürgert hatte. Ebenfalls synonymisch werden die zentralen Begriffe „Genozid“ und „Völkermord“ und, eingedenk der von jüdischer Seite geäußerten Bedenken, auch das Wortpaar „Holocaust“ und „Shoah“ verwendet. Auch aus Gründen der Lesefreundlichkeit wird auf eine Doppelnennung der Geschlechter verzichtet. Wenn also beispielsweise von Parlamentariern die Rede ist, sind darin die Parlamentarierinnen eingeschlossen.

 

[Index] [Einleitung] [Vorgeschichte] [Die Jungtürken] [Friedensverträge] [Juristenstreit] [Historikerstreit] [Anerkennung] [Vaudroz] [Schluss] [Literatur]

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