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Ende des Osmanischen Reichs

Seit Herbst 1918 zeichnete sich mit zunehmender Schärfe ab, dass die Rechnung der türkischen Führung nicht aufgehen würde und der Krieg in Bälde verloren wäre. Am 30. Oktober 1918, gut zwei Wochen nachdem die jungtürkische Regierung zurückgetreten und das Komitee für Einheit und Fortschritt aufgelöst worden war, kam es schließlich zu dem von den Siegermächten diktierten Mudros-Waffenstillstand, dem die lange geplante Aufteilung und Zerstückelung des Osmanischen Reiches folgen sollte: England, Frankreich, Italien und Griechenland wurden je große und wichtige Territorien zugesprochen. Auch sollten die alten Versprechen gegenüber den Armeniern endlich eingelöst werden, so dass im Nordosten Anatoliens eine Armenische Republik entstand. Für die Kurden war eine Autonomie vorgesehen, und an der Schwarzmeerküste um Trabzon sollte ein griechisch-pontischer Staat gegründet werden. Damit war das Gebiet, das den Türken danach noch blieb, vergleichsweise klein. „Selbst das Vaterland der Türken, Anatolien, wurde soweit aufgeteilt, dass den Türken lediglich ein kleiner Teil im Norden und im Inneren von Anatolien übrig blieb“, schreibt dazu der türkische Historiker Hakkı Keskin. Im Friedensvertrag von Sèvres, den die Regierung nach zwanzigmonatigen Verhandlungen zwar am 10.8.1920 unterzeichnete, das Parlament jedoch nie ratifizierte, wurde diese Aufteilung des Osmanischen Reiches bestätigt.

Die alliierten Mächte hatten schon während des Krieges gedroht, Verbrechen gegen die Menschlichkeit zu bestrafen. Dies ließ sich jedoch aus juristischen Gründen nicht so leicht bewerkstelligen. Die Völkermordkonvention sollte erst 1948 unterzeichnet werden und die zweite Haager Konferenz von 1907, die militärische Vorwände für ein Vorgehen gegen die Zivilbevölkerung ausschließt, bezog sich auf feindliche Staatsbürger – und war somit als juristische Grundlage in diesem Fall unzureichend. Eine Verurteilung konnte daher lediglich auf der Grundlage der osmanischen Gesetzgebung vollzogen werden. Da die Alliierten keine Möglichkeit sahen, völkerrechtlich gegen die des Massenmordes verdächtigten Türken vorzugehen, machten sie (und unter ihnen Großbritannien als federführende Nation) nach dem Waffenstillstand einen für die Türken günstigen Friedens-vertrag davon abhängig, wie diese sich gegenüber den Verantwortlichen der Verbrechen verhalten würden.

Der neuen Regierung unter Tevlik Pascha war daher klar, dass ein hartes Vorgehen gegen die Funktionäre der Jungtürken im eigenen Interesse unerlässlich war. Es wurden erste Ermittlungen geführt und Kommissionen gebildet, welche Kriegsverbrechen und Völker-mord zu ahnden hatten. Das erste Kriegsgericht wurde Ende November 1918 errichtet, um gegen Enver und Cemal Pascha wegen Amtsmissbrauchs zu ermitteln. Schon an Neujahr waren die beiden zu je einem Jahr Festungshaft verurteilt, ihnen die Bürgerrechte aberkannt und ihr Besitz beschlagnahmt worden. Den Alliierten ging die Ahndung jedoch nicht weit genug. Deshalb forderten sie den Sultan auf, mit Sondergesetzen die Verantwortlichen vor ein Kriegsgericht zu stellen. Der Sultan hielt jedoch die bestehenden Gesetze für zureichend und bildete stattdessen am 4. März 1919 eine neue Regierung unter Damat Ferit Pascha, welche tatsächlich die Strafverfolgung forcierte und rund einen Monat später die Nachfolgepartei der Jungtürken verbot.

Erste Diskussionen im Parlament über „die tragischen Ereignisse“ begannen schon am 4. November, nachdem die führenden Jungtürken ins Ausland verschwunden waren. Dabei forderten vor allem griechische und armenische Abgeordnete, die Deportationen auf die Tagesordnung zu bringen. Sie forderten eine rechtliche Auseinandersetzung und Ver-folgung der Schuldigen. Die Reaktionen der türkischen Abgeordneten waren unterschied-lich. Manche leugneten den Völkermord vollständig und erklärten die Deportationen als kriegsbedingte Maßnahmen. Die eigentliche Schuld trügen die Armenier, da sie mit Russland zusammengearbeitet und Muslime massakriert hätten. Andere Abgeordnete lehnten es ab, die ganze Nation verantwortlich zu machen. Wieder andere versuchten die Opfer unter den Griechen und Armeniern mit denen unter den Türken aufzurechnen. Es gab erste Streitereien um die Anzahl der Opfer. In diesen frühen parlamentarischen Aus-einandersetzungen wurde der Grundstein für die spätere Leugnung der Verbrechen gelegt und es tauchen erstmals Argumente auf, welche bis heute in der offiziellen Geschichtsschreibung vertreten werden.

Nicht zuletzt wurde der weitere Verlauf der Prozesse durch die türkische Nationalbewegung beeinflusst, die sich unter der Führung von Mustafa Kemal ab Mitte 1919 in Anatolien formierte. Ursprünglich war der Armeeinspektor Kemal vom Sultan beauftragt worden, eine Demobilisierung nach dem Waffenstillstandsabkommen von Mudros durchzuführen. Statt-dessen organisierte der später unter dem Namen Atatürk, Vater der Türken, bekannt gewordene Inspektor den nationalen Widerstand. In den Kongressen von Erzurum und Sivas (23. Juli bis 7. August 1919 und 4. bis 11. September 1919) gründete Kemal eine neue Regierung mit einem  Parlament in Ankara, welches ihn zum Präsidenten wählte.

Die neue Regierung in Ankara verfolgte das Ziel, die Grenzen der Türkei mindestens zu erhalten und kein Land abzutreten. Ein Ziel, das im Land selber gewiss nicht unpopulär war. Die Abmachungen, die Istanbul in den Friedensverhaltungen gab, wurden von Ankara unverzüglich für ungültig erklärt. Dabei entwickelte sich insbesondere das Gebiet, das je nach politischer Ansicht Ostanatolien oder Westarmenien genannte wurde, zu einem Zankapfel. Im September 1920 setzten sich die Truppen der türkischen Nationalisten über das Friedensabkommen von Sèvres hinweg und marschierten ein zweites Mal in die wenige Jahre zuvor gegründete Republik Armenien ein, während vom Norden die mittlerweile verbündete Sowjetarmee eindrang. Dabei kam es erneut zu heftigen Massakern an der Zivilbevölkerung. Die hilflose, junge armenische Republik entschloss sich unter diesen Umständen, am 3. Dezember 1920 die Souveränität an ein prosowjetisches Revolutions-komitee abzugeben. Dieser zweite Kaukasusfeldzug hatte somit den Territorialstreit klar zugunsten der Türkei entschieden. Das Friedensabkommen von Sèvres war zur bloßen Makulatur geworden.

Ein weiteres Ziel der Nationalbewegung war, die Gerichtsverfahren gegen die Völkermörder zu stoppen. Der Grund hierfür dürfte wohl weniger ein ideologischer gewesen sein, als vielmehr ein pragmatischer. Denn die neue Nationalbewegung war auf mehreren Ebenen wesentlich mit den Jungtürken, die ja die Verantwortung für den Völkermord zu tragen hatten, verquickt. Erstens war die vermeintlich neue Nationalbewegung bereits während der Kriegszeit von Enver gegründet worden, um mit ihr bei einer allfälligen Niederlage einen Partisanenkrieg weiterführen zu können.

Daher erstaunt es zweitens kaum, dass beträchtliche Teile der Führer der neuen Nationalbewegung bereits leitende Funktionen unter den Jungtürken innegehabt hatten. Trotz der Distanz, welche die moderne türkische Geschichtsschreibung zu den Jungtürken einnimmt, war selbst Mustafa Kemal ein begeisterter Anhänger des Jungtürkentums. Darüber kann auch der abgrundtiefe Hass, der ihn von Enver Pasha trennte, nicht hinwegtäuschen. Ferner übernahmen verschiedentlich gesuchte Täter während des Unabhängigkeitskriegs und auch in der Republik wichtige politische Ämter. Sie hatten sich dem Freiheitskampf angeschlossen, um der Bestrafung zu entgehen. Akçam zählt gleich ein paar Beispiele auf: Sükrü Kaya, Mustafe Abdülhalik (Renda), Dr. Tevlik Rüstü Aras, Avrif Fevzi Prinçcizade usw.

Drittens wurde die Nationalbewegung maßgeblich von jenen gesellschaftlichen Schichten unterstützt, die durch Bereicherung am Genozid entstand und die natürlich fürchtete, ihre Kriegsgewinne zurückgeben zu müssen.

Getragen auf diesen drei wesentlichen Säulen, gelang es der nationalen Regierung erstaunlich leicht, in weiten Teilen der Türkei die Macht zu übernehmen. Wollten nun die Alliierten an ihren Programm festhalten und das Osmanische Reich trotzdem aufteilen und die Verantwortlichen des Genozids zur Rechenschaft ziehen, mussten sie schnell und streng reagieren. Vor allem die erneuten Massaker an Armeniern im Frühjahr 1920 lieferten ihnen den Grund, Istanbul zu besetzen und erneut Damat Ferit Pascha zum Großwesir zu ernennen. Dieser führte radikale Veränderungen beim Personal der Polizeikräfte durch, die es ermöglichten die gefährlichen nationalistischen Führer im Sinne der britischen Vorstellungen zu verhaften. Darüber hinaus sprachen die Istanbuler Gerichte erneut Todesurteile aus. Unter den Verurteilten war auch Mustafa Kemal.

Diese Aktionen führten in Ankara zu heftigen Reaktionen. Als erstes wurde Ende April 1920 beschlossen, dass alle Beschlüsse aus Istanbul ungültig seien, da sie nicht vom Parlament in Ankara bestätigt worden waren. Demit Ferit Pascha wurde Ende Mai als Vaterlandsverräter vor Gericht gestellt und ausgebürgert. Den Kriegsgerichten in Istanbul wurden die Kompetenzen entzogen. Darüber hinaus nahmen die Nationalisten britische Offiziere und Zivilisten fest. Diese sollten später gegen Kriegsgefangene eingetauscht werden.

Nach der Einnahme Istanbuls durch die Nationalregierung am 6. November 1922 wurden die Gesetze von Ankara auch für Istanbul gültig. Somit trat der Beschluss, die Kriegsgerichte in Istanbul aufzulösen, auch in Istanbul mit zweijähriger Verspätung offiziell in Kraft.

Durch den Erfolg der Nationalbewegung wurde von der Forderung der Bestrafung abgelassen. Bei der Friedenskonferenz in Lausanne im Spätherbst 1922 wurden die armenischen Delegierten, die für ihre Sache sprechen wollten, nicht einmal zugelassen. Das rührt daher, dass nach jahrelangem Krieg keiner der Alliierten mehr den politischen Willen hatte, die früheren Forderungen notfalls mit einem weiteren Krieg gegen die Türkei durchzusetzen. Der wichtigste Punkt, nämlich die Beherrschung der Meerengen, hatte sich mehr oder weniger politisch lösen lassen. Da ließ sich bei der Armenischen Frage leicht ein Auge zudrücken. Damit wurde jedoch indirekt die türkische Argumentation, die unverändert bis heute die offizielle Haltung der Türkei ist, anerkannt – mit der Konsequenz, dass es der Türkei noch immer leicht fällt, den Genozid als eine selbstverschuldete Strafmassnahme gegen die aufwiegelnden Armenier abzutun. Mit der Verabschiedung einer Generalamnestie wurde die rechtliche Verfolgung der Verbrecher des Völkermordes endgültig beendet.

 

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