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Der Juristenstreit

Der Kernpunkt in der Debatte um die Geschehnisse in Ostanatolien während des ersten Weltkrieges ist, ob man die Deportationen und die Massaker als Völkermord, Verbrechen gegen die Menschlichkeit, Kriegsverbrechen, oder einfach nur als „tragische Er-eignisse“ klassifizieren muss. Zwar hat die neuere vergleichende Genozidforschung eine Unzahl an weiteren Wortkreationen hervorgebracht (sie spricht von „genozidalen Massakern“, „Ethnoziden“ oder gar „Politiziden“ und „Demoziden“), die durchaus in ihrem spezifischen Erkenntnisinteresse für eine weitere Differenzierbarkeit ihre Bedeutung und Berechtigung haben; aber ihrer Art nach sind diese Neologismen bloss als Erweiterungen und Korrekturvorschläge an den oben genannten juristisch klar definierten, aber als unzu-reichend empfundenen, Tatbeständen gedacht. Juristische Implikationen haben sie nicht. Da es in dieser Arbeit um die parlamentarische Anerkennung aufgrund des Genozidsvorwurfes geht, reicht es, hier lediglich die juristischen Begriffe zu klären.

Gemäß heutiger Rechtsauffassung wird Völkermord als eine Unterkategorie des Straf-bestandes „Verbrechen gegen die Menschlichkeit“ aufgefasst. Daher lässt sich, trotz der unterschiedlichen Entstehungszeit, der eine Begriff nicht ohne den anderen denken. Begriffe wie „Gesetze, Interessen oder Diktate der Menschlichkeit“ lassen sich bis zur 4. Haager Konvention über die Gesetze und Gebräuche des Landkrieges von 1907 zurückverfolgen. Ebenfalls verwendeten die Alliierten eine ähnliche Wortwahl in ihrer Warnung vom 24. Mai 1915 an die türkischen Machthaber, als sie die Massaker als „new crimes of Turkey against humanity and civilisation“ bezeichneten. Ihr technischer Gebrauch hatte jedoch in beiden Fällen noch keineswegs die justische Schärfe von heute.

Nachdem der Friedensvertrag von Sèvres Schiffbruch erlitten hatte und die Verfolgung der Verantwortlichen am Völkermord gescheitert war, sollte sich zeigen, dass die tragischen Ereignisse im Ersten Weltkrieg nicht ausgereicht hatten, um die internationale Gemeinschaft nachhaltig wachzurütteln und weltweite Abkommen zu schaffen, aufgrund derer sich Völkermorde und Verbrechen gegen die Menschlichkeit wirksam hätten ahnden lassen. Dazu brauchte es ein zweites, in seiner Totalität und Grausamkeit bis heute unübertroffenes Verbrechen: den Holocaust.

So brachte auch erst der Schrecken der faschistischen Unmenschlichkeit eine entscheidende Wende in die juristische Diskussion. Erst mit ihm konnte der Entschluss reifen, das schon seit langem diskutierte juristische Konzept des Verbrechens gegen die Menschlichkeit tatsächlich zu etablieren. Als sich mit der Kapitulation des Deutschen Reiches das Ende des Zweiten Weltkrieges schon klar abzeichnete, unterzeichneten Vertreter der USA, Großbritanniens, Frankreichs und der UdSSR am 8. August 1945 in London das so genannte Statut des Internationalen Militärgerichtshofes (IMT-Statut). Es sollte die Grundlage für den „Prozess gegen die Hauptkriegsverbrecher” in Nürnberg und, in leicht abgeänderter Form, auch für den in Tokio bilden.

Dieser so genannte Londoner Vertrag sah vor, dass nur die Hauptkriegsverbrecher vor den neuen internationalen Militärgerichtshof gestellt werden sollten, während die restliche Strafverfolgung durch den Staat des Tatorts vorzunehmen war. Dies hatte auch dann zu geschehen, wenn es sich um Verbrechen handelte, die durch den Londoner Vertrag inkrimiert worden waren. Dabei unterschied das Londoner Abkommen drei Arten von Verbrechen: Verbrechen gegen den Frieden (Planung, Auslösung und Führung eines Angriffskrieges), Kriegsverbrechen (Verletzungen des Kriegsrechtes gemäß der oben erwähnten Haager Konvention) und Verbrechen gegen die Menschlichkeit. Was mit Verbrechen gegen die Menschlichkeit gemeint war, legte der Art. 6(c) fest: „Mord, Ausrottung, Versklavung, Deportation oder andere unmenschliche Handlungen, begangen an irgendeiner Zivilbevölkerung vor oder während des Krieges, Verfolgung aus politischen, rassistischen oder religiösen Gründen, begangen in Ausführung eines Verbrechens oder in Verbindung mit einem Verbrechen, für das der Gerichtshof zuständig ist, und zwar unabhängig davon, ob die Handlung gegen das Recht des Landes verstiess, in dem es begangen wurde, oder nicht.“ Der revolutionäre Kern dieses Statuts lag zweifelsfrei in der Durchbrechung des Souveränitätsprinzips, welches als Problemstellung die Diskussionen in der politischen Philosophie schon seit Jahrhunderten beschäftigt hatte. Erst aufgrund seiner Unabhängigkeit vom nationalen Recht war es dem Völkerrecht dank diesem Statut zum ersten Mal möglich geworden, grundsätzlich jede Zivilbevölkerung zu schützen. Das Statut des Internationalen Militärgerichtshof in Tokio vom 19. Januar 1946 unterschied sich vom Londoner Abkommen nur unwesentlich.

Das Hauptproblem bei der Anklage bestand darin, dass, gemäß dem Grundsatz nullum crimen, nulla poena sine lege praenia, niemand für eine Tat zur Rechenschaft gezogen werden kann, deren Strafbarkeit nicht schon vor der Tat gesetzlich festgelegt worden war. Die Juristen der Nürnberger Prozesse liessen diesen Einwand jedoch nicht zu. Verkürzt dargestellt, lief ihr Argument darauf hinaus, dass das Völkerrecht über diesem Grundsatz des nationalen Strafrechts stehe, da es auf Sitten und Gebräuche gründe und Verstösse gegen das Völkerrecht nicht im Voraus festgelegt werden könnten. Selbst wenn das Gericht in diesem Fall gegen das Prinzip der Nichtrückwirkung der Strafgesetze verstiesse, sei dies dadurch gerechtfertigt, dass manche Verbrechen zu ungeheuerlich seien, um nicht bereits durch das Naturrecht oder das Gewohnheitsrecht geächtet zu sein. Daher müssten sie, so die Argumentation, nicht ausdrücklich im konventionellen Völkerrecht vermerkt sein. Diese Darlegung konnte sich schließlich durchsetzen.

Kurz nachdem die Urteile von Nürnberg gesprochen waren, nahm die frisch gegründete UNO die Resolution 96 (1) vom 11. Dezember 1946 an, welche die Ausarbeitung einer Konvention gegen Völkermord verlangte. Mit dieser Arbeit wurde der polnisch-jüdische Jurist Raphael Lemkin betraut. Er hatte sich schon seit den dreißiger Jahren mit den an den Armeniern begangenen Massakern und der strafrechtlichen Verfolgung eines Vergehens beschäftigt, für das er den Namen Genozid resp. Völkermord schuf. Beim Nürnberger Prozess wirkte er zudem als Assistent des US-Chefanklägers Robert H. Jackson mit.

Am 9. Dezember 1948 stellte Lemkin die ausgearbeitete Konvention schließlich der UNO-Vollversammlung vor. Sie wurde einstimmig angenommen. Mit der Unterzeichnung und der späteren Ratifizierung des Abkommens verpflichteten sich die Vertragspartner, das Delikt im eigenen Gesetz unter Strafe zu stellen. Auch die Türkei trat der Konvention bei.

Gemäß Artikel II der Konvention werden alle Menschenrechtsverletzungen als Völkermord bezeichnet, die sich nicht gegen den einzelnen als Individuum richten, sondern gegen ihn wegen seiner Angehörigkeit zu einer nationalen, ethnischen, rassischen oder religiösen Gruppe. Vor allem auf Druck der Sowjetunion blieben nach längeren Diskussionen politische Gruppen von der Konvention ausgeschlossen, was in den Wissenschaftspub-likationen zum Thema regelmäßig von allen Seiten bedauert wird. Bemerkenswerterweise beschränkt sich die Konvention jedoch nicht nur auf eine tatsächliche physische Vernichtung, sondern umfasst alle Maßnahmen, die Lebensgrundlagen schaffen, welche die physische Vernichtung ganz oder teilweise herbeiführen, die ferner schwerwiegende Schädigungen der körperlichen oder geistigen Integrität von Gruppenangehörigen verursachen. Auch Geburtenbeschränkungen und die zwangsweise Überführung von Kindern von der einen in eine andere Gruppe werden als solche Maßnahmen inkrimiert. Anders als im Statut des Nürnberger Militärgerichtshofs, das sich nur auf Verbrechen zu Kriegszeiten bezog, muss der neue Strafbestand „Völkermord“ nicht zwangsläufig im Zusammenhang mit internationalen kriegerischen Ereignissen stehen.

Damit ein Massaker als Völkermord gemäß der Konvention beschrieben werden kann, muss es neben dem oben erwähnten objektiven auch einen subjektiven Tatbestand erfüllen, welcher die Anforderungen an die innere Seite der Tat festlegt. Gemeint ist damit, dass der Täter eine der oben beschriebenen Handlungen vorsätzlich begangen haben muss, und zwar mit dem Wissen und dem Willen, eine Gruppe ganz oder teilweise zu zerstören. Lässt sich dieser subjektive Tatbestand nicht belegen, kann eine Tat noch immer als Kriegsverbrechen oder als Verbrechen gegen die Menschlichkeit beschrieben werden; der Strafbestand Völkermord trifft dann jedoch nicht zu.

Dieses Faktum wurde verständlicherweise von Anklägern immer wieder bedauert, aber, wie Otto Luchterhand richtig bemerkte, ermöglicht erst dieses Merkmal eine grundsätzliche Unterscheidung zwischen Völkermorden und unkoordinierten, gleichsam zufälligen und häufig mit sozioökonomischen Modernisierungsmaßnahmen einhergehenden Verdrän-gungs- und Zerstörungsprozessen, wie sie beim Aufeinanderprallen von Völkern unter-schiedlicher kultureller Entwicklung immer wieder beobachtet werden können. Nur so könne einer Uferlosigkeit bzw. Unbestimmtheit des Völkermordbestandes vorgebeugt werden.

Naturgemäß birgt diese Differenzierung in einen objektiven und einen subjektiven Tatbestand für die völkerrechtliche Praxis durchaus ihre Probleme. Denn einerseits geben die Angeklagten in Prozessen kaum je eine Vernichtungsabsicht zu, so dass der „specific intent“ regelmäßig aus Indizien erschlossen werden muss. Dabei dürfen beispielsweise die umstandslose Liquidierung von unbewaffneten Männern oder gar Frauen und Kindern als besonders offensichtliche Anhaltspunkte betrachtet werden. Auch Angriffe gegen den kulturellen und religiösen Besitz und die Symbole der Gruppe können als Beleg für die Absicht dienen, die Gruppe auch physisch zu zerstören.

Anderseits ist jedoch auch nicht unumstritten, wie das Merkmal der Absicht sinnvollerweise ausgelegt werden kann. Verschiedene Autoren haben darauf hingewiesen, dass es den angeklagten Tätern durchaus leicht fallen könne, den Vernichtungsaktionen den Schleier von anderen, politisch vertretbar scheinenden Motiven zu geben. Diese Möglichkeit gefährde die Anwendbarkeit der Konvention ernsthaft. Dem gegenüber vertreten Hurst Mannum und David Hawk den Standpunkt, dass die Absicht (intent) der Täter nicht mit ihren Beweggründen (motifs) gleichzusetzen sei. Das Merkmal der Absicht setze lediglich voraus, dass die Täter bewusst und gewollt die Zerstörung der Gruppe betreiben, ohne dass die Motive dabei eine Rolle spielten, zumal die Autoren der Konvention den Antrag ausdrücklich verworfen hatten, in Art. II einen Katalog von Beweggründen aufzunehmen.

Im Jahre 1965 sahen sich mehrere Staaten mit dem Problem der Verjährung des Völkermordes konfrontiert. Um diese Frage entwickelte sich eine heiße Debatte, die ihren Abschluss darin fand, dass die Vollversammlung der UNO am 26. November 1968 in der Resolution 2391 (XXIII) die Konvention über die Unverjährbarkeit von Kriegs- und Menschheitsverbrechen annahm. Am 25. Januar 1974 verabschiedete auch der Europarat eine ähnliche Konvention, die jedoch im Gegensatz zur Konvention der Vereinten Nationen nur für Verstöße gilt, die nach dem Inkrafttreten begangen wurden.

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Rechtswissenschaft ruht immer auf zwei Beinen: das eine Bein ist die Kodierung von Gesetzen, das andere die Anwendung der geschaffenen Gesetze auf den Einzelfall. Obwohl der Tatbestand mittlerweile klar definiert ist, tut sich die internationale Gemeinschaft noch immer schwer damit, Geschehnisse tatsächlich als Völkermorde zu verurteilen. Otto Luchterhand spricht in diesem Zusammenhang von der „eigenartigen Scheu, von Völkermord zu sprechen“, und rekurriert dabei auf eine Beobachtung von Genozid-forscher Leo Kuper. Dieser hat nämlich bereits in den achtziger Jahren festgestellt, dass es im diplomatischen Verkehr tunlichst vermieden wird, von „Völkermord“ zu sprechen, selbst wenn die Staatenvertreter privat diese Einschätzung hegen. Der Grund dafür sei, so ein Gewährsmann von Kuper, dass man sich einem beschuldigten Staat leichter annähern könne, wenn man nur von „massenhaften Verletzungen des Menschenrechts“ oder von einer „Gefährdung des Friedens“ spreche. Der Vorwurf eines Völkermords würde derart heftig ablehnende und beleidigte Reaktionen auslösen, die eine weitere Diskussion verunmöglichen würden.

Tatsächlich hat sich die Weltpolitik auch gerade im Falle des Genozids an den Armeniern schwer damit getan, diesen als solchen zu verurteilen – und tut dies auch heute noch. Nach dem missglückten Vertragswerk von Sèvres schwieg die internationale Gemeinschaft fast sechzig Jahre; bis im Frühjahr 1965 die Armenische Frage erneut aufs internationale Parkett kam, als das Parlament von Uruguay dem Druck seiner nicht zu unterschätzenden armenischen Minderheit nachgab und sich entschloss, die Ereignisse von 1915 als Völkermord anzuerkennen.

Im Jahre 1971 gab die Menschenrechtskommission der UNO eine Studie über Verhütung und Bestrafung von Völkermord in Auftrag. Mit der Untersuchung wurde der damalige Sonderberichtserstatter Nicodème Ruhaschyankiko aus Ruanda betraut. Als er im September 1973 die vorläufigen Resultate präsentierte, kam er in Artikel 30 zu folgendem, häufig zitiertem Schluss: „Wenn wir uns der zeitgenössischen Geschichte zuwenden, so kann auf eine verhältnismäßig umfassende Dokumentation über das Massaker an den Armeniern hingewiesen werden, das als der erste Völkermord des 20. Jahrhunderts betrachtet worden ist.“ Als jedoch am 4. Juli 1978 der endgültige Bericht vorgelegt wurde, war dieser umstrittene Artikel auf Druck der türkischen Delegation in der Menschenrechts-kommission gestrichen worden. Wie sich noch zeigen wird, tauchte der Begriff des Völker-mordes an den Armeniern erst wieder im Juli 1985 in einem offiziellen Bericht der UNO auf.

Nahezu zeitgleich mit dem Beginn der UNO-Debatte entschlossen sich Teile der politischen Opposition zu radikaleren Mitteln – oder, wie es Tessa Hofmann beschönigend formulierte: „Als sich aber auch nach zehn Jahren nichts bewegte, versuchte die ungeduldig gewordene Diasporajugend, mit militanten Aktionen das ‚Verbrechen des Schweigens’ zu bekämpfen. Dieser Kampf wurde mit offenem, blutigen Terror ausgetragen. Der oft zitierte erste politische Mord am 23. Januar 1973 war jedoch noch nicht von extremistischen Gruppen organisiert, sondern eine Individualtat: der 78jährige Armenier Kurken Janikian erschoss aus persönlicher Rache den türkischen Botschafter und seinen Vize im Restaurant eines Hotels in Los Angeles. Dennoch bildet dieser Doppelmord den Startschuss für eine Dekade des armenischen Terrors über der Türkei. Unter der Führung von mehreren extremistischen Organisationen – die berüchtigtste unter ihnen war gewiss die im Libanon beheimatete „Armenische Geheimarmee für die Befreiung Armeniens“ (ASALA) – wurden bei den teilweise spektakulären Aktionen in erster Linie Repräsentanten des Negationsregimes ins Visier genommen. Im Verlauf des Kampfes begann sich der Terror jedoch mehr und mehr zu verbreitern. Was zuerst als Kampf gegen die Symbole der Unterdrückung begann, forderte bald zahlreiche zivile Todesopfer, die für den Völkermord genauso wenig verantwortlich waren, wie die armenischen Opfer am „Untergang des Osmanischen Reiches“.

Armand Gaspard vertritt die These, dass der vergessen geglaubte Völkermord an den Armeniern deshalb nach über 50 Jahren Schweigen plötzlich wieder diskutiert wurde, weil sich die weltpolitische Lage plötzlich stark zu ändern begann: weltweit wurde dekolonialisiert. Jahrzehnte oder gar Jahrhunderte lang unterdrückte Völker bekamen ihre Souveränität wieder, nachdem sie im nationalen Befreiungskampf gesiegt hatten. Wieso also, denkt sich Gaspard in die Köpfe der armenischen Kämpfer, soll den Armeniern das versagt bleiben, was selbst Völkern aus der Dritten Welt gelang? Wieso sollten etwa die Bewohner von Kiribati und ähnlich exotischen Staaten ihre Unabhängigkeit vor Armenien erhalten? Insbesondere nach 1974, als die Türkei widerrechtlich Zypern besetzte, schien die Zeit günstig, um Ankara als Aggressor zu brandmarken und den Weg für armenische Maximalforderungen zu ebnen, von denen von Anfang an hätte klar sein müssen, dass die Türkei nie auf sie würde eintreten können.

Das tat sie auch nicht. Bis heute hat die Türkei keine einzige der Forderungen erfüllt. So gesehen hat die Terrorwelle ihre politischen Ziele gänzlich verfehlt. Ihr indirekter politischer Erfolg lässt sich indes nur schwer messen. Tatsache ist jedoch, dass dadurch das Thema des „ersten Genozids des 20. Jahrhunderts“ augenblicklich in die Schlagzeilen rückte. Die publizistischen Reaktionen waren dabei durchaus nicht immer zugunsten des armenischen Kampfes. So schrieb zum Beispiel der österreichische Kirchenhistoriker Erich Feigl, der, wie er im Vorwort erwähnt, bei einem der Attentate einen guten persönlichen Freund verloren habe, eine unvergleichbare Hasstirade mit dem wohl unbeabsichtigt doppelsinnigen Titel „Ein Mythos des Terrors“ gegen die armenische Sache und übernahm in der Frage des Genozids bis heute als einziger deutschsprachiger Historiker ganz und umfänglich die offizielle türkische Linie.

Doch nicht nur publizistisch führten die Attentate zu einer ablehnenden Haltung gegenüber den armenischen Belangen. Als der amerikanische Kongress mehrmals darüber debattierte, ob der 24. April in den USA ein „national day of commemoration of the Armenian Genocide“ werden soll, wurde immer wieder stereotyp das Standardargument hervor-geklaubt, dass dies die armenischen Terroristen für ihre Morde belohne und als Zeichen dafür missverstanden werden könne, dass die Vereinigten Staaten solche Attacken dulden würden. Nachdem im Oktober 1989 der Rechtsausschuss des Senats einen neuen Anlauf unternommen hatte, den Gedenktag einzuführen, tauchte im Februar 1990 im US Senat eine Variation der Argumentation auf: dort fürchteten die Gegner des Gedenktages „ethnische Konflikte“ und ein Wiederaufleben des Terrorismus. Eine solche Argumentation ist natürlich alleine deshalb nicht sonderlich glaubwürdig, weil sich die radikalen Arme der armenischen Organisationen bereits ab 1983 über ihre Zielsetzungen derart zerstritten hatten, dass sie in kleine, handlungsunfähige Teile zerfielen, und spätestens ab 1985 der Terror gänzlich aufhörte. Hinter der Ablehnung den Druck der Türkei zu sehen, erscheint ungleich plausibler. Tatsächlich wird diese Vermutung durch eine Erklärung des demokratischen Abgeordneten des Bundesstaates Michigan gestützt, welcher die Ablehnung des Gedenktages auf eine millionenschwere Lobbyarbeit der Türkei zurückführte, zumal sich Präsident Ronald Reagan und sein Außenminister George Shultz persönlich gegen den Vorschlag ausgesprochen hatten, um den Nato-Partner Türkei zu schonen. Der zweite Anlauf zur Einführung eines Gedenktages 1990 wurde ebenfalls durch eine Intervention des Außenministeriums gestoppt, nachdem die türkische Regierung gedroht hatte, die Präsenz von US-Militär auf ihrem Territorium künftig zu untersagen. Und das, obwohl schon am 9. April 1975 mit dem Repräsentantenhaus ein Teil des amerikanischen Parlaments den Völkermord anerkannt hatte. Bis heute gibt es diesen Gedenktag nicht.

Trotzdem: seit Anfang der Achtziger Jahre begannen mehr und mehr internationale Gremien, den Völkermord an den Armeniern anzuerkennen und zu verurteilen. Der Impuls ging 1983 vom Weltkirchenrat aus, der im August in Vancouver eine Vollversammlung abhielt. Bereits in der oben erwähnten UNO-Menschenrechtskommission hat er sich zusammen mit verschiedenen Menschenrechtsorganisationen dafür eingesetzt, dass die Passage über den armenischen Völkermord nicht gestrichen wurde.

Ein Jahr später zog das „Ständige Tribunal der Völker“ in Paris nach und verurteilte den Völkermord ebenfalls. Dieses Tribunal war bereits 1979 in Analogie zu dem so genannten Russell-Tribunal gegründet worden, das, iniziert von den beiden Philosophien Bertrand Russell und Jean-Paul Sartre, über die amerikanischen Kriegsverbrechen in Vietnam disputiert hatte. Dieses nicht-staatlich organisierte Tribunal hatte jedoch keine Strafbefugnisse, sondern lediglich die Aufgabe zu untersuchen, ob im Zusammenhang mit den Ereignissen von Völkermord zu sprechen sei. Die Veranstaltung habe, wie im Vorwort der Prozessakten nachzulesen ist, „nur symbolischen Charakter“. Somit ist auch das Urteil rein moralischer Natur. Trotz, oder vielleicht auch wegen des symbolischen Charakters, zog es die türkische Regierung vor, auf die Einladung zu den Verhandlungen zu verzichten. Die türkische Sicht konnte daher nur aufgrund von ausgewählten Texten berücksichtigt werden. Als Experten vor dem Tribunal sprachen diverse Wissenschafter, die in dieser Arbeit schon mehrmals erwähnt worden sind. Das Tribunal war auf Initiative von drei Menschenrechts-organisationen zusammengetreten, die auch die Anklage führten: die „Gesellschaft für bedrohte Völker“ aus der Bundesrepublik Deutschland, die „Groupement pour les Droits des Minorités“ aus Frankreich und „Cultural Survival“ aus den USA.

Das größte Problem bei der Anklage war auch hier wieder die Frage, ob die Völkermord-konvention auf Taten rückwirken könne, die vor ihrem Inkrafttreten begangen worden waren. Der Völkerrechtler Joe Verhoeven bejahte dies in seiner flammenden Anklagerede mit dem Argument, dass die Konvention keineswegs rechtsbegründend sondern rechts-erklärend sei.

Die Bedeutung solcher Tribunale ist indes umstritten, da sie keinerlei Strafbefugnis haben. In diesem konkreten Fall kommt hinzu, dass das Tribunal auf nicht-staatlicher Ebene organisiert worden war. Das heißt, dass es keine direkte Einwirkung auf eine staatliche Ebene haben kann. Daher sind bisweilen solche Veranstaltungen als Versammlungen intellektueller Schwätzer, die ihre Meinung kundtun wollen, betrachtet worden. Trotzdem ist gerade wegen seiner Distanz zu realpolitischen Machtkonstellationen eine Unabhängig-keit gewährt, welche staatlich getragene Institutionen nicht haben können. Das Gerangel um den oben erwähnten UNO-Bericht unterstreicht dies nachdrücklich. Zudem folgt das „Ständige Tribunal der Völker“ strengen Verfahrensregeln, die durchaus den inter-nationalen rechtlichen Gepflogenheiten entsprechen.

Eine weitere wichtige Anerkennung folgte ein Jahr darauf. Nachdem der Bericht des ruandischen Sonderbeauftragten Ruhashyankiko offensichtlich an der politischen Realität gescheitert war, hatte 1982 ein anderer Referent des UN-Unterausschusses für den Schutz von Minderheiten den Auftrag bekommen, dieselbe Frage noch einmal zu untersuchen. Nach langwierigen Konsultationen konnte Benjamin Whitaker seinen Bericht am 26. August 1985 vorlegen. Er wurde schließlich bei relativ hoher Stimmenthaltung ange-nommen. Damit war eine offizielle Anerkennung des Völkermordes durch die Vereinten Nationen festgeschrieben. Allerdings war der Völkermord in der angenommenen Fassung, wie Wolfgang Gust bedauert, „nicht nur bis zur Unkenntlichkeit verstümmelt worden und hieß nur noch ’Massaker’, sondern war auch in einem Sammelsurium von anderen Verbrechen aufgegangen. Der neue Paragraph 24 hieß: ‚Die nazistische Verirrung war unglücklicherweise nicht der einzige Fall von Völkermord im 20. Jahrhundert. Man kann ferner das Massaker an den Hereros durch die Deutschen, das Massaker durch die Osmanen 1915/1916, das ukrainische Pogrom von 1919 gegen die Juden, das Massaker an den Hutti durch die Tsutti in Burundi, das Massaker an den Achee-Indianern in Paraguay von 1974, die von den Roten Khmer in Kampuchea 1975 und 1978 begangenen Massaker und gegenwärtig das Massaker an den Bahais durch die Iraner dazu rechnen’.“ Auch in diesem offiziellem Dokument scheint die oben erwähnte Scheu durch, direkt von Völkermord zu sprechen.

Auf eine Initiative des französischen Abgeordneten Henri Saby von der Sozialistischen Fraktion behandelte das Europäischen Parlament ab 1985 die Armenische Frage und verabschiedete am 18. Juni 1987 die Resolution “Zur politischen Lösung der Armenischen Frage”. In ihr wurden die „tragischen Ereignisse, die von 1915-17 stattgefunden haben und sich gegen die Armenier des Osmanischen Reiches gerichtet haben“ als Völkermord im Sinne der UNO-Konvention verurteilt und die Anerkennung der historischen Faktizität des Völkermordes zu einer der Voraussetzungen für einen EU-Beitritt der Türkei erhoben. Dennoch hielt das Parlament daran fest, „dass das gegenwärtige türkische Regime nicht für das von den Armeniern im Osmanischen Reich erlebte Drama verantwortlich gemacht werden kann“ und „dass aus dem Anerkenntnis dieser historischen Ereignisse als Völkermord weder politische noch rechtliche noch materielle Forderungen an die heute Türkei abgeleitet werden können.“ Bis anhin dürfte diese Anerkennung wegen des Beitrittswunschs der Türkei in die Europäische Union die bedeutendste sein. Am 15. November 2000 bestätigte das Europäische Parlament in einen Fortschrittsbericht der EU ein weiteres Mal die Anerkennung als Beitrittskriterium, und am 28. Februar 2002 wurde die Türkei zur Einhaltung dieser Auflage aufgerufen. Die Türkei wurde ebenfalls aufge-fordert, ihre Blockade gegenüber Armenien aufzuheben. Im neuesten EU-Fortschrittsbericht Türkei vom 3. November 2003 wurde die Anerkennung des 1915 begonnenen Völker-mordes als Beitrittskriterium allerdings nicht mehr erwähnt. Auch im historischen Abriss im Länderbericht Türkei, welchen das Europaparlament auf seiner Website zur Verfügung stellt, steht kein Wort über die Armenische Frage. Es stellt sich daher durchaus die Frage, ob die Türkei den von Luchterhand beschriebenen Weg erfolgreich einschlagen kann und mittels ihrer Verdächtigungen der EU-Kritik als religiös motivierte Diskriminierung und der Drohung vor dem Absinken der Türkei in den Islamismus bei anhaltendem EU-Verweigerungskurs doch eine de-facto-Erleichterung der Beitrittsbedingungen (z. B. Armenische Frage) erreichen kann.

Nebst den internationalen Gremien haben auch verschiedene nationale Gesetzgeber die Massaker an den Armeniern als Völkermord verurteilt. Dies waren: am 20. April 1965 der Senat und das Repräsentantenhaus von Uruguay; am 9. April 1975 das Repräsentantenhaus der USA; am 29. April 1975 das Repräsentantenhaus von Zypern; am 5. Mai 1993 der Senat von Argentinien; am 14. April 1995 die russische Staatsduma; am 21. April 1995 das junge Armenien; am 23. April 1996 das House of Commons in Kanada, der Senat folgte erst am 13. Juni 2002; am 24. April 1996 das griechische Parlament; am 3. April 1997 die Abgeordnetenkammer von Libanon, das Parlament zog erst am 11. Mai 2000 nach; am 26. März 1998 der Senat von Belgien; am 28. Mai 1998 die Nationalversammlung und am 7. November 2000 schließlich auch der Senat von Frankreich; am 29. März 2000 das schwedische Parlament; am 10 November 2000 der Vatikanstaat und am 16. November die Abgeordnetenkammer in Italien. Da in vielen Staaten die Bemühungen weitergeführt werden, ist in der Zukunft mit weiteren Verurteilungen zu rechnen.

 

 

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