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Das Postulat Vaudroz

Nachdem die beiden letzten Vorstöße unter anderem an einem schlechten Lobbying gescheitert waren, entschloss sich die Gesellschaft Schweiz-Armenien gemeinsam mit der Gesellschaft für Bedrohte Völker wieder eine aktivere Rolle zu übernehmen. Letztere hatte gerade erst dank mehreren neuen Praktikantenstellen einen größeren personellen Zuwachs erlebt, welcher zusätzliche Ressourcen schaffte. Sollte man einen neuen Vorstoß wagen, hieß es genau abzuwägen, wie dieser formuliert sein sollte und eine entsprechende Strategie auszuwählen. Zum einen hatte man daraus gelernt, dass bei den bisherigen Anläufen die Forderungen zur Anerkennung stets aus der linken Ecke kamen. Sie hatten oft schon alleine deswegen einen schweren Stand, weil sie von eher umstrittenen Persönlichkeiten eingeführt wurden. Deshalb suchte das Organisationskomitee einen Vertreter, dessen Vorstöße auch für mittlere Parteien annehmbar waren. Im Genfer CVP-Mann Jean-Claude Vaudroz schien er gefunden zu sein.

Dass sich die Christlichdemokratische Volkspartei genau zu diesem Zeitpunkt für diese Frage politisieren ließ, ist indes kein Zufall. Gewiss wäre der Völkermord an den osma-nischen Christen seit jeher ein Kernthema christlicher Parteien gewesen. Bisher hielt sich die katholisch konservative CVP in dieser Frage jedoch bedeckt. Diese Änderung darf unter anderem wohl darauf zurückzuführen sein, dass sich mittlerweile Papst Johannes Paul II höchst persönlich in die Debatte eingemischt hatte. Das Verhältnis zwischen der katholischen und der armenischen Kirche war lange wegen eines Streites um die göttliche Natur Jesu Christi gespannt gewesen. Eine allmähliche Entspannung erfolgte seit 1997, als Katholikos Karekin I., das geistliche Oberhaupt der Armenischen Kirche, Beziehungen zum Vatikan aufnahm und den Papst nach Erewan einlud. Im Herbst 2001 folgte dieser endlich der Einladung. Bei seinem dreitägigen Besuch begann das katholische Oberhaupt am 27. September seine Rede an der Gedenkstätte für den Genozid in Erewan mit den Worten: „O Gott, höre den Schrei, der aus den Tiefen des Metz Yeghern, des großen Genozids, emporsteigt“ und erinnerte damit an die Anerkennung durch den Vatikan im Jahr zuvor. Die bereits im August 1983 erfolgte Anerkennung durch den Weltrat der Kirchen hat hierbei höchstens eine symbolische Rolle gespielt, da ihm die katholische Kirche bis heute nicht beigetreten ist. Kurz nach seiner Rückkehr sprach der Papst am 8. Oktober 2001 anlässlich einer Sonderaudienz auf dem Petersplatz den 1915 ermordeten Armenischen Erzbischof von Mardin, Ignatius Choukrallah Maloyan selig. Dieser habe „als die Bedrohung des armenischen Volkes immer schlimmer wurde und er die bevorstehende Ver-folgung ahnte“, sich entschieden „nach dem Vorbild des heiligen Ignatius von Antiochien, Jesus bis zum Äußersten zu folgen und sein Blut für die Brüder zu vergießen.“ . Das gemeinsame Memorandum, in dem die drei Landeskirchen der Schweiz (der Schweizerische Evangelische Kirchenbund, die Schweizer Bischofskonferenz und die Christkatholische Kirche) dazu aufriefen, das Postulat Vaudroz zu unterstützen, erschien erst am 8. Dezember 2003 und hatte somit zwar keinen Einfluss auf die Entscheidung des CVP-Mannes, sich dieser Frage einzusetzen, darf jedoch in seiner Bedeutung für das Abstimmungsresultat in der späteren nationalrätlichen Debatte nicht unterschätzt werden.

Nachdem die Anerkennungsfrage aus der linken Ecke in die politische Mitte geholt werden konnte, galt es nun, eine konkrete Formulierung zu finden. Diese sollte die Gründe für die bisher ablehnende Haltung des Bundesrates und des Parlaments berücksichtigen. Da der Bundesrat immer wieder betonte, dass eine Anerkennung eine Sache des Parlaments und nicht der Regierung sei, forderte das Postulat Vaudroz, im Gegensatz zu früheren Vorstößen, nicht mehr die Anerkennung durch den Bundesrat wie dies bei der Motion Ziegler oder dem Postulat Zisyadis der Fall war, sondern ersucht den Bundesrat lediglich, „von der Anerkennung durch den Nationalrat Kenntnis zu nehmen und sie auf dem üblichen diplomatischen Wege weiterzuleiten“.

Am 18. März 2002, dem Tag als das Postulat Vaudroz eingereicht wurde, veranstalteten die GSA und die GfbV gemeinsam eine Pressekonferenz. Dort wurde eine 31-seitige Doku-mentation an Journalisten abgegeben, die die Gründe für eine Anerkennung des Völker-mords als solchen aufführte und zum Fazit kommt: „Aufgrund der wissenschaftlichen Faktenlage und der jüngsten politischen und juristischen Entwicklungen sind die Vorbedingungen für eine Anerkennung des Völkermordes erfüllt. Die Gesellschaft für bedrohte Völker fordert deshalb die Annahme des Postulates Vaudroz durch den Nationalrat. Die Schweiz muss ein Zeichen der Gerechtigkeit für die vergessenen Opfer setzen und nach mehr als 85 Jahren endlich den Völkermord an den Armeniern anerkennen.“ Franziska Stocker, die wissenschaftliche Leiterin der GfbV, welche gemeinsam mit Tessa Hofmann diese Dokumentation verfasst hatte, wertet die Konferenz als großen Erfolg: „Die Pressekonferenz sorgte für ein beträchtliches Medienecho in allen namhaften Zeitungen.“

Am gleichen Tag nahm der Basler Geschichtsprofessor Georg Kreis, der Präsident der Eidgenössischen Kommission gegen Rassismus (EKR) ist, zur Einreichung des Postulates Stellung. Dort schrieb er: „Es genügt nicht, Genozide im Allgemeinen zu verurteilen, Wahrheit ist immer konkret. [...] Das Leugnen von Genoziden kommt einem nachträglichen Verharmlosen von mörderischem Rassismus gleich. Wer das Vorgefallene leugnet, vergeht sich zudem ein weiteres Mal an den Opfern, weil er damit die schmerzliche Erinnerung der Opferseite als Produkt einer Lüge bezeichnet.“ Mit diesem Statement hatte sich diese Kommission, aus der wie schon erwähnt einer der Angeklagten vom Berner Prozess stammte, das erste Mal klar in bezug auf die Frage der Anerkennung des Völkermords positioniert. Auf die Anfrage, wieso dies erst so spät geschehen sei, und wieso die EKR nicht schon die früheren Vorstöße unterstützt habe, antwortete Georg Kreis: „Offenbar haben wir tatsächlich die beiden anderen Vorstöße schlicht nicht wahrgenommen.“

Trotz einer breiteren Unterstützung als bei vorangegangen Vorstößen, beantragte der Bundesrat auch diesmal in seiner schriftlichen Stellungnahme vom 15. Mai 2002 das Postulat abzulehnen. Denn: „Die Türkei streitet diese Massaker mit einer sehr hohen Zahl an Opfern nicht ab, bewertet aber die Frage der bewussten Anordnung durch die damaligen Machthaber anders als es viele Historiker und Historikerinnen tun. Für den Bundesrat ist die Bewertung dieser Frage eine Aufgabe der historischen Forschung.“ Und: „Die Unter-zeichnenden des Postulates wollen mit einem Zeichen der Gerechtigkeit gegenüber den Nachfahren von armenischen Opfern einen Beitrag für einen dauerhaften Frieden zwischen der Türkei und Armenien leisten. Die Annahme des Postulates könnte aber gerade das Gegenteil des angestrebten Zieles bewirken und das emotionsbeladene Verhältnis zwischen der Türkei und Armenien weiter belasten.“ Die Eidgenössische Kommission gegen Rassismus wies daraufhin umgehend den Bundesrat zurecht und forderte ihn auf, den Völkermord anzuerkennen. Ein solcher Dialog, so die EKR, solle nicht auf dem Boden der Verdrängung stattfinden. Er könne sich vielmehr erst in der Anerkennung vergangener Leiden und damit einer Klärung der Opfer- und Täterrolle entwickeln. Der Politik komme in dieser Sache eine führende Rolle zu: sie dürfe es nicht „der Geschichtswissenschaft überlassen, die Schlüsse aus der Vergangenheit zu ziehen, und sie darf es nicht den Gerichten überlassen festzustellen, was als Völkermord anzusehen sei.“

Tatsächlich sind die beiden neuen Argumente, mit welcher der Bundesrat diesmal seine ablehnende Haltung begründete, an sich erstaunlich; zumal die historische Aufarbeitung, wie dem Bundesrat kaum entgangen sein dürfte, längst geleistet worden war und die Auffassung, dass die Annahme des Postulats die türkisch-armenischen Beziehungen belasten würde, auf kaum mehr als Mutmaßungen beruhte.

Dass der Bundesrat sich jedoch vielmehr vor dem türkischen Missmut und den daraus folgenden Verschlechterungen der türkisch-schweizerischen Wirtschaftsbeziehungen fürchtete, belegt eine Rede, welche der damalige Volkswirtschaftsminister Pascal Couchepin auf einer Türkeimission am 25./26. März desselben Jahres auf einer Pressekonferenz in Ankara hielt. Wie die Zeitung im Espace Mittelland berichtete, „spielte Couchepin die Bedeutung des Postulates kräftig herunter und bekannte Respekt vor ‚türkischen Sensibilitäten’. Er erinnerte daran, dass das Parlament vor einem Jahr einen ähnlichen Vorstoß abgelehnt hätte und meinte dann, dass ‚Parlamentsmitglieder oft verschiedene Vorstöße unterzeichnen, ohne ihren Inhalt wirklich zu kennen.’“ Verschiedene Parlamentsmitglieder zeigten sich zu Recht über diesen Seitenhieb empört. Außerdem, so Couchepin weiter, weise der neue Vorstoß im Gegensatz zu früheren die Schuld dem Osmanischen Reich zu. Doch seines Wissens existiere dieses nicht mehr.

Dass Couchepin sich derart vor einem Zusammenbruch der Wirtschaftsbeziehungen fürchtete, kommt nicht von ungefähr. Als Mitte Januar 2001 das französische Parlament ein Gesetz verabschiedete, welches die Vertreibung der Armenier aus Anatolien im Ersten Weltkrieg als "Völkermord" bewertete, hatte der türkische Premier Bülent Ecevit "Gegenmaßnahmen" angekündigt. Unverzüglich kündete Ankara einen Vertrag über die Lieferung eines Satelliten durch die französische Firma Alcatel im Wert von 149 Millionen Dollar, der Rüstungsfirma Dassault entzog die Türkei einen 200 Millionen Dollar schweren Auftrag zur Modernisierung der Waffensysteme türkischer Kampfflugzeuge und der französische Elektronikkonzern Thales wurde von der Ausschreibung für zivile Flugsiche-rungssysteme ausgeschlossen. Aber auch türkische Privatunternehmen stornierten in Frankreich unzählige Aufträge. Das nationalistische Massenblatt „Hürriyet“ veröffentlichte eine Liste französischer Waren, die der "gute Türke" künftig nicht mehr kaufen sollte. Die Universität von Kars, nahe der Grenze zu Armenien, strich Französisch aus dem Vorlesungsverzeichnis. Auch dürfte noch in Erinnerung geblieben sein, dass selbst die Weltmacht USA ein Jahr zuvor in einer ähnlichen Situation den türkischen Drohungen nachgegeben hatte. Nachdem der ehemalige Botschafter Gündüz Aktan mit der Schließung der wichtigen Luftwaffenbasis in Incirlik, welche zur Überwachung der Flugverbotszone im Irak diente, gedroht hatte, schickte sich die Clinton-Administration unverzüglich an, im letzten Augenblick das beanstandete Gesetz zur Anerkennung des Völkermordes zu verhindern. Ebenfalls wurde damit gedroht, dass allfällige Linienführungen für Ölpipelines verhindert werden könnten.

Kaum war das Postulat eingereicht worden, begann eine heftige Offensive. Wie die Zeitung im Espace Mittelland berichtete, haben über 150 Nationalräte sowie fast sämtlich Ständeräte wochenlang täglich Dutzende unerwünschte Spam-Mails in Englisch und Französisch mit weitgehend identischem Text erhalten. „Die E-Mails, mit denen die eidgenössischen Parlamentarierinnen und Parlamentarier, auch jene, die das Postulat gar nicht unterzeichnet haben, seither in Massen eingedeckt werden, sind zwar in durchaus höflichem Ton gehalten, in der Sache aber eine klare Zurechtweisung jener Politiker, die sich von den Armeniern in der Schweiz dafür einspannen ließen, die ‚Tragödie ihres Volkes zu verpolitisieren’. Die Augen dieser ‚kleinen Gruppe’ von Abgeordneten seien verschlossen gegenüber den Gräueltaten der Armenier am aserbaidschanischen Volk in den Kämpfen um Berg Karabach, heißt es weiter. Es wird sogar die Forderung erhoben, das Massaker von Khodjaly, wo angeblich 613 Aserbaidschaner von Armeniern umgebracht worden sind, auf die Tagesordnung des eidgenössischen Parlaments zu setzen.“ Die Spammingattacke konnte auf aserischstämmige Studenten an amerikanischen Universitäten zurückverfolgt werden und nach einer Intervention bei dem dortigen Postmaster gestoppt werden. „Leider meinten mehrere Volksvertreter“, schreibt die GSA in ihrem Newsletter vom Mai 2002, „die Ursprünge dieser Aktion seien in armenischen Kreisen zu orten, worauf wir gezwungen waren, die Fehlinformationen richtigzustellen.“ Der politische Erfolg dieser Mailkampagne, sofern er eine Anerkennung verhindern wollte, ist äußerst zweifelhaft. Die Zeitung im Espace Mittelland hatte für den oben genannten Artikel mehrere Parlamentarier befragt. Diese fühlten sich belästigt und bezeichneten die Aktion, ähnlich wie SP-Nationalrat Andreas Gross, als „dümmlich, billig und völlig kontraproduktiv“.

Gleichzeitig gab es aber auch direkte Erfolge. Bereits am 21. März wurde in Genf in Zusammenarbeit mit der Ligue Internationale contre le Racisme et l’Antisemitisme und der Union Armenienne Suisse ein Hearing mit Experten für die Parlamentarische Gruppe für Menschenrechtsfragen organisiert. An dieser Veranstaltung, die von fast 100 Personen besucht wurde, sprachen vier Expertinnen und Experten: Hans-Lukas Kieser, der auf den historischen Kontext und auf die damalige Haltung der Schweiz einging, Tessa Hofmann, die auf die Wichtigkeit des internationalen Rechts bei der Verhütung und Bestrafung von Völkermord verwies, die türkische Journalistin und Menschenrechtlerin Yelda, welche die Wichtigkeit von Anerkennungen durch Drittstaaten für eine Demokratisierung der Türkei betonte und schließlich Yves Ternon, der den staatlichen Negationismus der Türkei heraus-arbeitete, welcher seiner Meinung nach Bestandteil des türkischen Selbstverständnisses sei. Die Expertinnen und Experten betonten die Faktizität des Genozids und begrüßten daher das Postulat Vaudroz. Wie die Parlamentarische Gruppe für Menschenrechtsfragen anschließend in einer Pressemitteilung verlauten ließ, hatte sie sich nach Anhörung der Referentinnen und Referenten entschieden, das Postulat Vaudroz zu unterstützen.

Trotz dieses Erfolges mussten die Anerkennungsbefürworter angesichts des schweren Widerstands, teilweise verbunden mit massiven Drohungen von türkischer Seite, ihre Anstrengungen für ein wirkungsvolles Lobbying verstärken. Dabei war, laut Franziska Stocker von der Gesellschaft für bedrohte Völker, das größte Problem, dass nie ganz klar war, wann das Postulat im Nationalrat zur Abstimmung kommen würde. Da das Postulat als ein „Vorstoß aus dem EDA“ ins Parlament kam, hing die Traktierung davon ab, wie lange die Beratungen zu den vorangehenden Vorstößen dauern würden. „Das Postulat Vaudroz gelangte weder in der Frühjahrs- noch in der Sommersession zur Debatte und Abstimmung. Der Druck auf das Nationalratsbüro, das für die Traktandenliste zuständig ist, ist indes stetig am Wachsen. Es ist damit zu rechnen, dass das Postulat Vaudroz tatsächlich in der letzten Session der Legislaturperiode (15. September bis 3. Oktober 2003) zur Abstimmung gelangen wird“, schreibt die GSA enttäuscht im August 2003 in der siebten Ausgabe von GSA–Update, dem Info-Bulletin über ihre Aktivitäten, welches in unregelmäßigen Abständen, an die Mitglieder des Vereins verschickt wird.

Entsprechend gab es eine ganze Reihe von Veranstaltungen, welche jeweils die möglichen Termine für die parlamentarische Debatte berücksichtigten. So veranstaltete die GSA in Zusammenarbeit mit der Union Armenienne de Suisse am 13. September 2002 in Genf eine Spezialvorführung des kanadisch-armenischen Filmes „Ararat“, der in einer komplizierten Rahmenkonstruktion die Geschichte der Verdrängung durch die Türkei und des bewussten Vergessens des Genozids mit dem Schicksal der Protagonisten verknüpft. Es waren auch einige wenige Vertreter der Politik zugegen.

Größer war der Besucherandrang, als der CVP-Mann Eugen David, welcher die parlamentarische Gruppe für kulturelle Fragen leitete, am 7. Mai 2003 eine Kinovorführung desselben Filmes veranstaltete. Unter den rund 110 geladenen Gästen befanden sich „an die sechzig eidgenössische Gesandte, National- und Ständeräte sämtlicher Couleurs“.

Am 16. Juli 2003 folgten sechs Parlamentarier dem Aufruf der GSA, dem Bundesrat anlässlich einer „Fragestunde“ unterschiedliche Fragen zu unterbreiten. Stein des Anstoßes war ein Rundschreiben, welches der türkische Erziehungsminister Hüseyin Celik am 14. April 2003 allen Primar- und Sekundarschulen seines Landes hatte zukommen lassen. Darin wurden die Schüler gehalten, Aufsätze zum Thema "Kampf gegen die Anschuldigungen des Völkermordes" zu verfassen. Von den Schülern wurde verlangt, die an den Armeniern, Pontus-Griechen und Assyrern begangenen Massaker zu leugnen. So fragte beispielsweise der grüne Genfer Ueli Leuenberger, ob der Bundesrat bereit sei, deswegen beim Europäischen Rat zu intervenieren und über seinen Botschafter in Ankara von der Türkei eine offizielle Erklärung zu verlangen. Wie nicht anders zu erwarten war, waren die Antworten des Bundesrates enttäuschend.

Im November 2003 ging ein Brief von Ständerat Eugen David in seiner Position als Präsident der parlamentarischen Gruppe für Menschenrechte an alle Parlamentarier, indem ebenfalls empfohlen wird, das Postulat Vaudroz anzunehmen.

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Kurz vor der Traktierung des Postulats Vaudroz am 16. Dezember 2003 im Nationalrat, hatte sich ein diplomatischer Eklat mit der Türkei ereignet, der wohl für das Resultat der Abstimmung nicht unbedeutend war. Mitte September 2003 hatten sich nämlich im Parlament des Kantons Waadt die Landräte mit einem Postulat des Politikers Massimo Sandri auseinanderzusetzen, das ebenfalls die Anerkennung des Genozids verlangte. Ähnlich wie schon rund fünf Jahre zuvor in Genf wurde auch auf dieses kantonale Postulat eingetreten. Der Grund für diesen Erfolg (in beiden Fällen wurde die Anerkennung mit klarer Mehrheit gutgehießen) dürfte wohl die starke armenische Präsenz in diesen beiden Südwestschweizer Kantonen gewesen sein.

Die Reaktion der Türkei auf die waadtländische Anerkennung konnte schärfer kaum ausfallen. Knapp eine Woche später wurde Kurt Wyss, Schweizer Botschafter in der Türkei, ins türkische Außenministerium gerufen. Dort wurde ihm mitgeteilt, dass die von Bundesrätin Micheline Calmy-Rey geplante Türkeireise abgesagt worden sei. Der Tagesanzeiger meinte zu den Urhebern der Ausladung: „Dem Vernehmen nach wurde der Entscheid nicht nur auf Beamtenebene oder von Außenminister Abdullah Gül gefällt. Auch Regierungschef Tayyip Erdogan habe die Absage des Schweizer Besuchs genehmigt.“Ausschlaggebend für diese kurzfristige Ausladung der Bundesrätin war, dass das Waadtländer Kantonsparlament den Völkermord an den Armeniern offiziell anerkannt hatte. Der Verdacht liegt nahe, dass bei der Ausladung auch die Unterschrift eine Rolle gespielt haben könnte, welche Calmy-Rey bereits 1998 in ihrer Funktion als Präsidentin des Grossen Rats unter die Genfer Armenien-Erklärung gesetzt hatte. Mit der Ausladung wurde offenbar eine Drohung wahr gemacht. Wie die Basler Zeitung unter Berufung auf die halbamtliche türkische Nachrichtenagentur Anadolu berichtete, habe Ankara die Regierung in Bern bereits vor der Beschlussfassung des Waadtländer Grossen Rates vor den Folgen eines solchen Schrittes gewarnt.

In ihren Stellungnahmen bezeichnete die ausgeladene Bundesrätin die türkische Reaktion als „übertrieben und schwer verständlich“, zumal der Grosse Rat ein normales, demokratisches Verfahren durchgeführt habe, auf das der Bundesrat keinen Einfluss habe. Diese Antwort war ein geschickter Rückschlag, denn sie entblößte die Türkei als einen Staat, der sich in Sachen Demokratie schlicht nicht auskennt – für den ungeliebten EU-Beitrittskandidaten eine gezielte Ohrfeige. Gleichzeitig entschloss sich die Außenpoli-tische Kommission des Ständerates ihre für Anfang November geplante Informationsreise ebenfalls auf das nächste Jahr zu verschieben, da die politische Atmosphäre für einen fruchtbaren Dialog nicht günstig sei.

Der diplomatische Affront der Türkei wurde in den Medien breit ausgeschlachtet und führte zu einer Solidarisierung mit den armenischen Belangen. Daniel Suter vom Tagesanzeiger meinte dazu in einem Kommentar: „Trotzdem besteht kein Grund für die Schweiz, sich über Gebühr zu echauffieren. Noch weniger Grund besteht allerdings, die nationale Neurose der Türkei anzuerkennen und den Völkermord an den Armeniern zu verleugnen.“ Am klarsten formulierte die Basler Zeitung: „Für die Türkei aber ist das Verhalten auch in Bezug auf ihr Ziel, die Schweiz insgesamt an der Anerkennung des Genozids zu hindern, wohl kontraproduktiv. Nachdem das Parlament einen diesbezüglichen Vorstoß von Joseph Zisyadis (PdA, VD) 2001 noch ablehnte, liegt ein neues Postulat gleichen Inhalts bereits vor. Es trägt 115 Unterschriften aus dem Nationalrat. Es ohne Verzug anzunehmen, wäre – nun vom Parlament – eine zweite souveräne Antwort der ausgeladenen Demokratie auf den türkischen Affront.“

Metin Örnekol, der türkische Botschafter der Türkei in Bern, bemühte sich in einem Interview gegenüber der Berner Zeitung um Schadensbegrenzung: „Der Eindruck von Hochspannung in den schweizerisch-türkischen Beziehungen ist künstlich entstanden durch eine Kampagne in der Presse sowie Erklärungen einzelner Politiker. Man stellte die Verschiebung als Absage dar und sprach gar von einem Affront meines Landes gegenüber der Schweiz.“ Und: „Wir haben die Verschiebung des Datums der Türkei-Reise von Frau Calmy-Rey angeregt, damit sie in einer günstigeren Atmosphäre stattfinden kann. Ende September hatte der Grosse Rat den so genannten Genozid an den Armeniern anerkannt. Das hat in der türkischen Öffentlichkeit heftige Reaktionen ausgelöst. Eine Woche später wäre Frau Calmy-Rey in die Türkei gereist – bei dieser Stimmung hätte wohl nichts Positives herausgeschaut.“ Die Geheimdienstaffäre, bei der der türkische Geheimdienst versuchte, Bundesrätin Calmy-Rey wegen ihrer „Kontakte zu kurdischen Terroristen“ bei ihren Kollegen anzuschwärzen, hat diese Stimmung gewiss nicht entschärft.

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Am 16. Dezember 2003 kam das seit lange fällige Postulat Vaudroz endlich zur Ab-stimmung. Da Nationalrat Vaudroz mittlerweile aus dem Nationalrat ausgeschieden war, wurde das Ansinnen von seinem Fribourger CVP-Kollegen Dominique de Buman getragen. Das Resultat nach der außergewöhnlich langen und hitzigen Debatte war eindeutig: mit 107 Ja- gegen 67 Nein-Stimmen wurde das Postulat angenommen. Daneben gab es 11 Enthaltungen, und 14 Abgeordnete waren bei der Wahl abwesend. Die Nein-Stimmen stammten ausschließlich aus den beiden wirtschaftsfreundlichen Parteien FDP (26 Nein-Stimmen und 8 Ja-Stimmen) und SVP (41 Nein-Stimmen und 7 Ja-Stimmen). Dieses Resultat widerspiegelt in etwa die Positionen der vorangegangen Debatte:

So plädierte der freisinnige Berner Johann N. Schneider im Verlaufe der Debatte als Erster gegen eine Anerkennung. Seine Kernpunkte hatte er bereits in einem Brief kundgetan, welchen er ein paar Tage zuvor an alle Parlamentarier geschickt hatte. In seiner Rede nahm er diese Argumente weitgehend auf und betonte vor allem drei ihm wichtige Punkte. Erstens sprach er sich für eine Nichteinmischung in die Angelegenheiten fremder Staaten aus. Diese Bitte sei ihm auch in zahlreichen Mails und Briefen zugetragen worden. Gemeint war damit die erwähnte Spamattacke. Zweitens sei fragwürdig, ob Entschuldigungen für weit zurückreichende Ereignisse überhaupt notwendig seien. Daher seien auch Schuldzuweisungen wie sie durch das Postulat gefordert wurden, wenig hilfreich, sondern bloß billig. Drittens würde die Anerkennung die Schweiz als Wirtschaftsstandort schwächen und wertvolle Arbeitsplätze gefährden. Schneider dazu wörtlich: „Als Präsident des Verbandes eines wichtigen Zweiges der Exportindustrie stelle ich ganz einfach Folgendes fest: Die Türkei ist ein befreundeter Staat, die Türkei ist ein wichtiger Handelspartner. Wir exportieren dorthin mehr als in etliche EU-Länder. Ich kann mir keinen Reim darauf machen, dass wir, die wir uns zurzeit in einer wirtschaftlich schwierigen Phase befinden, uns noch mit einer weiteren Erschwernis belasten wollen, indem wir diesen befreundeten Handelspartner verurteilen und damit vor den Kopf stoßen.“

Der Zürcher Ulrich Schlüer bat im Namen der SVP-Fraktion ebenfalls, das Postulat abzulehnen. Zum einen seien die wirklich Schuldigen nicht mehr am Leben, sondern nur noch deren Nachkommen, die „sich heute darum bemühen, die Verhältnisse zu verbessern“. Zum anderen wandte er sich dagegen „Ausgewähltes zu politisieren“. Der Grund dafür: er und seine Fraktion verstanden die Forderung, dass genau dieser Genozid anerkennt werden solle, als eine Art sozialistische Verschwörung: „Es ist im Übrigen eine merkwürdig ausgewählte Moral, die wir hier beschwören. Warum sagt nie jemand, wir könnten mit Präsident Putin erst Beziehungen pflegen, wenn das heutige Russland endlich die volle Verantwortung für den durch Stalin in der Ukraine verübten Genozid übernehme? Wird die Frage nur deshalb nicht gestellt, weil jener Genozid ein sozialistisches Vorzeichen trug? [...] Alle Opfer sind Opfer, jedes einzelne ist ein Opfer zu viel. Aber hören wir auf damit, Opfer aufzurechnen, Opfer zu politisieren, indem wir bestimmte Motive politisch anders werten als andere Motive.“ Gerade hier zeigt sich die Rache der linken Vorstöße: ideologische Kampfvorstellungen der Schweizer Rechten scheinen einen bedeutend wichtigeren Aspekt zu bilden als historische Forschung. Ein Argument ähnlicher Art brachte auch der FDP-Politiker Markus Hutter vor, als er fragte, ob es nicht eher angebracht sei, „statt eine Anerkennung begangenen Unrechtes in weit zurückliegenden Zeiten in fremden Ländern zu fordern, unsere Rolle zu hinterfragen, zum Beispiel bezüglich eines begangenen Unrechtes, an das wir, die meisten hier im Saal, uns noch sehr gut erinnern mögen? Ich denke an Kambodscha und die Rolle beispielsweise der Linken, wie sie dieses Thema aufgearbeitet hat. Wäre es nicht weit angebrachter, hier kritische Fragen an uns selbst zu stellen, als anderen Staaten besserwisserisch hier Vorschriften machen zu wollen?“ Der SP-Mann Hans-Jürg Fehr, an den die Frage gerichtet war, meinte: „es ist komplett sinnlos, ein großes Unrecht gegen ein anderes großes Unrecht auszuspielen. Es ist hier zu Recht gesagt worden, man müsse auch den Genozid in der Ukraine, man müsse auch den stalinistischen Gulag thematisieren. Selbstverständlich muss man das tun. Aber man kann doch das eine tun und das andere nicht lassen. Wir stehen in beiden Fällen vor der gleichen Aufgabe“.

Es zeigt sich bei dieser Debatte, dass sich die Argumente im Wesentlichen kaum gewandelt hatten. Keiner der Redner bezweifelte die Faktizität des Genozids, weshalb die Diskussion auch nicht auf die Ebene der „Hinterfragung“ längst gesicherter wissenschaftlicher Kennt-nisse verkam. Sorge bereiteten nur die mögliche Schwächung des Wirtschaftsstandortes Schweiz und die Unvereinbarkeit mit einer Doktrin der Nichteinmischung in Angelegenheiten fremder Staaten. In diesem Denken würde die Verurteilung auch eine Aufweichung eines eng verstandenen Neutralitätsbegriffs bedeuten. Daher war immer wieder zu hören, dass die Türkei ihre Geschichte eigentlich selber aufarbeiten müsste. Dass ihr das nicht ohne Druck von außen gelingen dürfte, lässt sich mit der Analogie zum Umgang mit den nachrichtenlosen Vermögen in der Schweiz aufweisen.

Der Wandel liegt an einem anderen Ort. Während sich die Argumente in den einzelnen Debatten stets wiederholen, haben sich doch die Träger der Argumente gewandelt. So hat vor allem das verstärkte Engagement der Schweizer Kirchen einem Meinungsumschwung bei den beiden christlichen Parteien CVP und EVP bewirkt. Auch wenn es kein Abstimmungsprotokoll zum Postulat Zisyadis gibt, da die Abstimmung, welche im Kongresssaal in Lugano stattgefunden hatte, nicht nominal war und deshalb lediglich manuell erhoben wurde, belegen dies die Nachforschungen des GSA-Kopräsidenten: „Aufgrund von persönlichen Nachfragen kann ich ein ungefähres Bild davon zeichnen, welche Parteien wie gewählt haben. PdA, Grüne und Sozialisten stimmten größtenteils dafür, die CVP war stark durchsetzt, und die FDP und stimmte kompakt dagegen. Zum Verhalten der EVP habe ich keine Angaben. Grundsätzlich würde ich bei dieser Wahl jedoch behaupten, dass vor allem die Abwesenden fürs Resultat prägend waren.“

Angesichts der knappen Abstimmungsresultate beim Postulat Zisyadis darf wohl insbesondere das Wirken der kirchlichen Organisationen als maßgeblich für das Kippen des labilen Gleichgewichts zwischen Gegnern und Befürwortern der Anerkennung bezeichnet werden. Gleichwohl aber auch der sich andauernd verstärkende wissenschaftliche Konsens, wie er in den vorangegangenen Kapiteln beschrieben wurde.

 

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