Abschlussrésumé

Die Abschlusskonferenz des Projekts „Der Begriff Fortschritt in unterschiedlichen Kulturen“, auf der sich Teilnehmer aus sechs vorangegangenen weltweiten Regionalkonferenzen in Berlin versammelten, hatte inhaltlich zwei Hauptziele. Zum einen sollten die Teilnehmer dort zu Themen, die auf diesen Konferenzen die übergreifenden Hauptanliegen waren, gemeinsam ins Gespräch kommen. Zum zweiten sollten dadurch Bruchlinien und Unterschiede und jeweils unterschiedliche Ausformungen des Begriffs „Fortschritt“ deutlich und kenntlich werden.

Entsprechend war die Konferenz vorstrukturiert worden:
– durch die Rekapitulation der jeweiligen regionalen Konferenzergebnisse, die aufgearbeitet und vergleichbar gemacht wurden, und die sich die Teilnehmer am ersten Tag der Konferenz gegenseitig vortrugen.
– durch einen Vortrag zum Umgang mit Differenzen, der das zweite Ziel hervorheben sollte: Unterschiede im Fortschrittsbegriff kenntlich zu machen.
– durch die Bildung von drei Arbeitsgruppen, die die Bestimmung dieser Unterschiede an drei spezifischen Aspekten des Begriffs des Fortschritts – jeweils anhand von Leitfragen – ermöglichte: sie standen im Mittelpunkt der Konferenz.
– Für eine zielorientierte Struktur des Diskussionsprozesses sorgte die Gesprächsführung erfahrener Moderatoren.

Die Ergebnisse der Arbeitsgruppen wurden der Öffentlichkeit zuletzt präsentiert und in einer Expertenrunde aus Politik und Wirtschaft erste Schlussfolgerungen daraus andiskutiert. Der Zweck der Konferenz lag nicht allein darin, präzise fassbare inhaltliche Positionen zu finden, sondern auch Vorgehensweisen zu erproben, die künftig für den Dialog über unterschiedliche Auffassungen zum Begriff des Fortschritts in unterschiedlichen Kulturen einen Weg weisen.

Während die Internetseite diesen inhaltlich-methodischen Prozess als einen unabgeschlossenen insgesamt dokumentiert und dadurch offen hält, sollen hier Resultate der Konferenz zusammengetragen werden, wie sie sich hauptsächlich aus den Arbeitsgruppen ergeben: Sie sind vor diesem Hintergrund allerdings eher als Teilergebnisse, als Zwischenresultate und als mögliche Sondierungen für das weitere Vorgehen in diesem facettenreichen Dialog zu betrachten. Er hat letztlich zum Ziel, dass sich unterschiedliche Kulturen auf der Ebene gegenseitigen Respekts und Anerkennung fruchtbar begegnen können.

Zur Arbeitsgruppe 1, Fortschritt und Tradition
Fortschritt, das ist in Europa die allumfassende Idee, die aus der Tradition heraus und in die Moderne hineingeführt hat. Über Verluste auf diesem Weg wurde in den letzten 300 Jahren immer wieder diskutiert. Die erste Arbeitsgruppenfrage nach Verlusten in ihrer jeweiligen Region wurde von den Teilnehmern grundsätzlich kritisiert. Nicht um das Festhalten von Verlusten im Übergang zu einer westlich geprägten Moderne gehe es, sondern um die Entwicklung eigener Modernitäten, und dies nicht, um Verlorenes zu beklagen, sondern um möglichst viele traditionelle Elemente in einer Moderne nach eigenen Standards zu bewahren. Diese hätte sodann ihre Maßstäbe nicht in der Tradition der abendländischen Aufklärung und der westlich-industriellen Entwicklung, sondern in den Charakteristika der eigenen kulturellen Verfasstheit. „Moderne“, danach bemessen, hiesse eine spezifische Kombination aus lebensweltlicher Anlage – aus bewährten Formen des „guten“ Lebens – und darin integrierten Errungenschaften der (letztlich immer westlichen) Technik (Namibia; noch weiter in dieser Denkrichtung ging der Vorschlag, traditionelle Lebensformen als solche aufzuwerten, sie der Moderne selbstbewußt entgegenzusetzen - Bolivien). Statt einer Ablösung der Tradition durch die Moderne also: spezifische Modernisierung der Tradition, Bildung einer eigenen Moderne mit eigenen „Marketingstrategien“, eine „Moderne“, die sich auf die eigenen Traditionen besinnt und ihre von der Kolonialisierung geprägte alte Gesellschaftsform hinter sich läßt.

Eine weitere Position (Ägypten) unterschied zwischen Moderne und Modernisierung, d.h. zwischen einerseits den – universellen – Standards, welche die Aufklärung gesetzt hat und die zwar ursprünglich vom Westen ausgehen, heute aber zurecht universelle Geltung beanspruchen (z.B. die Menschenrechte), und andererseits der technischen Entwicklung, wie sie seit der Aufklärung kontinuierlich zu beobachten war. Danach hätten wir es mit zwei „Rationalisierungsmodi“ zu tun: dem Ideal der Aufklärung (einer Änderung in der Einstellung), das auf rationalisierte rechtlich-moralische Verhältnisse abzielt, und der Realität der industriellen Entwicklung, die zu technologisierten „zweckrationalen“ Formationen geführt hat (und Deformationen: Osama Bin Laden ist ein Beispiel für traditionale Ideologie verbunden mit westlicher Technologie - Ägypten.)

Für die Beschreibung des jeweiligen Übergangs von der Tradition zur Moderne wurde statt „Fortschritt“ der weniger vorbelastete Begriff der Innovation (Russland) vorgeschlagen – Innovation, die auf ein ausbalanciertes Verhältnis zwischen Kern und Peripherie hin ausgerichtet ist und die dann effektiv ist, wenn der Kern stark genug bleibt, weil er von der Peripherie abgeschirmt wird. Wobei diese aber als Katalysator und Element der Öffnung auch für die nötige Stimulanz von außen sorgt.

Dass Kritik an der Moderne traditionelle Werte verkläre, wie in einer der Impulsfragen unterstellt wurde, erschien den Teilnehmern ein Zug der nur bei der westlichen Bourgeoisie anzutreffen sei.

Zur Arbeitsgruppe 2: Fortschritt und Religion
Die Gruppe war sich einig darin, dass es in der Frage eines möglichen Zusammenhangs zwischen der Ausdehnung des westlichen Fortschrittmodells und wiedererstarkender Religionen vor allem um „religiöse Orthodoxie“ geht. Übereinstimmend wurde Re-Orthodoxisierung der Religion bestimmt als die jeweilige Reaktion auf zerfallende Werte, Weltbilder und Weltanschauungen. Das gelte nicht nur für den ägyptischen Raum und Russland, wo sich dies in wachsendem Fundamentalismus und einer Radikalisierung der religiösen Massen ausdrückt. In Afrika etwa kannte man bis zum Einzug des Christentums zwar den Schöpfergott, aber nicht den Gott als Richter. Dort komme es, weil sich Kolonial- und Weltmächte als ungerecht und somit unchristlich zeigten, zu einer Re-Orthodoxisierung im Sinne einer Rückbesinnung auf das ursprüngliche Christentum. In Südamerika werde die kosmozentrische Weltanschauung, die im Westen als Naturreligion bezeichnet wird, als Chance betrachtet, zur eigenen Identität zurückzufinden. Strittig war, ob Religion und Fortschritt vereinbar seien.

These 1: Religionen verkörperten immer Lehren, die in sich geschlossen seien und Fortschritt ausschlössen. Auf Dauer könne Fortschritt im Sinne einer zunehmenden wissenschaftlich-technischen Erschliessung der Welt die überkommenen religiösen Erklärungsmuster nicht unangetastet lassen.

These 2: Es ist denkbar, dass die Werte der Religion für sich, neben der ökonomischen Entwicklung der Globalisierung, unangetastet bleiben oder fundamentalistisch zurückerobert werden. Anerkanntermaßen aber schließen sich modernste Technik und tiefster Fundamentalismus nicht gegenseitig aus: siehe Osama Bin Laden, aber auch die us-amerikanische Gesellschaft.

Weitgehend bestand Einigkeit darin, dass Fundamentalisierung die Begleiterscheinung zu einem Werteverfall oder -verlust sei, dem mit Mitteln einer kulturellen und sozialen Modernisierung begegnet werden müsse. Die Orte, an denen dies geschehe, müßten nicht, könnten aber die Kirchen sein, jedenfalls soweit sie das Verstehen des anderen nicht behinderten, sondern förderten. Dass auch der Islam modernisierbar in diesem Sinne sei, davon zeugten dessen erste 400 Jahre – heute sei bei ihm wieder eine umfassende Modernisierung geboten (Marokko).

Eine Kultur der Verständigung als Ersatz für Religion wurde insbesondere von europäischer Seite gefordert – statt religiöser Erziehung: Bildung, Erziehung zur Demokratie, historische Aufklärung, Generationendialog, Kulturförderung, Medienerziehung – rund um die universell akzeptierten Werte: Menschenrechte, Toleranz, Freiheit, Gewaltlosigkeit. Letztlich sei Religion stets zweideutig: als Motor von Gewalt wie von Verständigung, eine Ambiguität, die es je regional zu analysieren gilt.

Zur Arbeitsgruppe 3, Fortschritt und die soziale Frage
Da der Begriff des „Fortschritts“ zuweilen nicht im Sinne des „westlichen“ Fortschrittsbegriffs sondern neutral oder gar diesem entgegengesetzt verstanden wird, wollten die Teilnehmer bei der Frage nach „negativen Folgen“ lieber von „Globalisierung“ als von „Fortschrittsmodell“ reden. Die Folgen der Globalisierung wurden von ihnen nahezu durchweg ähnlich beschrieben: Arbeitslosigkeit, das Nachlassen staatlicher Steuerungsleistungen, die zunehmende Akkumulation von Macht und Kapital in der Hand von wenigen, ungleicher Zugang zu den Märkten, ungleiche Verteilung des Wachstums in den jeweiligen Ländern. Eine Ausnahme bilden die europäischen Länder, die sich durch die Marktöffnungen einen faireren und freieren Wettbewerb versprechen bzw. glauben, dass sich Globalisierung durch nachhaltige Entwicklung positiv gestalten läßt.

Bei der Frage, wie Fortschritt bzw. Globalisierung positiv gestaltet werden kann, fällt auf, dass nicht die jeweilige regionale Perspektive ins Zentrum gestellt wird, sondern universelle Bedingungen formuliert werden, da ja auch die Veränderungen auf globaler Ebene ansetzen müssten: Schaffung einer neuen Weltordnung, Reform des UN-Systems, Stärkung der Rolle und Autonomie der Vereinten Nationen, Erweiterung des Sicherheitsrats, Reform des internationalen Finanzsystems, Politikwechsel bei IWF und Weltbank. Zugleich wurden als Grundlage für eine neue Weltsozialordnung globale ethische Codes gefordert: eine Neudefinition von Fortschritt und Entwicklung, die soziale und ökologische Aspekte stärker einbindet.

Während sich auf den jeweiligen Regionalkonferenzen zu einer Reihe von Aspekten (zu verschiedenen Fortschrittsbegriffen, zu Religion, Tradition, Armutsreduktion, Identität, Ökonomie, usw.) deutliche Unterschiede abzeichneten, überwog nun unter den Teilnehmern der interkulturell besetzten Arbeitsgruppen – in der Regel war je ein Teilnehmer pro regionaler Vorkonferenz dabei – der Hang wenn nicht zur Konsens- so zur Koalitionsbildung, oft gegen die westliche Handlungs- und Denkweise. Dem Pessimismus des Impulsredners Breytenbach, den einige als anregend empfanden und der keinen Fortschritt sieht, sondern nur ein jeweiliges Sich-Einrichten in einer zeitgebundenen gesellschaftlichen Welt, wollte sich keiner der Teilnehmer anschließen. Eigene Moderne, oder eine westliche Moderne, die sich jedoch wahrhaft an den Werten der Aufklärung orientiert – gegenüber den Auswüchsen der Globalisierung; vielfache Gründe für eine Re-Orthodoxisierung der Religionen, die in der Komplexität der modernen Gesellschaften zu suchen sind – und denen nur durch verständigungsorientierte Kommunikation entgegenzuwirken ist, mit oder ohne Religion und Kirche; einhellige Forderung von Programmen zur Eindämmung der Globalisierungsfolgen – und eines korrespondierenden Ethikkodexes: Das waren in der Diskussion die Orientierungs- und Scheidelinien.

Die anschließende Podiumsdiskussion machte deutlich, dass schon seit einiger Zeit die Entwicklungspolitik ebenso wie die Politik der Unternehmen ihrem jeweiligen Selbstverständnis nach nicht mehr allein technizistisch ausgerichtet ist, sondern an kulturelle Besonderheiten anknüpft; inwiefern sich die Vorstellungen davon mit denen der Teilnehmer in Einklang bringen ließen, mußte weitgehend offen bleibe. Die Reaktionen der Teilnehmer nach der Konferenz haben gezeigt, dass sie die Diskussionen allenthalben als sehr positiv empfanden und daraus wichtige Anregungen zur Schärfung des Blicks auf die eigenen Verhältnisse bezogen haben. Von mehrfacher Seite war der Wunsch zu vernehmen, an die Ergebnisse der Berliner Abschlusskonferenz nun in den jeweiligen Ländern noch einmal regionenspezifisch anzuknüpfen; zumindest in einem Fall gibt es dafür bereits die ersten konkreten Schritte.


Dr. Ulrich Müller-Schöll
Wissenschaftlicher Berater

Kann Kultur die Entwicklung eines Landes hemmen oder vorantreiben? Gemeinsames Projekt der GTZ und des Goethe-Instituts.