Exposé
Zur Internationalen Konferenz in Berlin  

Fortschritt - ein Phänomen auf internationaler Ebene
Was „Fortschritt“ ist, läßt sich heute auf nationaler oder regionaler Ebene allein nicht mehr beantworten. Ein Staat, der die Industrialisierung vorantreibt, greift in das ökologische, wer seine Märkte öffnet, greift in das soziale und wer Produktionskapazitäten anbietet, greift in das ökonomische Gleichgewicht der Welt ein. Zugleich bringt es die zunehmende Globalisierung mit sich, daß das Modell des westlichen Fortschritts, das in der Kolonialzeit noch gewaltsam durchgesetzt werden sollte, nun rund um den Globus gleichsam naturwüchsig Einzug hält: durch die Gesetze der Ökonomie, durch die international sich vernetzende Kommunikation und durch neue Technologien, die die Welt überziehen. So trivial diese Erkenntnis ist, so wenig wissen wir darüber, wie dieser „Fortschritt“ in den Regionen der Welt aufgenommen und mit welchen Hoffnungen oder Befürchtungen er verbunden wird. Je mehr aber die Welt zusammenwächst, desto dringlicher wird es, sich darüber interkulturell zu verständigen. In diesem Dialog stoßen alle Seiten immer wieder auf Hindernisse, die sich aus unterschiedlichen Konnotationen gewisser Grundbegriffe wie „Freiheit“, „Menschenrechte“, aber eben auch „Fortschritt“ ergeben.

Im Rahmen eines internationalen Kooperationsprojekts haben deshalb die Deutsche Gesellschaft für Technische Zusammenarbeit (GTZ) GmbH und das Goethe-Institut in den vergangenen Monaten eine Reihe von sechs Konferenzen an sehr unterschiedlichen Orten der Welt veranstaltet - in Ägypten, Bolivien, Deutschland, Indien, Namibia und Russland. Dabei stand die Frage im Mittelpunkt, was der Begriff Fortschritt für das jeweilige Land heute bedeutet.

Fortschritt - ein ureuropäischer Begriff
Wir machen Fortschritte im Genesungsprozeß, beim Erlernen eines Musikinstruments, oder in der Bildungspolitik: In diesem Sinne hat es den Begriff des Fortschritts vielleicht schon immer gegeben. Aber „der“ Fortschritt im Singular ist eine Erfindung der europäischen Aufklärung, und zwar als Ausdruck für eine Entwicklung, die nicht bestimmte Teilgebiete betraf, sondern von der man sich vorstellte, daß sie die Menschheit insgesamt angeht. Lessing etwa sprach von der „Erziehung des Menschengeschlechts“ (1780), Kant vom Ausgang des Menschen aus der Unmündigkeit (1784). Hegel sah die Welt am Ende einer Jahrtausende dauernden geschichtlichen Entwicklung aus ihrem objektiven Geschichtsverlauf heraustreten und verzeichnete dies als einen „Fortschritt im Bewußtsein der Freiheit“ (1830). Im selben Jahrhundert begriff Marx in der Ökonomie und ihrer technisch-industriellen Entwicklung den Schlüssel zu einem „Reich der Freiheit“(um 1865) – jenseits der Abhängigkeit von der Natur. „Fortschritt“ hieß also im 18. Jahrhundert: moralische Läuterung der Menschheit, während im 19. Jahrhundert darunter ein Prozeß verstanden wurde, der zuende geht, der letztlich mit der Vertreibung aus dem Paradies begonnen hatte und in politisch vernünftig geregelten Verhältnissen enden sollte. Erst das europäische (und amerikanische) 20. Jahrhundert sah im „Fortschritt“ einen Prozeß, der ins Unendliche weiterläuft, wobei der Wissenschaft noch bis in die 70er Jahre zugetraut wurde, daß sie binnen kurzem für alle Probleme eine Lösung haben würde: Siedlungen im Weltraum, das Ende aller Krankheiten, einen unerschöpflichen Reichtum an Energie ... Die Macht der Menschheit schien unendlich erweiterbar. Zugleich wuchs die Überzeugung, daß nur ein stetes Wirtschaftswachstum diese Vision des Fortschritts garantieren könne. An den Folgeschäden bildete sich das Paradigma der „Nachhaltigkeit“: „Fortschritt“ wurde verantwortungsethisch korrigiert, die negativen ökologischen, aber auch die ökonomischen und sozialen Auswirkungen dürfen zu keinen grundlegenden Folgeschäden führen, die die Regeneration des Systems Welt insgesamt betrifft. Nachdem der Begriff des Fortschritts den Kreisläufen traditionaler Gesellschaften ein immer lineareres Weltbild abgetrotzt hatte, wird diesem nun das Zyklische der sich regenerierenden Natur bzw. des Kreislaufs traditionaler Gesellschaften nachträglich eingebaut. In der kurzen, etwas mehr als dreihundertjährigen Geschichte des Fortschritts herrschten also zu unterschiedlichen Zeiten unterschiedliche Perspektiven vor. Erst im 20. Jahrhundert wurde der Begriff in Europa vom einem naturwissenschaftlich-technischen Weltbild dominiert.

Fortschritt in fremder Perspektive
Dem Thema „Fortschritt“ haben sich die Teilnehmerinnen und Teilnehmer der sechs Konferenzen in unterschiedlicher Weise genähert: Jeweils wurde eine spezifische Konstellation deutlich, die die politische Situation, ökonomische Hintergründe, soziale Konflikte, religiöse Motive und traditionale Wurzeln spiegelten und zusammenfaßten.

In Ägypten bildete der Wunsch nach eigenständigem industriellem Vorankommen, dem seit Jahren die zunehmende Re-Islamisierung entgegenstehe, das Leitmotiv. Warum, so fragten sich die Teilnehmer, vermochten etwa die Japaner, unter Wahrung eigener kultureller Vorstellungen, sehr wohl an die westliche Ökonomie und Technologie Anschluß zu finden, während dies den Ägyptern nicht gelang? Warum folgte auf die durch Anwar El Sadat eingeleitete Öffnung und die damals geförderte Säkularisierung eine Rückentwicklung? Warum bot in Europa der Protestantismus die angemessene Ethik für die industrielle Entwicklung, und der Islam nicht?

In Bolivien fragten die Referenten überwiegend danach, wie sich angesichts des zunehmenden Einflusses der Globalisierung die Kultur der verschiedenen andinischen Volksstämme erhalten läßt. Statt durch Entwicklung hin zu einem Lebensstandard nach westlichem Vorbild sei Fortschritt womöglich besser bestimmt durch ein Leben im Einklang mit der Natur, wie es in den andinischen Kulturen überliefert wurde. Dieser Standpunkt wurde mit Entschiedenheit vorgebracht: Zur Zeit der Konferenz hatte Bolivien einen Volksaufstand hinter sich, der sich gegen neoliberale Tendenzen in der Politik gerichtet und zur Amtsenthebung des Präsidenten geführt hatte, und die Situation war weiterhin gespannt.

In Indien war der Wahlslogan des „Shining India“ das Symbol für ein neu erstarktes Bewußtsein mit neoliberalen Zügen und für ein Land, das sich inzwischen zu den Staaten zählt, die selbst Entwicklungszusammenarbeit anbieten. Zugleich zeigte sich, daß der Boom, der Indien im Zuge der Globalisierung erreicht, die Armutsprobleme keineswegs zu lösen vermag. Der demokratische Prozeß schreitet voran, aber an vielen Gebieten und Menschen geht er vorbei. Ganze Städte gehen in Megastädten auf und werden dadurch von ihrer gewachsenen Umwelt abgekoppelt. Werden die Verluste im Namen von Liberalisierung, Privatisierung und Globalisierung durch anderweitige Gewinne überhaupt aufgewogen?

In Kaliningrad suchte eine doppelte Stadt in Insellage – eine preußische Stadt ohne Preußen, eine russische Stadt ohne russische Vergangenheit – nach einer russisch-europäischen Identität. Angesichts der komplexen Geschichte der Stadt, die als abgeschirmter Militärvorposten eine gleichsam rein-sowjetische Identität hatte und deren Bewohner aus den unterschiedlichsten Sowjetrepubliken zuzogen, war die zentrale Frage, wie weit ein eigener kultureller Kern bewahrt werden kann und muß, damit die nationale Identität angesichts der Herausforderungen der Globalisierung keinen Schaden erleidet. Im Namen des Fortschritts müsse eine Kultur des zivilgesellschaftlichen Zusammenlebens gepflegt und gestärkt werden.

In Namibia wurde deutlich, daß dort die Konstellation nicht nur von den Faktoren in der eigenen Kultur geprägt ist, sondern ebenso wesentlich durch den Vergleich mit anderen afrikanischen Staaten, und mit dem europäischen und US-amerikanischen Okzident, dessen Entwicklungen äußerst genau verfolgt werden. Ein Teil der Teilnehmer befand, daß Fortschritt normativ gemäß den wünschbaren kulturellen Traditionen des eigenen Landes zu bestimmen sei. Der andere Teil meinte, Fortschritt sei zunächst einmal danach zu bestimmen, ob es gelinge, die demokratischen Verhältnisse stabil zu halten; bei den nächsten Wahlen droht Namibia durch den größten der Volksstämme majorisiert zu werden.

Auf der deutschen Konferenz konzentrierte sich der Dialog auf vier zentrale Aspekte des Fortschrittsbegriffs – Geschichte, technische Entwicklung, die Zukunft der Arbeitsgesellschaft und den gesellschaftlichen Wandel nach der Wiedervereinigung, der von vielen ehemaligen DDR-Bürgern hinsichtlich Solidarität, soziale Sicherheit und Chancengleichheit als Rückschritt empfunden wird. Schließlich wurde erörtert, was, ausgehend von der heutigen Situation in Deutschland, „Innovation“ bedeutet. Vor dem Hintergrund der deutschen "Reform"-Debatte und drohender Entlassungen bei Opel und anderen Großunternehmen kreiste die Diskussion um die Frage, ob es in Zeiten der Globalisierung überhaupt noch von Bedeutung sein könne, über gesellschaftlich wünschbaren Fortschritt zu diskutieren

Ein Podium der Unterschiede
Auf der internationalen Konferenz in Berlin werden die Unterschiede und Gemeinsamkeiten der Interpretationen des Fortschrittsbegriffs deutlich werden: In zweitägiger Klausur werden je vier Teilnehmer der sechs Länder-Konferenzen einander von den unterschiedlichen Diskussionen, Themen, Stimmungen und Hintergründen ihrer Konferenzen berichten. Es finden Arbeitsgruppen statt – rund um Themen, die auf allen weltweiten Konferenzen eine zentrale Rolle gespielt haben: zur Frage von „Fortschritt und Tradition“, zum Verhältnis von „Fortschritt und Religion“ und zum Thema „Fortschritt und die soziale Frage“. Dabei bleibt offen, welche Positionen sich dazu herauskristallisieren werden. Am dritten – öffentlichen – Tag der Konferenz werden die Ergebnisse vorgestellt. Eine Gesprächsrunde mit hochrangigen Vertretern aus Politik und Wirtschaft wird sich damit auseinandersetzen und danach befragt werden, ob und welche Konsequenzen das Gehörte für ihr Handeln in der internationalen Zusammenarbeit haben könnte.


Kann Kultur die Entwicklung eines Landes hemmen oder vorantreiben? Gemeinsames Projekt der GTZ und des Goethe-Instituts.