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Nine/Eleven verweht

Glanz und Elend großer Politik
__umfrage__

Am 11.9. hat sich die Welt verändert.

Über die Drahtzieher der Anschläge gibt es noch immer keine Einigkeit, da Vieles ungeklärt geblieben ist. Wer steht hinter den Anschlägen?

Nine/Eleven verweht

Goedart Palm 11.09.2007

Glanz und Elend großer Politik

[local] Nine/Eleven erschien wie ein großes politisches Versprechen, das seine mediale Vermarktung gleich mitlieferte, ohne nach packenden Inszenierungen lange suchen zu müssen: Die Bilder des Anschlags sollten mehr als bloße Propaganda-Cartoons zu liturgischen Andachtsbildern werden, die der bilderfressende Westen kaum mehr in nennenswertem Umfang besitzt. Die vielleicht letzten Bilder, die größere Teile der Weltöffentlichkeit emotional und politisch tief erreichten, zeigten die nackten, napalmverbrannten Kinder, die im letzten Moment der vietnamesischen Feuerhölle entkommen.

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Delirierender Patriotismus

Nun hatte man wieder grandiose, packende Bilder, die jene scharfe Kontur besaßen, auf die sich das unspektakuläre Weltelend so selten versteht. Das waren auch andere Kaliber als etwa die fetischistisch verehrten US-Flaggen, die symbolisch verbraucht sind und in die man Helden einwickelt, wenn alles vorbei ist. Die Bush-Regierung besaß Action-Ikonen, die kongenial das Freund-Feind-Schema illustrierten, das große Politik erst möglich macht.

Der 11.September 2001 war ein erhabener Tag, der in der logischen Schrecksekunde der penetrierten Türme sofort seine Wirklichkeit verlor, weil diese in den Bildern der Wiederholung aufgelöst wurde und imaginäre Exzesse eröffnete, von denen man eben bis dahin nur träumen konnte. Eine imperiale Zeit der Apokalypse brach an, zumindest für ein bis zwei Legislaturperioden. In dieser Erinnerung wollen wir siegen, lautete die Parole in der Kino-Wagenburg Amerikas. Die Vergangenheit sollte als revanchistisches Kapital hochverzinst werden. Die Bilder sprudelten nur so, zwischen Katastrophe und Kairos, Angriff und Verteidigung, Tod und Überleben, als Dokumentation und Fiction.

Nun zum sechsten Jahrestag des 11. September übt Osama Bin Laden, der selbst eher puristische Videoformate bevorzugt, fundamentale Medienkritik an Hollywood, weil dort das Bild des friedlichen Islam unerträglich verzerrt würde ([local] Mit Kapitalismuskritik zum Gottesstaat). Über welchen Film reden wir eigentlich?

In der US-Filmproduktion siegten zunächst die Feuerwehrleute von New York, während die Bösen zuvor von der Hölle verschluckt worden waren, die sie sich und den anderen bereiteten. Die Bush-Regierung war aufmerksamkeitsökonomisch und politstrategisch auf dem Höhepunkt der medial konfektionierten Macht angelangt. Mit solchen Bildern kann man Kriege legitimieren, die man ohnedies schon vorher geplant hatte ([local] Die Rückkehr der Jediritter).

Bildunterschrift des Weißen Hauses: "Standing upon the ashes of the worst terrorist attack on American soil, Sept. 14, 2001, President Bush pledges that the voices calling for justice from across the country will be heard. Responding to the Presidents' words, rescue workers cheer and chant, "U.S.A, U.S.A."

Der Afghanistan-Feldzug passierte erstaunlich leichtfüßig die Kontrolle der vorgeblich kritischen Öffentlichkeit. Noch reichten diese Bilder, einen Krieg zu legitimieren, der nicht weniger sinnlos war als die völkerrechtswidrige Strafexpedition in Babylon. Der Krieg im Irak ließ sich mit den Bildbatterien des 11.September schon weniger gut aufladen. Dass ein alternder Diktator, der bekanntlich Terror lieber selbst betrieb, als ihn namenlosen Terroristen zu überlassen, nun eine Verbindung zu den Anschlägen auf das WTC eingehen musste, war Teil einer kruden Polit-Dramaturgie, die sich selbst einredete, jede Botschaft verkaufen zu können, wenn das Produkt nur lange genug in das dicke Fell einer trägen Öffentlichkeit einmassiert wird. Bush ist als Medientheoretiker wie die meisten Politiker bekennender "McLuhanist": Das Medium ist die Massage, weil sich für die Botschaft dahinter, wenn es denn eine gibt, ohnehin keiner allzu sehr interessiert.

Im Kampf um Bagdad musste das ewig Böse an die Front. Das ist ein alt gedienter Feind Amerikas, ein bequemer Kumpel, aber leider kein aufmerksamkeitstauglicher Dauerbrenner, der heutzutage für eine lang währende Wutabfuhr oder wie Fontänen schießende Erregungskurven noch herhalten könnte, wie sie uns etwa der bizarre Karikaturenstreit bescherte. Gottlob, die amerikanischen Waffen funktionieren auch dann noch, wenn der Patriotismus als Schmiermittel der Weltbefreiung knapp wird. Selbst knietief eingebettete Journalisten garantieren keine propagandistisch hochkarätigen Storybords, zumal die Weltöffentlichkeit mit ihren immer verwöhnteren Kino-Sinnen nicht leicht zu befriedigen ist. Saddams Ende war so widerwärtig wie zwangsläufig, mithin langweilig, so dass mit dieser wohlfeil inszenierten Gerechtigkeit schon gar kein Bildersatz für den verblassten Glanz von Nine/Eleven zu erwarten war.

Nine/Eleven ist inzwischen als Legitimationsressource, die nicht weniger fundamentalistisch angelegt war als die islamistische Wutschaum-Politik, ausgebrannt. Vor diesen überhitzten Affektbilder des WTC, die zu einem semiotisch sinnfälligen Gebetsteppich des politisch entschlossenen Westens verknüpft werden sollten, haben sich inzwischen wieder Diskurse geschoben, die bildstrategisch nicht mehr so leicht zu kontern sind wie in jenen Ruhm verheißenden Tagen, als die Politik groß werden durfte. Die endlosen Anschläge, die ethnisch-religiösen Dauerquerelen mit explosiver Todessehnsucht passen nicht in ein amerikanisches Filmskript, das schnelle Schnitte verlangt, vor allem aber ein Ende, das wie "Private Ryan" den zwischenzeitlich in blutigen Irrungen und Wirrungen verlorenen Sinn kompromisslos wiederherstellt. Dieses gleichermaßen für erfolgreiche Politik wie Blockbuster benötigte Ende fällt der Endlosschleife des Terrors zum Opfer. Das Böse ist immer und überall und daher, mit Hannah Arendt gesprochen: banal.

Nine/Eleven und die Folgen ergänzen unser mediales Wissen um eine vielleicht überraschende Erkenntnis. Niklas Luhmann hinterließ uns die Frage: Wie ist es möglich, Informationen über die Welt und über die Gesellschaft als Informationen über die Realität zu akzeptieren, wenn man weiß, wie sie produziert werden?

Wir wissen nun, dass wir mediale Informationen zusehends bzw. wegsehend immer weniger als Realität akzeptieren. Dass Menschen Wirklichkeit wahrnehmen müssen, um zu handeln, kann man auch dann bezweifeln, wenn man kein radikaler Konstruktivist ist. Fundamentalisten aller Länder vereinigen sich seit je in dieser fröhlichen Handlungslehre, dass die Wirklichkeit verschiedenste Auslegungen zulässt und eine Lebenszeit nicht ausreicht, auf das Ende dieser Diskurse zu warten. Und für die Daheimgebliebenen vor dem Fernsehen gilt der Trost: Die verschwundene, nur im Medium existierende Wirklichkeit taucht hinter unzähligen Bildern wieder auf.

Das vorgeblich selbstreferentielle Wissen, das von allen Mächten heiß umkämpft wird, stößt schließlich doch an die Mauern einer bildflüchtenden Wirklichkeit, etwa jenen, die in Guantanamo oder sonstigen Folterorten dieser Welt verborgen werden sollen. Dabei muss man nicht mal Bilder gegen Bilder richten, etwa die von Abu Ghraib gegen die von Nine/Eleven, um den Bildimperialismus der politischen Herrschaft dialektisch zu brechen. Im Fall der amerikanischen Vorwärts-Verteidigung reichten der irakische Katastrophen-Alltag und der grassierende Verdacht gegen die amerikanische Auslegung der Rechtstaatlichkeit, um die Weltbeglückung als politisch präpotent zu outen. Die Bilder dagegen werden irgendwann beliebig, was im Zeitalter ihrer künstlichen Virtualisierbarkeit und digitalen Freizügigkeit ohnehin zum neuen Wahrnehmungsstandard avanciert. Der Blick der Demokraten auf die Bilder verbraucht sich wie schließlich der ihnen geschuldete Glaube, dass sie noch irgendetwas bedeuten.

Wir stellen auf Luhmanns Medienerkenntnisparadox hin also fest, dass wir Bilder wie die von Nine/Eleven immer weniger brauchen, um darüber unser politisches Wissen oder gar unsere Realität zu konstruieren. Die neue alte Wirklichkeit unkontrollierter Aggressionen, ethnisch-religiösen Wahns und kapitalistischer Gier bündelt sich nicht mehr in bloßen Bildern, weil nicht alles politische Wissen auf sinnfällige Formate heruntergerechnet werden kann.

Die Verschwörungstheorie, die mit Nine/Eleven ihre schönsten Verdächtigungen feierte, ist im Übrigen eine noch nicht ganz gereifte Medienabschwörungstheorie, weil hier die Bilder noch interpretiert werden, aber immerhin tendenziell als unglaubwürdig gelten und wir jedenfalls keine Wirklichkeit darüber mehr beglaubigen. Dabei ist ihr flagranter Fehler der, sich selbst nicht als tückischsten Teil einer durch und durch perfiden Weltverschwörungstheorie zu begreifen und anschließend pflichtschuldigst paranoid zu entsorgen.


Politische Ausnüchterung

Wer Demokratie, Freiheit und auch ein bisschen Frieden verordnet, wird bis auf die Knochen der Gründerväter unglaubwürdig, wenn die Praxis dieser universalen Werte in der Stunde der Bewährung elendig versagt. Da hilft auch keine Terrorbeschwörung, weil man sich auf Terroristen nicht verlassen kann, anderenfalls wären sie nämlich keine.

Der 11. September war ein großes Versprechen des Terrors, auf das die Kreuzritter vergeblich vertraut haben. Osama Bin Laden oder jener Taliban-Gründer Mullah Mohammad Omar, dessen Name schon Geschichte ist, ohne dass wir seine Todesanzeige je gelesen hätten, haben Bush und seinen Kriegern keine neuen großformatigen Vorwände oder Signalbilder mit Rechtfertigungsglanz geliefert, den delirierenden Patriotismus weiter für das geeignete Mittel der Wirklichkeitserschließung zu halten. Die Taliban kämpfen gegenwärtig so entschlossen weiter, als habe sie die Botschaft ihres Untergangs nie erreicht. Und heute überschlagen sich die Medien mit kaum unterdrückter Dankbarkeit, wenn die Osama-Front mit einem dieser, nicht nur cineastisch betrachtet, schlechten Videos aufwartet, weil solidaritätsstiftendes Untergangspathos seit Nine/Eleven nicht mehr aufkommen will und das Illustrationsmaterial höchstens reicht, Billig-T-Shirts für den Terror-Nachwuchs zu drucken.

Diese Terroristen sind, bisher hatte Jochen Hörisch darin Recht, Kommunikationsverweigerer und das heißt unterhaltungsstrategisch betrachtet, mindestens ebenso Spielverderber, die inszenierungsbedürftiger Politik immer weniger Handhabe geben. Terror braucht keine Botschaften, er ist eine. Wie der weiland kurz vor der Seligsprechung stehende Che Guevara ist Osama Bin Laden vor allem ein bloßes Gesicht, während CIA-Direktor Michael Hayden uns dessen Botschaft einflüstert, wenn er gerade noch von "massenhaften Opfern, dramatischer Zerstörung und erheblichen wirtschaftlichen Auswirkungen" zu menetekeln weiß. Zum sechsten Jahrestag des 11. September wird Osama Bin Laden nun aber fast redselig und, was noch erstaunlicher ist, rückt vom üblichen Beschwörungsduktus merklich ab, um uns analytisch zu überraschen. Ist das eine Referenz an den aufgeklärten, aufklärungswilligen oder aufklärungsbedürftigen Westen?

In einer tour d'horizon kontrastiert er den verwerflichen, kriegslüsternen Westen mit dem friedliebenden toleranten Islam, ohne allerdings plausibel zu erläutern, wie nun die blutigen innerirakischen und binnenreligiösen Konflikte im Rahmen dieser Friedensmission entstehen können. Bin Laden hat aber als Medienprofi dazu gelernt. Inzwischen greift er die Selbstkritik des Westens – einschließlich des ausdrücklich genannten Noam Chomsky – auf, weil ihm wohl klar wurde, dass Demokraten, vor allem aber latente und zukünftige Mitstreiter, eher durch nagende Selbstzweifel zu gewinnen sind als durch die inzwischen blass gewordenen Angriffsparolen. Das ist für eine Heilslehre, die geschichtslos wahr ist, eine wundervolle Paradoxie, weil zwar weiterhin für Osama Bin Laden "ex oriente lux" gilt, aber die eigentliche Erleuchtung für den Westen doch nur aus seiner Geschichtskritik resultieren kann.

Diesmal bedient er sämtliche antiamerikanischen Ressentiments, angefangen vom Genozid an den Ureinwohnern über Hiroshima bis zum Holocaust, ohne sich allzu sehr um historische Details zum westlichen Totalversagen in Sachen "Humanität" zu kümmern. Vielleicht zeichnet sich hier ein Strategiewechsel ab, weil auch der Terror, der sein Formenvokabular nicht variiert, irgendwann aufmerksamkeitsökonomisch nicht mehr mit konvertierbarer Währung zahlt.

Lange darf Osama Bin Laden jedenfalls nicht mehr mit einem US-Präsidenten rechnen, der bereit ist, sich den Platzanweisungen im Schwarzweiß-Kino der Vergeltungslogik zu fügen. Die Bush-Regierung wurde allerdings nicht nur vom afghanischen, irakischen, sondern mindestens ebenso vom amerikanischen Alltag eingeholt. Wer über die Geburt der Katastrophe aus dem Geist des Terrorismus bramarbasiert und dann im konkreten Katastrophenmanagement in New Orleans schnell von realen und medialen Fluten weggespült wird, verspielt schließlich auch den Glauben des frömmsten Untertans. Zwei Drittel der US-Bürger haben den Appetit auf eine Politik verloren, die jede Bereitschaft zur Selbstkritik missen lässt, obwohl die im Irak angezettelte Katastrophe historisch ein beispielloses Fiasko ist. Das schmeckt wie jener Plastik-Truthahn, den Bush 2003 in Army-Kluft zum Thanksgiving-Fest in Bagdad den Soldaten überreichte. Sieht so lange lecker aus, bis man auf Polyethylen beißt.

US-Präsident Bush am 27. November 2003 zum Thanksgiving-Tag bei den Soldaten in Bagdad. Bild: Weißes Haus

Längst wird die Zeit nach Bush geplant, die zum wenigsten dessen martialische Schwermetall-Rhetorik rund um Ground Zero herum noch benötigt. In unserer selbstvergessenen Event-Logik sind das inzwischen antiquierte Bilder, die offizielle Memorierungskünste auch nicht wieder beleben. Das kurzatmige Fazit des auf Äonen angelegten [local] amerikanischen Internationalismus ist ernüchternd nicht nur für Idealisten, sondern auch Patrioten: Die Welt ist doch mehr als Wille und Vorstellung.

Komplexitätsreduktion wird reduktionistischer Politik selbst dann nicht gewährt, wenn man glaubt, alle Mittel dazu zu haben, vulgo: mehr oder weniger intelligente Waffensysteme, die von sich behaupten würden, jede noch so widerspenstige Wirklichkeit kurz und klein zu "kriegen". Nein, es funktioniert weiterhin nicht. Weder in Vietnam noch in Afghanistan und schon überhaupt nicht im Irak, der Abergläubigen längst wie Saddams posthume Rache erscheinen muss. Man wird irgendwann von allen diesen unbefriedeten und vielleicht unbefriedbaren Orten abziehen in dem sicheren Wissen, dass ein Sieg wie im Irak längst nicht ausreicht, eine vernichtende Niederlage zu vermeiden.

Selbst die viel gerühmten und hoch dotierten, alt- und neokonservativen "think-tanks" scheinen nichts anderes zu sein als eitle Blechkanister, die wenig Treibstoff für diese theoriefeindliche Wirklichkeit besitzen. Mit ihnen dankt der sich selbst raffiniert dünkende Neokonservatismus als nicht weiter erwähnenswertes Intermezzo ab. Seit Nine/Eleven besitzt diese von den Lehrstühlen aufs Schlachtfeld entlaufene Herrschaftslehre einen fast bedauernswerten Hang zur Selbstentlarvung, der ihrer machiavellistischen Attitüde völlig zuwiderläuft, souverän die doppelbödige Wahrheit zu beherrschen.

Politisches Lügen ist eine Kunst, die wohl doch raffiniertere Qualitäten voraussetzt, als sie sich dieser theoriemuffige Selbstbestätigungsdiskurs immer selbst attestiert hat. Zur Logik seiner Selbstdemontage passte es, dass der ehemalige stellvertretende Verteidigungsminister, Ex-Weltbankpräsident und Super-Neokon, Paul Wolfowitz, Anfang des Jahres, kurz vor seinem politischen Abgang die Selimiye-Moschee in Edirne mit zwei löchrigen Socken betrat und damit zur neokonservativen Version des Ritters von der traurigen Gestalt wird. "Wer Herr über die Finanzen der Welt ist, sollte zuerst auch Herr über die eigene Erscheinung sein," kommentierte die FAZ launisch dieses Nichtereignis, das zu einer weiteren Blamage der vormals so großspurig agierenden Jedi-Ritter aus Washington wurde, von denen viele nicht mehr die Schlussphase ihrer großen Politik erleben, die nun auf Normalnull heruntergefahren wird.


Die Heimkehr des Präsidenten

Man kann Ereignisse manipulieren, man kann Bilder und Texte so lange gegen den Strich bürsten, bis jede Wiedererkennbarkeit auf Hohn stößt, man kann lügen, auf- und abwiegeln und virtuelle Schattenreiche errichten. Aber die längst aus den Diskursen ausgetriebene Wirklichkeit kehrt erst durch die Hintertür zurück und bezieht schließlich doch wieder die "bel étage". Für geschichtshungrige Politiker, die ihr Wirken in Mount Rushmore einmeißeln wollen, ist das fatal: Bush erscheint wieder in ähnlicher Strahlkraft wie zu Beginn seiner Amtszeit. Als historischer Präsident kann er selbst amerikanischen Patrioten nach dem Debakel der neokonservativen Hauruck-Politik nicht mehr unter die Augen treten. Wäre Nine/Eleven als eine und nicht die Katastrophe behandelt worden, wäre es nicht als bellizistisches Drama der Weltrettung nachinszeniert worden, wären zahlreiche Folgekatastrophen nach menschlichem Ermessen ausgeblieben.

Große Politik gibt es also weiterhin vornehmlich auf der Leinwand, was unabdingbar voraussetzt, dass Demokratien zukünftig den Medienkonsum ihrer Politiker zur Chefsache machen sollten. Jetzt will Bush, der [local] überzeugte Pfadfinder, seine Truppen aus dem in mancherlei Hinsicht unwegsamen Gelände abziehen, nachdem sich die geopolitischen Fantasien als Fantasmen entlarvt haben. Selbst am Hindukusch, wo nun in eigenartiger Gefolgschaft die bundesrepublikanischen Werte mit höherem Einsatz verteidigt werden, hat sich das angeblich obsolete Wissen, dass man Afghanistan nicht erobern kann, wieder aktualisiert. Die Taliban sind Stehaufmännchen, weil, wer hätte das gedacht, Kriege keine Strukturmaßnahmen sind. Und Nachkriegsbehandlungen, die ohne schweres Gerät nicht vorwärts kommen, haben auch nicht das Geringste mit Entwicklungshilfe zu tun.

Die Lehre von Nine/Eleven wäre in einer selbstreflektierten Politik gewesen, die Welt sicherer zu machen, ohne sich zur Vergeltung provozieren zu lassen und ohne die heteronome Weltbeglückung per Demokratie-Schnellkurs für gangbar zu halten. Denn so spielt man Osama Bin Laden und den Seinen in die Hände, wenn dieser nun oberlehrerhaft behaupten darf, die Impotenz der Demokratie sei durch das Blut der Völker belegt. Das hätte Bush lässig kontern können, wenn er die Logik der immer fragilen Sicherheit in einer komplex gelagerten Welt nicht verkannt hätte.

Nine/Eleven hat als neokonservatives Kriegslegitimationsformat, soweit man Ursachen für plausibler als Geschichtsmetaphysik hält, ausgedient. Insofern sind die Akte der Bush-Regierung eine beglückende Geschichtserfahrung, nämlich der, dass die ungefilterte Theorie der gerechten Kriege, die (Welt)Verfassungsjuristen schon je mit spitzen Fingern anfassten, tatsächlich Theorieschrott ist. Nicht nur, weil jeder Sieger immer gerecht ist und daher dieses Kriegsformat wider seine erklärte Absicht keine Ex-ante-Kontrolle kennt. Die unkontrollierte Gerechtigkeit, ob nun von dieser oder jener Seite ins Feld geschickt, bleibt vor allem die vorzüglichste Garantin für das schnödeste Elend.

Politische Romantik war gestern, heute sollten wieder Holly- und Bollywood das Kompensationsgeschäft für die schnöde Wirklichkeit betreiben. Das ist zwar mitunter auch Terror, aber einer, den wir selbst al-Qaida nachsehen würden, wenn es nach Filmschluss beim "stunt" der Wirklichkeit bliebe.

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