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Fair Play im Netz

Holger Boche will Mobilfunk gerechter machen. Immer höhere Datenraten und leistungsfähigere Funkverbindungen helfen dabei
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So unterschiedlich kann Forscherglück sein: Als der Physiklehrer Philipp Reis im Jahr 1860 das Telefon erfand, war er gerade 26 Jahre alt. Das erste Telefon gab die Stimme nur verzerrt wieder, auch war die Mechanik anfällig für Erschütterungen. Die Industrie zeigte sich skeptisch, denn die elektrische Telegrafie bot bessere Aussichten. Reis erkrankte an Tuberkulose und starb 40-jährig in Friedrichsdorf, einer Kleinstadt im Taunus.

Der Berliner Nachrichtentechniker Holger Boche, Professor an der Technischen Universität Berlin und Leiter des Fraunhofer Heinrich-Hertz-Instituts (HHI) am Einsteinufer, steht mit 41 Jahren im Zenit seiner Forscherkarriere. Gleich drei Preise heimste er in kurzer Zeit ein, wobei der Leibniz-Preis der bekannteste ist. Er gilt als deutscher Nobelpreis und ist mit 2,5 Millionen Euro dotiert. Außerdem erhielt Holger Boche gemeinsam mit seinem Mitarbeiter Martin Schubert vom HHI im vergangenen Jahr auch den Philipp-Reis-Preis, den der Verband der Deutschen Elektroingenieure und die Deutsche Telekom zusammen vergeben. Im Februar kam dann die Meldung, die Internationale Gesellschaft für Signalverarbeitung habe dem Berliner Wissenschaftler einen Preis für die beste Veröffentlichung zuerkannt. Das Thema: Fairness in der Verteilung von Ressourcen für den Mobilfunk.

Boche kam vor zehn Jahren nach Berlin, die Professur an der TU erhielt er 2002. Der promovierte Nachrichtentechniker und Mathematiker hat sich ganz dem Mobilfunk verschrieben. Denn knapp 150 Jahre nach der Erfindung von Philipp Reis tragen rund drei Milliarden Menschen ein Handy in der Tasche. Dabei ist das moderne Handy immer weniger Telefon: Die Nutzer nehmen zunehmend mobile Multimedia-Dienste in Anspruch, surfen und chatten durch das Netz, laden sich Videospots aus dem Internet oder nutzen das Handy als Fernseher. „Sie erwarten immer höhere Datenraten, kürzere Antwortzeiten und eine jederzeit gute Verbindung“, nennt Boche die wachsenden Ansprüche.

Derzeit gilt der UMTS-Standard als Krone des Mobilfunks. Doch schon kündigen sich neue Systeme an. Im Jahr 2015 werden weltweit rund fünf Milliarden Menschen miteinander kommunizieren. Am drahtlosen Datenaustausch werden deutlich mehr als zehn Milliarden Sensoren beteiligt sein. „Da tauchen neben den technischen Problemen zahlreiche Schwierigkeiten auf, die soziale Auswirkungen haben“, erläutert Boche. Gemeinsam mit Martin Schubert hat er ein mathematisches Modell aufgestellt, um Datenraten und Verbindungen auch in einem großen Nutzerkreis fair und zu geringen Kosten zu verteilen. Dahinter verbirgt sich ein komplexes Optimierungsproblem. Natürlich könnte man viel mehr Antennen aufstellen. Das triebe jedoch die Kosten in die Höhe. „In Berlin, München oder Frankfurt kann man eine starke Infrastruktur effizient aufbauen, denn viele Kunden befinden sich in einem relativ kleinen Gebiet“, sagt Boche. „Auf dem Land dagegen wohnen wenige Kunden viele Kilometer auseinander.“ Deshalb sind Flatrates in der Uckermark teurer als in Berlin. Fachleute sprechen bereits von einer digitalen Spaltung Deutschlands. Abgelegene Regionen geraten auch elektronisch ins Hintertreffen.

Um die Ressourcen besser zu nutzen, schlagen Boche und Schubert Systeme mit vielen Antennen vor. Eine intelligente Elektronik zerlegt die Datenströme vor dem Senden in handliche Pakete und setzt sie nach dem Empfang wieder zusammen. Mit solchen Systemen hat Boche Erfahrung, hält er doch mit seinem Team einen Weltrekord: Sie funkten Handysignale mit einigen Gigabit pro Sekunde über den Äther.

In den frühen Tagen des Telefons machte Philipp Reis seine Erfindung allein im stillen Kämmerlein, als er ein physikalisches Modell des menschlichen Ohres bauen wollte. Heute ist das Telefon in aller Munde, und moderne Forscher wie Holger Boche sehen sich als Mitstreiter und Organisator eines starken Teams. Seine ersten Doktoranden haben ihre Abschlüsse in der Tasche. „Einer ist nach Stanford gegangen, ein anderer ans Technion nach Haifa in Israel“, erzählt er. „Mein erster Doktorand hat gerade einen Lehrstuhl in Dresden angenommen.“

Als Doktorvater will er ihnen das Gefühl vermitteln, dass Wissenschaft mehr sei als ein Broterwerb. „Der Mobilfunk hat unsere Gesellschaft seit den 1990er Jahren schleichend umgekrempelt. Es darf nicht passieren, dass sich künftig nur begüterte Kunden den Zugang zu den Informationsnetzen leisten können.“ Sein Modell zur fairen Verteilung von Netzressourcen bedeutet einen ersten Schritt auf diesem Weg.

Boches Forschungen bringen einen neuen Aspekt in das Geschäft mit dem Mobilfunk, dessen Unternehmen an der Wall Street oder an der Börse in Tokio notiert sind. „Die Börse gibt keine Antworten auf die Frage: Wie entwickelt sich unsere Gesellschaft weiter?“, warnt Boche. „Diese Frage müssen wir Forscher beantworten.“

(Erschienen im gedruckten Tagesspiegel vom 26.04.2008)
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