Alban Bergs "Lulu" ist ein Fragment geblieben, Friedrich Cerha hat den fehlenden dritten Akt ergänzt. Wem es um die dringlich zu erzählende Geschichte eines exemplarischen Verbrennens von menschlicher Substanz zu tun ist, der kann auf die komplettierte Fassung zurückgreifen. Schon wegen der Konsequenz der (Selbst-)Vernichtung. Da redet der Lustmörder Jack the Ripper am Ende von einem Stück Arbeit und mokiert sich darüber, dass die Leute nicht einmal ein Handtuch da haben.
Dirigent Gabriel Feltz und Regisseur Calixto Bieito lassen in Basel die erste Szene des dritten Aktes, die ein Pariser Gesellschaftsbild einfängt, weg und beschränken sich auf die zweite grausam intime Szene. Sie wird zu einem Albtraum Lulus vor und in einem Müllcontainer. Hier erscheinen ihr die Freier, die sie als Straßenhure noch mit sich locken kann, als genau jene Männer, an deren Seite sie durch ihr kurzes Leben geflattert war, die sich an ihr verbrannt und dabei ihr Leben verloren hatten.
Sie sehen aus wie der alte Medizinalrat, wie der smarte junge Maler. Der Mörder schließlich ist hier Dr. Schön, mit dem sie wohl die intensivste Obsession verbunden hatte. Er sticht sie brutal ab. An ihn verliert sie am Ende im makabersten Wortsinn ihr Herz. Und ihr richtiges Leben in einer falschen Welt.
Da ist ihr schon längst das Gesicht verwüstet. Da ist sie unter dem zerschlissenen Pelzmantel in jeder Hinsicht nackt. So wie im Prolog unter einer Decke, als die Verängstigte dem Tierbändiger (mit brutaler Zuhälter-Attitüde: Aurea Martson) von der Polizei wie ein entlaufenes bestes Pferdchen wieder zugeführt wird. Der lässt sie dann auf die Männerwelt los. Oder besser auf deren Frauenbild.
Anfangs hat sich die meist mit kaum mehr als einem Nichts (Kostüme: Ingo Krügler) bekleidete Lulu dabei durchaus selbst im Blick: Als kindlich Ausgelassene, als scheinbar gedankenlos Verführende, als erotischer Wirbelwind. Da wird die nackte Haut zur Waffe und zur Uniform im Überlebenskampf.
Bei Bieito und seinem Ausstatter Alfons Flores sieht alles nach einer Hochglanz-Gegenwart aus, mit riesigen, professionellen Posenfotos der Verführung von Lulu. In der kühl gestylten, offenen Bühnenmanege kommuniziert man längst mit Handys, nur der alte Schigolch, den Allan Evans wie einen Penner über die Bühne schlurfen lässt, stört hier. Ein paar Möbelstücke stehen herum, umgebaut wird auf offener Szene, und auch der Club, in dem sich die Tänzerin Lulu im hoch oben schwebenden Käfig lasziv räkelt, spielt mit einer längst kommerzialisierten und banalisierten Verruchtheit von heute. Die historische Dimension der Geschichte scheint nur auf, als die Gräfin Geschwitz mit ihrem zu späten Entschluss aufwartet, von nun an für die Frauenrechte zu kämpfen.
Calixto Bieito, der vor zwei Jahren in Hannover Bergs "Wozzeck" in die Eingeweide einer globalisierungstraktierten Welt verlegt hatte, ist mit seiner "Lulu" jetzt mehr auf das aus, was sich an brodelnder Verunsicherung und Gewaltpotential im Verhältnis der Geschlechter erhalten hat und untergründig obsessiv weiter wirkt. Dabei findet er natürlich auch einzelne schrille, deutliche Bilder.
Ohne Blut geht's nun mal nicht ab bei so vielen Toten. Aber die Zeiten, in denen jede Bieito-Inszenierung mit einer neuen Drehung an der Gewaltschraube Furore machte, sind vorbei. Was da einst in Hannover oder Berlin türenknallend quittiert wurde, machte ihn zwar bekannt, überdeckte aber vor allem die Substanz seiner Art der Revitalisierung eines realistischen Musiktheaters durch das Signum des Skandalregisseurs.
Mittlerweile ist er souverän bei sich und setzt in seinen Bildern ebenso stark auf seine Darsteller wie die Musik. Damit vermag er dann auch die Grenzen der Stimmkraft von Marisol Montalvos Lulu, die sich mit bewundernswertem Mut zur Selbstentblößung darstellerisch verausgabt, auszugleichen und die eloquente Überzeugungskraft etwa von Tana Ariana Baumgartners Gräfin Geschwitz, das markante Auftrumpfen Claudio Otellis als Dr. Schön oder die Wendigkeit von Rolf Romeis Maler ins rechte Licht zu rücken.
Dieses Ensemble (dem auch der stark erkältete Erin Caves als Alwa zur Überzeugungskraft verhalf) wurde von Gabriel Feltz und dem Sinfonieorchester sensibel umspielt und getragen. Der 38-Jährige, für zwei Spielzeiten als Principal Guest Conducter an Basel gebundene Dirigent präsentierte diesen Klassiker der Moderne zwischen samtweicher und düster aufgesplitterter Verführungskraft in seiner allenfalls noch maßvoll verstörenden Modernität, die Berg und ergänzend Cerha hier aufbieten.
Im Instrumentalen der Zwischenspiele auch schon mal betörend schwelgend, wurde "Lulu" in der Realisierung durch Feltz und Bieito so zu einem packenden Stück Musiktheater und erhielt die einhellige Zustimmung des Premierenpublikums.
Theater Basel: 21., 26. Februar. www.theater-basel.ch