Handschriftenforschung im Internet


© Klaus Graf 1997-1998



Österreich liegt in Führung: Wer sich für abendländische, vornehmlich mittelalterliche Handschriften interessiert, ist bei der Suche nach deutschsprachigen Angeboten gut beraten, sich zunächst nach Wien zu wenden. Die Handschriftenkommission an der Österreichischen Akademie der Wissenschaften hat überaus eindrucksvolle Inhalte vorzuweisen. Es liegen nicht nur Kurzbeschreibungen von Streubeständen in Wien und Niederösterreich vor, sondern es wurde auch eine umfangreiche Literaturdokumentation zu Handschriften in österreichischen Bibliotheken realisiert. Hier kann man zu einer bestimmten Handschrift neuere Literatur finden, beispielsweise zum Codex Schottenstift Wien 234 die (beste) Beschreibung durch Siegfried Ringler 1980, aber auch Erwähnungen in Verfasserlexikonartikeln desselben Autors. Von der bei der Signatur abgekürzt zitierten Literatur führt ein Link zum Abkürzungsverzeichnis, das in einem anderen Bildschirmbereich (frame) dargestellt wird. Obwohl eine Suchfunktion über die Inhalte noch fehlt, ist die Bibliographie, die teilweise auch sehr kleine Bibliotheken erfaßt, ein vorbildliches Arbeitsinstrument, von dem man nur hoffen kann, daß es auch andernorts realisiert wird! Neuerdings gibt es auch die TABULAE-Datenbank mit 50.000 Datensätzen, das überarbeitete Register der acht Katalogbände zu den Handschriften Cod. 1-15.000 der Österreichischen Nationalbibliothek Wien.

Außerdem findet man auf der Homepage der Kommission die im deutschsprachigen Bereich wohl beste kleine Linksammlung zur Handschriftenforschung vor, darunter natürlich auch der unvermeidliche Link zur entsprechenden Rubrik von Labyrinth.

Die Universitätsbibliothek Graz hat nicht nur damit begonnen, ihre gesamten Handschriftenkataloge über das Internet zugänglich zu machen, sondern ist bereits ein gutes Stück vorangekommen. Hier ist eine Volltextsuche vorhanden, über die man Informationen in den mehr als 1600 Katalogisaten finden kann.


Handschriften des Mittelalters


Diese großartige Datenbank am Deutschen Bibliotheks-Institut in Berlin, eine Dienstleistung von DBI-Link und der Handschriftenabteilung der Staatsbibliothek zu Berlin, ist seit Februar 1998 direkt über das Internet zugänglich, nicht mehr nur über Paßwort. (Früher mußte mit der Recherchesprache GRIPS recherchiert werden. Näheres dazu in der vorhergehenden Fassung dieser Seite).

Nach dem Login wählt man die Datenbank "Handschriften des Mittelalters". Man findet sich besser zurecht als mit der Vorgängerversion. Es gibt auf einer eigenen Seite Suchtips auf englisch (z.B. Umlaute auflösen!, Rechtstrunkierung mit ?).

Ich gebe einige einfache Beispiele:

Wer in das Eingabefeld

schwaben

eingibt, erhält alle Einträge, in deren Text "Schwaben" vorkommt (am 31.8.1998 waren es 231).

Ausgabebeispiel:

IN: Die vier fursten reichs: herczog von Schwaben
BI: München, SB, Cgm, Kat. 5.5
CO: Cgm 696
FO: Nr. 4d
QU: SCHNEIDER, Karin: Die deutschen Handschriften der Bayerischen Staatsbibliothek Muenchen : Cgm 691-867. - Editio altera. - Wiesbaden : Harrassowitz, 1984. - (Catalogus codicum manu scriptorum Bibliothecae Monacensis ; T. 5, Ps. 5)

[Es handelt sich, wie jedem Kundigen klar sein dürfte, um einen Quaternionentext.]
Ausgegeben wurden hier: Incipit, Bibliothek, Codex und laufende Nummer innerhalb der gedruckten Beschreibung (sonst meist eine Blattangabe) sowie die Quelle, der Handschriftenkatalog.

Die gleiche Suche liefert übrigens auch einen willkommenen Beleg zum Thema regionale Identität, nämlich daß der heilige Ulrich als Schwabenheiliger galt: In einer Trierer Handschrift (um 1490) nennt ihn ein Gebet schinbares gestiren der Schwaben.

Die "Handschriften des Mittelalters" sind ein Nachweis über die Inhalte von Handschriften vornehmlich deutscher Bibliotheken vom frühen Mittelalter bis zur frühen Neuzeit. Die Hauptquelle der Daten bilden die Register der von der DFG geförderten gedruckten Kataloge mittelalterlichen Handschriften (ausgehend vom "Gesamtindex zu den seit 1945 erschienenen Handschriftenkatalogen", siehe Besprechung der Mikroficheausgabe in den IFB und des vergleichbaren Unternehmens in Frankreich ebenda ), ergänzt durch Bestände des Handschriftenarchivs der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften (zu dieser Sammlung von Handschriftenbeschreibungen liegt im Internet eine knappe Erläuterung auf der Seite der DTM vor).

Die Beschreibungen des Handschriftenarchivs enthalten oft wertvolle Informationen über nicht von gedruckten Katalogen erschlossene Bibliotheken. So gibt die Eingabe

wolfegg in Verbindung mit bi:

einen Eindruck vom Inhalt des Gebetbuchs des "Bauernjörg" in der (kaum zugänglichen) Waldburgischen Bibliothek auf Schloß Wolfegg in Oberschwaben.

In der Datenbank kann nach allen Inhalten gesucht werden, die in Form von Registereinträgen (Kreuzregister: Namen, Sachen, Provenienzen usw.; Incipit-Register) vorliegen. Man findet also beispielsweise mit

breitenau

Angaben über Handschriften, die mit dem hessischen Kloster Breitenau in Verbindung stehen (Provenienz Breitenau, aber auch eine Schrift des Abts Heinrich).

Einem Freund konnte die Nützlichkeit der Datenbank dadurch schlagend bewiesen werden, daß über die Eingabe

blasphem?

die Überlieferung eines Kapistran-Textes über Blasphemie, der dieses Stichwort auch im Incipit enthielt, in einer Nürnberger Bibliothek entdeckt werden kann. Zuvor hatte er nur eine Handschrift in einer italienischen Ordensbibliothek, die auf eine Anfrage nicht reagiert hatte, gekannt.

Es sind auch komplexere Recherchen möglich, etwa die Verknüpfung eines gefundenen Incipit mit den dazugehörigen Kreuzregistereinträgen: Eingabe von cgm 699 in Verbindung mit co: und im zweiten Term von 4 in Verbindung mit fo: oder alternativ von

co: cgm 699 and fo: 4 bei [Your combination]

liefert sowohl das Incipit als auch die Identifizierung ("Gmünder Chronik") des 4. Textes in der Beschreibung von cgm 699.

Fazit: Die Datenbank ist aufgrund ihres großen Umfangs und (relativ) einfacher Handhabung nicht nur etwas für Handschriftenfachleute, sondern kann sogar Einsteigern empfohlen werden, die noch kaum mit Handschriftenkatalogen gearbeitet haben.


Eine Zweitüberlieferung des Rudolf von Schlettstadt entdeckt



Nicht nur am Schreibtisch, etwa beim Studium gedruckter Handschriftenkataloge, lassen sich von der Forschung übersehene Überlieferungszeugen auffinden - dank der Handschriftendatenbank stellte sich ein solches Erfolgserlebnis nun auch via Internet ein. Durch die Einträge der Datenbank zur im Handschriftenarchiv vorhandenen Beschreibung des Codex 64 in der Hofbibliothek Sigmaringen konnte nämlich eine kleine Entdeckung gemacht werden. Wer das Kommando

bi: sigmaringen and co: 64 bei [Your combination]

eingibt, erhält 33 Einträge (leicht bearbeitete Wiedergabe) zu der im Eigentum des Hauses Hohenzollern stehenden Handschrift, die im 1872 erschienenen Katalog von F. A. Lehner nur sehr kursorisch charakterisiert worden war: Lateinische Geschichten und Anekdoten verschiedenen Inhalts. Nach Lehner handelt es sich um eine 218 Bll. umfassende Papierhandschrift des 16. Jahrhunderts. Da sie nicht illustriert ist, war sie von den nach 1945 vorgenommenen Verkäufen aus der Hofbibliothek nicht betroffen.

Der Germanist Erich Kleinschmidt hatte in einem umfangreichen Kollektaneenband des bekannten Historikers Wilhelm Werner von Zimmern aus der Mitte des 16. Jahrhunderts eine höchst bemerkenswerte lateinische Exemplasammlung entdeckt, die er dem Prior Rudolf des Dominikanerklosters Schlettstadt zuschrieb. Er publizierte den Text 1974 unter dem Titel "Historiae memorabiles". Es handelt sich um frühe Belege für den Teufels- und Dämonenglauben, die durch die Aufzeichnung von Liedern (mit Melodienotation), die angeblich von Geistern gesungen wurden, sogar einzigartigen Charakter haben (so Kleinschmidt zusammenfassend im neuen Verfasserlexikon Bd. 8, Sp. 370). Kurz: "eine kulturgeschichtliche Quelle ersten Ranges" (Johannes Grabmayer, Rudolf von Schlettstadt und das aschkenasische Judentum um 1300, in: Aschkenas 4, 1994, S. 301-336, hier S. 334).

Heute befindet sich die ehemals Donaueschinger Handschrift 704, der Kleinschmidt den Text entnahm, in der Obhut der Württembergischen Landesbibliothek Stuttgart und ist von Felix Heinzer im 1993 erschienenen Katalog "Unberechenbare Zinsen" als Nr. 44 kurz beschrieben worden.

Ein Vergleich der Ausgabe Kleinschmidts mit den Datenbankeinträgen erweist den Sigmaringer Cod. 64 eindeutig als bislang unbekannte zweite Überlieferung der Exemplasammlung des Rudolf von Schlettstadt. Was es mit dieser "Entdeckung am Bildschirm" auf sich hat, wird hoffentlich bald von anderer Seite geklärt werden. Dies betrifft natürlich vor allem die nur durch Einsichtnahme in die Handschrift zu beantwortende spannende Frage, ob die Sigmaringer Handschrift bloß eine Abschrift der Zimmern-Kopie ist oder ob ihr eigener textkritischer Wert zukommt.

Nachtrag Ende November 1997: Inzwischen hat Felix Heinzer (Stuttgart) die Handschrift eingesehen und in einen in Wolfenbüttel gehaltenen Vortrag den nun folgenden Kurzbericht eingebaut. Aus ihm (mitgeteilt per e-mail vom 22.11.1997) geht hervor, daß es sich bei dem Handschriftenfund doch um eine geradezu sensationelle Entdeckung handelt:

Erich Kleinschmidt konnte keine weiteren Textzeugen dieser Sammlung außerhalb von Cod. Don. 704 (im folgenden D) nachweisen (op. cit. S. 6). Diese Situation hat sich nun nachhaltig verändert dank dem Spürsinn von Dr. Klaus Graf (Koblenz und Freiburg i. Br.). Dieser war bei Recherchen im Gesamtindex mittelalterlicher Handschriftenkataloge der Bundesrepublik Deutschland auf einige Hinweise gestoßen, die den Verdacht nahelegten, die bisher praktisch unbeachtete Hs. 64 der Fürstlich Hohenzollerischen Hofbibliothek in Sigmaringen (im folgenden S) könnte ebenfalls Material aus der Sammlung des Schlettstädter Dominikanerpriors enthalten. Bei der Autopsie, die ich Klaus Grafs freundlichem Hinweis folgend unternahm, zeigte sich rasch, daß Grafs Verdacht mehr als nur begründet war: Der inhaltlich homogene Sammelband enthält Geschichten, deren Thematik man am besten mit dem Stichwort des Unheimlichen und Skurrilen, oft Schockierenden umschreiben könnte und deren Personal sich fast durchweg aus der Welt der Dämonen und Geister, Hexen und Zauberer, Räuber und Dieben und sonstigen, fürchterlichsten Strafen unterworfenen Frevlern rekrutiert, und die sich natürlich auch in dem Arsenal der in solchem Kontext offenbar unvermeidlichen antisemitischen Schauergeschichten bedient. Der Codex - übrigens ein weiteres, bisher völlig unbekanntes Autograph Wilhelm Werners von Zimmern! - enthält in der Tat praktisch sämtliche der in Don. 704 überlieferten Texte, die mit Rudolf von Schlettstadt in Verbindung gebracht worden sind (S 178r-191r = Kleinschmidt, Nr. 1, 4, 2, 3, 5-7, 9-11, 16, 12-15 [D 198r-206r]; S 63r- 86r = Kleinschmidt, Nr. 17, 23, 18-22, 24-32, 34, 35-45, 47-52, 54, 56, 53; S 31v = Kleinschmidt, Nr. 46, und darüber hinaus eine weitere Anzahl von Texten (3r-8r und 108r-158v), die höchstwahrscheinlich ebenfalls Rudolf von Schlettstadt zugeschrieben werden können. S erweitert also, wenn nicht alles täuscht, die Überlieferungslage der "Historiae memorabiles" in ganz erheblichem Maße. Eine detailliertere Untersuchung der Handschrift, deren jüngstes datiertes Teilstück ins Jahr 1565 zu datieren ist, kann im Rahmen dieser Arbeit allerdings noch nicht geleistet werden.

Nachtrag Ende August 1998: Stephan Georges (Freiburg) hat in seiner Hausarbeit "Der Sigmaringer Codex 64: Eine Zweitüberlieferung Rudolfs von Schlettstadt. Erste Untersuchungsergebnisse" neue Erkenntnisse gewonnen und im Anhang 12 ungedruckte Geschichten ediert. Wichtigstes Ergebnis: Die Verfasserzuschreibung an Rudolf von Schlettstadt ist nicht haltbar. Georges wird das Thema als Magisterarbeit weiterverfolgen.

Jedenfalls sollte dieser kleine Fundbericht die Berlin-Brandenburgische Akademie ermuntern, zügig mit der weiteren Erschließung der Schätze des Handschriftenarchivs fortzufahren.

Aktualisiert: 1.9.1998

[ Stadt Adel Region ]

seit 30.9.1998
Besucherstatistik