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Schach - Allerlei I

von Gerd Borris

In den fünfziger Jahren wurde das alte, auf sympathische Weise schäbige "Cafe am Steinplatz" hauptsächlich von Studenten der Technischen Universität und der Hochschule für bildende Künste besucht.
Unter der Protektion des anerkannten Kunsthistorikers und Publizisten Prof. Will Grohmann hatte die abstrakte Kunst sich durchgesetzt - zum Leidwesen "alter Meister" der modernen Malerei wie Karl Hofer und Karl Schmidt-Rottluff, die sich an den Rand gedrängt und mißachtet fühlten. Wer noch gegenständliche Motive malte oder formte, galt in gewissen kunstakademischen und kulturell bestimmenden Kreisen als rückständig - im Zweifel als ein bißchen doof.
Manche der angehenden freien Künstler waren "Minimalisten", soweit es ihre Bilder betraf. Denn sie gingen - als Verehrer des großen russischen Konstruktivisten Kasimir Malewitsch (weißes Quadrat auf weißem Grund) - mit jedem Grämmchen Farbe und Pinselstrich äußerst sparsam um. Auf ihren Jeans und Latzhosen zeigten sie dagegen verschwenderischste Farbexzesse: Sie standen oder saßen lässig vor der Staffelei, rauchten schlaffe selbstgedrehte Zigaretten, beäugten gedankenvoll das entstehende Werk - und streiften die farbgesättigten Pinsel ungehemmt an den Hosen ab -.
Eines Nachmittags beobachtete ich im Cafe am Steinplatz eine Szene, die vielleicht Anspruch erheben darf, für Schachspieler exemplarisch zu sein.
An einem Tisch saß da ein Mann allein. Er war so Mitte Zwanzig und las in einem Buch. Vor ihm standen Schachfiguren, von denen er ab und zu einige bewegte.
Ich hätte mich nie erdreistet, einen solchen Profi - erkennbar am dicken Band Schachtheorie - zu stören, verfolgte jedoch gern, wie er Varianten von Eröffnungen studierte.
Da kam ein Gast, etwas gleichen Alters, an seinen Tisch. Er blieb stehen und betrachtete das Schachspiel. Der erste warf ihm einen kurzen Blick zu, stellte fest, daß es sich nicht um einen Bekannten handelte und las weiter. Als er wieder zwei, drei Züge ausführte, kommentierte der Zuschauer dies, und sie begannen ein Gespräch, von dem ich akustisch alles, inhaltlich aber gar nichts verstand.
Am Ende des Fachsimpelns fragte der geduldig stehende Schachfreund:
"Möchten Sie nicht eine Partie spielen?"
"Leider nein", antwortete der andere und tippte mit dem Zeigefinger auf seine Armbanduhr, "ich muß bald gehen - eigentlich sollte ich längst weg sein."
Die halbherzige Ablehnung ermutigte den Bewerber: "Wir könnten ja - nur kurz - eine lockere, schnell..."
Der Herausgeforderte zögerte. Er schien innerlich manches abzuwägen und auszufechten. Schließlich schob er das dicke Buch in eine abgewetzte lederne Aktentasche, rückte alle Figuren millimetergenau in die Mitte ihrer Stammfelder, und er sagte: "Na gut - eine schnelle..."
Der Sieger des Vorgeplänkels zog geschwind einen Stuhl ran. Er legte seine Jacke ab und setzte sich. Der Gegner loste die Farben aus; dabei wählte der Herausforderer die Faust, in der eine schwarze Figur steckte. Sie begannen ihr Spiel, was mich bewog, meine Kunstpause zu verlängern.
Die ersten drei Züge erfolgten locker aus dem Handgelenk. Beim vierten überlegte Weiß - auch Schwarz beugte seinen Kopf bereitwillig über die Stellung.
Nach dem zwölften Zug hatten sie zwei Bauern getauscht und die Leichtfiguren entwickelt. Eine gute Stunde war vergangen - auf dem Brett bisher wenig passiert.
Beim einundzwanzigsten Zug beackerten sie hartnäckig ein ausgeglichenes Mittelspiel - und saßen bereits zwei Stunden einander gegenüber. Weiß nahm den kleinen Schach-Marathon widerspruchslos hin, als sei von einer "schnellen" nie die Rede gewesen. Ich beabsichtigte nicht, bis zum Abend zu bleiben. Also würde ich gehen, ohne die Entscheidung des zähen Ringens miterlebt zu haben.
Ich stand auf - und blieb weiter Minute für Minute (wie Besucher, die in ihre Mäntel geschlüpft sind - vor der Haustür jedoch ein munteres Gespräch mit den ermüdeten Gastgebern neu beginnen, bei dem dem allerletzten Sätzchen unweigerlich ein nächstes folgt - bis der vom Bundespräsidenten, Roman Herzog, geforderte Ruck die losen Geister bändigt und jedes Menschenwesen zufrieden seines nächtlichen Weges zieht).
Als nächstes schlug Schwarz einen weißen Springer - mir stockte der Atem -, und Weiß beseitigte postwendend ein schwarzes Rössel - ich atmete wieder.
Die schachliche Begegnung dauerte schon zweieinhalb Stunden. Ich wollte rüber zur Hochschule und ins Atelier. Dort wartete die unfertige Komposition ZABA X. Sie verband suprematistische rote Quadrate auf hellem Grund mit dynamisch schwebenden dunklen Diagonalen.
Avantgardisten der "goldenen Zwanziger" hatten als Vorbilder gedient. Zum Beispiel der Russe Wassily Kandinsky, "Von Punkt und Linie zur Fläche", der Holländer Piet Mondrian, Mitbegründer der De Stijl-Bewegung und der ungarische Konstruktivist Laszlo Moholy-Nagy.
Oder - wenn zum Malen keine Zeit mehr blieb - konnte ich wenigstens meine Palette reinigen, bevor die Farben antrockneten.
Ehe ich die beiden "Schachzieher" aus den Augen verlor, drehte ich mich noch einmal nach ihnen um: Sie saßen mit fiebrigen Gesichtern vornübergebeugt. Ihre Getränke, die sie bestellt hatten, um den Wirt zu versöhnen (der an solchen Gästen jämmerlich genug verdiente), standen unberührt. Allem, was sie umgab, waren sie entrückt.
Sie vergaßen: die Birnenernte in Omas Kleingarten, eilige Fotokopien, einen wichtigen Anruf, Vorlesungen, dringende Lebensmitteleinkäufe, den Termin beim Zahnarzt, das Töchterchen im Kinderladen, die Chorprobe, einen versprochenen Krankenhausbesuch, den reparierten Motorroller, das Jazzkonzert usw. usw..
Ich ging. -
Aber bis zum heutigen Tag quält mich, wenn ich daran denke, die Frage, wie jenes Spiel endete. Vermutlich remis. Denn den Angsthasen lag - nach meiner Einschätzung - in erster Linie daran, nicht zu verlieren (und ich hätte damals wegen dieser Remisschieberei den sonnigen Nachmittag vertrödelt).
Möglicherweise verließ ich das Cafe ein paar Minuten zu früh. Weil - gleich nachdem ich gegangen war - doch einer die Partie sensationell für sich entscheiden konnte! Entweder der komische Vogel mit der altmodischen Aktentasche und dem Buch - oder der aufdringliche Überredungskünstler.
Wer von beiden, das werde ich nie erfahren...
Wie bitte? Es gibt Wichtigeres im Leben? Aber ja - ohne Zweifel. Viel Wichtigeres - ganz unbestritten. Ich habe durchaus auch noch andere Sorgen...!
Und trotzdem - wenn ich gerade daran denke - wüßte ich gern: ob - wer - und wie.
Copyright © 1999 Gerd Borris

 

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