September 2005
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Verwende deine Jugend

"Seele brennt" dokumentiert den Weg der Einstürzenden Neubauten zum Kulturgut
Ronald Galenza




Dieser Film beginnt mit einem gequälten Schrei, als ob ein einsames Tier stirbt, aber es brennt nur die Seele von Blixa Bargeld. "Seele brennt" heißt denn auch die Dokumentation über die Berliner Band Einstürzende Neubauten von Birgit Herdlitschke und Christian Beetz. Die Neubauten schafften es aus Bunkern ins Feuilleton: Verwende deine Jugend. Es waren wilde Zeiten damals, 1980 in Berlin-West: Zwischen Mauer und Abbruchhäusern bricht eine neuartige Kapelle mit dem Ziel auf, alle musikalischen Strukturen zu zerstören. "Seele brennt" verfolgt die Entwicklung der Band chronologisch, anhand von exklusiven Interviews und unveröffentlichtem Material: Die ersten Aufnahmen im stählernen Innenraum einer Autobahnbrücke sind hier zu sehen.

"Höre mit Schmerzen" war das Arbeitsprinzip dieser bleichen, ausgezehrten Burschen. Über den Blixa Bargeld jener Zeit sagt der Australier Nick Cave: "Ich habe noch nie jemanden gesehen, der so zerstört und krank wirkte." Die Neubauten gründeten sich im Zuge der Punk-Bewegung und zählten anfangs zu den genialen Dilettanten. Sie waren verwirrte, hospitalistische Punk-Kinder; zerschunden und morbid labten sie sich an ihrem fahlen apokalyptischen Sound. Sie konnten kaum ein Instrument spielen, wüteten mit Presslufthämmern, Ölfässern, Schneidbrennern, Motorsägen und einer Waschmaschine! Alle negativen Lebensgeräusche wollten sie vereinen, gemäß ihrem Konzept "zerstören, um aufzubauen", inklusive Drogenexzesse. Einst galten die Einstürzenden Neubauten als aggressiv, wild und gefährlich - sie schenkten der geteilten Stadt Berlin einen Mythos für die 80er Jahre. Zu Bildern von Hausbesetzungen und Häuserstürmungen kreischt Bargelds hysterische Stimme "Es ist Krieg in den Städten". Man sieht beeindruckende Aufnahmen von einer Performance, wo die Jungs auf einer Straßenkreuzung mit schwerem Gerät scheppernde Klangforschung betreiben.




Der Film beschreibt kundig die Arbeitsweise der Band; Interviews mit den Musikern und Wegbegleitern wechseln mit Live-Aufnahmen aus verschiedenen Phasen. Glänzende Farbaufnahmen unterbrechen wacklige, körnige Schwarz-Weiß-Fetzen aus einer lichtlosen Zeit. 1983 unternahm die Krach-Kapelle ihre erste US-Tour. Nicht mal ihre kryptischen Texte konnten verhindern, dass die Neubauten Mitte der 80er im Ausland als spannendste deutsche Band galten. Lange vor Rammstein hatten die Neubauten mit offenem Feuer auf der Bühne hantiert. Dieser Film zeigt auch das 1985 entstandene erste Video der Gruppe: Der japanische Regisseur Sogo Ishi verbindet in "Z.N.S." den avantgardistischen deutschen Lärm mit experimentellem japanischen Voodoo-Tanz.

Spätestens seit 1985 jedoch, als Depeche Mode sie für "People are People" sampelten, waren die Neubauten berechenbar geworden: Sie poltern auf der documenta und der XII. Biennale 1982 in Paris herum. Feuilleton und Boulevardpresse entdecken die Band; das Goethe-Institut schickt sie 1986 zur Expo nach Vancouver. Die Einstürzenden Neubauten werden deutsches Kulturgut. Bargeld kutscht in einem Rolls Royce durchs Bild; er gilt inzwischen als zickiger Dandy. Aus anfänglicher, gegenseitiger Bewunderung wurde eine angespannte Geschäftsbeziehung.

Nachts tanzt die Wahrheit mit der Lüge. Im Herbst '89, genau 42 Tage nach dem großen Loch in der Mauer, standen die Neubauten auf einer Bühne in Berlin-Ost und hatten den ostdeutschen Dramaturg Heiner Müller mitgebracht. Den kannten sie schon länger, hatten sie doch für das Radioprogramm "Stimme der DDR" zwei seiner Texte als Hörspiele aufgenommen. Im Kultursaal des VEB Elektrokohle, wo eben noch die trostlose Brigade-Polonaise zum Jahrestag des Arbeiter-Bauern-Paradieses geschunkelt hatte, gaben die Neubauten zwei gefeierte Konzerte. "Seele brennt" dokumentiert, wie Heiner Müller die Combo gemeinsam mit der halben französischen Regierung Backstage beehrt.




Die Spontanität früherer Tage war einer immer stärker konzeptionellen Arbeitsweise gewichen. Die revolutionäre Energie war aufgebraucht. 1994 verlässt zuerst Bassist und Finanzchef Marc Chung die Band; wenig später geht der musikalische Kopf F. M. Einheit im Streit. Er erklärt zurückblickend: "Die Neubauten sind nicht mehr eingestürzt". Über seinen Ausstieg zeigt sich Bargeld heute noch beleidigt. Doch das bleibt der einzige Reibungspunkt in diesem Film. Man erfährt einiges über die Musiker, aber viel zu viel erfährt man nicht. Immerhin ist die Geschichte der Band überraschend gut dokumentiert - irgendwie hatten sie immer eine Kamera dabei. Nur leider nicht bei ihrem Konzert in der entkernten Ruine des Palastes der Republik vergangenes Jahr, als Musik und Stadt noch einmal gültig zusammenfanden. Wer die Musik der Einstürzenden Neubauten kennt, für den ist "Seele brennt" klingende Zeitgeschichte. Für alle anderen ist der Film eine laute Herausforderung.


Einstürzende Neubauten - Seele brennt Dtl. 2004. Regie: Christian Beetz, Birgit Herdlitschke, Mitwirkende: Blixa Bargeld, N. U. Unruh, F. M. Einheit, Alex Hacke, Marc Chung, Nick Cave u.a.; 61 Minuten, Farbe.