Tagebuch von Ulla Lenze
13. Mai, Köln.  

Ich esse, seit meiner Rückkehr aus Polen, mit einem gewissen Widerwillen. Eine Folge der Übelkeit, gegen die ich fünf Stunden im Minibus von Lublin nach Krakau anzukämpfen hatte. Eine Folge der Unruhe, bald wieder auf Reisen zu sein. Bald wieder dekontextualisiert zu werden, wo ich doch schon längst die Dinge nicht mehr zusammenbringen kann.

Die katholischen Nonnen am Flughafen von Warschau, bei unserer Ankunft. Weiße Saris mit tintenblauer Bordüre, die an der Bushaltestelle im Wind flattern. Sind sie nicht aus dem Orden von Mutter Theresa in Kalkutta? Es ist nicht meine Art, aber ich überwinde mich und frage sie. Ein nettes, kleines Geplauder, bis der Bus kommt, auch sie steigen ein, nachdem wir einander Gottes Segen gewünscht haben. Ich sitze vorn, mit dem Rücken zur Fahrtrichtung, und beobachte heimlich die Gruppe, die in den hinteren Teil eingestiegen ist. Sie holen die Schwächsten von der Straße und ermöglichen ihnen einen sanften Tod. Das ist es, was sie tun. Die Eindeutigkeit eines Lebens. Wie mich das trifft. Nach zwei Haltestellen stehe ich auf und gehe zu ihnen, ich möchte mehr wissen. Ich erzähle ihnen kurz, weshalb ich in Polen bin, und als sie nach meinem Buch fragen – das ist mir unangenehm ¬– berichte ich – ich will ihnen eine Freude machen – dass es da um eine Reise nach Indien und auch um Religiosität gehe, ja, ich gehe so weit, meine sonst als Frage formulierte Vermutung, dass im Westen dieses Gebiet im öffentlichen Diskurs vernachlässigt werde, zur These zu verschärfen. Und dass ich katholisch sei, sage ich. Was mir gleich ein kleines Medaillon der Mutter beschert. Nächstes Jahr (warum weiß ich es nicht längst?) sei der Papst in Köln, meiner Heimatstadt, und nun rechnen sie fest damit, dass ich mich da engagieren werde. Ich bringe es nicht fertig, sie zu enttäuschen. Außerdem spüre ich für die Dauer zweier Haltestellen plötzlich eine leise Freude über den Papstbesuch, ja, habe teil an dem Glück, in dem ich ihrer Meinung nach mich befinde und worüber sie selber nun glücklich sind. Auch bin ich für zwei Haltestellen überzeugt, dass die Mutter (die Mutter Gottes? Mutter Theresa? Oder gar die Devi? Ramakrishna, der Heilige aus Bengalen, sprach stets von der Mutter ) mir helfen wird, jetzt, wo ich ihr Medaillon habe.
    Es löst einen altbekannten Schmerz in mir aus. Herausgefallen zu sein aus etwas, irgendwann, und nicht genug Kraft gehabt bislang, das zu begrüßen oder gebührend zu bedauern.
    Glaubst du an etwas? fragt mich K., mein Mann, als ich wieder zurück an unserem Platz bin.
    An etwas glauben, doziere ich in sein Schweigen, setzt eine Trennung zwischen mir und der Sache voraus; es verhindert die Möglichkeit, Wahrheit zu erfahren, weil es mich immer auf Abstand hält.
    Aber das ist eine intellektuelle Ansicht, doziert er, das ist nicht glauben .
    Aber ich folge einem Instinkt, beharre ich (und bin mir schon nicht mehr sicher).

Mir nachträglich Erklärungen abfordern. Für Indien, für ein Musikstudium, für ein Philosophiestudium, fürs Schreiben; für Getanes, Unterlassenes und Zukünftiges.
´     Die schnellen Antworten. Die schnellen Sätze, die mich anfliegen. Das Spontane ein Garant für Authentizität. Manches: Ich habe vergessen, dass es nur provisorisch war, ich verkaufe es mir und anderen wie ein Schlusswort, zitiere sogar aus meinem eigenen Roman: Ich bin weggegangen, weil man sich nicht verändern kann, wenn man im Vertrauten bleibt. Eine Variante von: Ich wollte in Frage gestellt werden, deshalb bin ich nach Indien gegangen .
    Welches ich könnte so etwas jemals ernsthaft behaupten. Was, wenn es nach dem Befragen nicht mehr existiert?
    Wieder eine Luxusfrage.

Im Gespräch mit K. kommt es zu einer Korrektur: Nicht ich wollte je in Frage gestellt werden, sondern ich wollte das Leben, dessen ich überdrüssig war, in Frage gestellt sehen durch etwas Anderes. Ich wollte meinen Überdruss gerechtfertigt haben.
    Ich halte die beiden Welten in den Händen, halte sie gegeneinander – selber unversehrt. Die Welten auch; bekommen es gar nicht mit.

In Indien, das Gelächter der Reisenden untereinander, die heimlichen Verständigungen. Der Kellner im Zug, der, als er das Frühstück serviert, seinen Plastiklöffel extra an seinem schmutzstarrenden Hemd blankputzt und mir reicht. Lustig. Rührend. Anders. Interessant (das diplomatische Wort).

Eine Anfrage per Email: Ob sie mir bei meiner Ankunft in Damaskus nur den Taxifahrer schicken sollen oder ob es mir lieber wäre, wenn auch der nette deutsche Praktikant mit einem Schild auf mich warten würde? Vielleicht wolle ich ja auf der Fahrt vom Flughafen in die Wohnung lieber allein sein, um ungestört erste Eindrücke aufnehmen zu können.
    Man ist darauf bedacht, dass ich gleich etwas zu schreiben habe.


© Ulla Lenze 2004