Tagebuch von Ulla Lenze
19 Mai, Damaskus.  

Morgens ein paar erste Schritte allein. Langsam und wenig, das genügt schon. Es reichen ein, zwei Häuser, eine Straße, ein Häuserblock. Es reicht, zu sehen, wie hoch der Bürgersteig ist (hoch). Und wie das Bürgersteinpflaster aussieht (kleine Quadrate, eingebettet in Größere). Einmal über die Straße, allein und ohne Ampel. Warten, bis zwei Jungen kommen, mich ihnen anschließen, und mich still verabschieden. Lerne erst später am Tag, durch Beobachtung und Aufklärung, dass man einfach hinübergeht (am besten würdevoll und gelassen, manche Syrer kehrten sogar absichtlich den heranpreschenden Autos den Rücken zu), dass die Autofahrer ständig den Fuß auf der Bremse haben. Tatsächlich bringe ich, durch mein unrhythmisches Hasten und Zögern – man erwartet, dass ich einfach gehe - den Verkehr durcheinander: Mehrmals hält ein Auto schließlich an, man winkt mich mütterlich hinüber.

Telefonat mit K. Die Zeitversetzung (Satellit) macht das Gespräch unbequem; in meinen Satz fällt K.s verspätete Reaktion, so dass ich mir selbst ins Wort falle, schnell antworte, während mein letzter Satz erst bei ihm ankommt und so weiter. Man redet ins Leere, ins Ungewisse, und meint, Stimmen vom Band zu hören. Wir vereinbaren, anstelle eines Gesprächs, kleine abgeschlossene Reden zu halten, dann zu schweigen und sekundenlang das leere Rauschen auszuhalten (es nicht mit neuen Worten zu füllen), bis die Stimme des Anderen sich meldet, und ihn solange nicht zu unterbrechen, bis uns sein Schweigen erreicht.

Ich denke an meine Katze, die jetzt, wie K. berichtet, Spaziergänge durch seine Wohnung unternimmt.

Immer wieder Katzen (struppig, verwahrlost aber nicht mager, meist Schildpatt-, also Glückskatzen), und ich muss stehenbleiben: gucken, ob sie es ist. Zwei, die ängstlich schauen und zum Zaun fliehen, dort gemeinsam innehalten und mich lange aus gelben Augen ansehen. Wie gegossen plötzlich, zwei kleine Statuen.
   Ich komme mit sehr wenig Wirklichkeit aus.




© Ulla Lenze 2004