Tagebuch von Ulla Lenze
21. Mai.  

Erst spät, wohl gegen vier Uhr morgens, Schlaf gefunden. Gestern Abend bin ich von der vorläufigen Unterbringung im Goethe-Institut in eine Wohnung gezogen, die so groß ist, dass ich mich und meine Dinge vorsichtig auf zwei Zimmer verteile und die drei anderen Türen schließe. Nachts ein kleines verriegeltes Lager, Raum inmitten von Zimmern (Zimmer als Substanz). Morgens lange Strecken zurücklegen, hin und her zwischen Schlafzimmer und Bad, Schlafzimmer und Arbeitszimmer, in der Mitte der große Empfangsraum, ein Wohnzimmer, ein Salon mit Sofas und Tischen. Alte, wertvoll wirkende Möbel aus dunklem Holz, einige mit den typischen Damaszener Intarsien aus Perlmutt.
   Man hat mir zwei Damen, vielleicht auch Musen, zur Seite gestellt; beide können fließend Arabisch, beide kennen die Stadt, das Land und die Kultur wie ihre Westentasche. Zweimal, wir wollen zu den für mich in Frage kommenden Wohnungen, laufen wir durch die Altstadt; es bleibt nicht aus, dass sie mir dabei interessante Dinge erzählen und auf dieses und jenes zeigen. Ich schlage die Augen nieder, um mir den ersten unmittelbaren Eindruck für später aufzuheben. Ich freue mich auf einsame Wanderungen, auf mein inkompetentes Sehen, mein primitives Gucken. Es war schon immer so (vielleicht ein neuronaler Defekt?): Wenn man mir etwas zeigt, sehe ich es nicht mehr. Die Eltern, die auf etwas zeigen und das Angedeutete dadurch zum Verschwinden bringen (ist es nicht schön hier?). Was sie mir sichtbar machen: Ihre Verantwortlichkeit (Verwalter der Welt) und ihre Hoffnung auf Übertragung, wie Ansteckung. K., der mir freudig ein hochinteressantes Video über Chick Corea und Bobby McFerrin vorspielt, dessen Inhalt er mir bereits dreimal erzählt hat. Wenn man mir etwas zeigt, sehe ich es nicht mehr. (Ich sollte das sagen. Laut.)
   Man bringt mich am Abend zu meiner neuen Wohnung. In den Zimmern, seit längerer Zeit nicht mehr bewohnt, daher die Fensterläden verschlossen und zusätzlich dunkle Tücher vors Glas gespannt, die Luft alter Zeiten. Allein gelassen, öffne ich alle Fenster. Dann schnell zum Laptop: Das Aufrufen einer Seite (es sind drei Seiten bis zu meinem Emailkonto) dauert jeweils fünfzehn Minuten. Der Balken quält sich vorwärts zum Öffnen der letzten Seite, verharrt dann eigensinnig in dieser Unvollkommenheit. Ich gebe auf. Von K. im selben Moment eine SMS; wo ich sei, ob er anrufen könne (man kann von hier nur Inlandsgespräche führen).
    Später, morgen, jetzt nicht, antworte ich.
    Das Mobiltelefon klingelt; warum nicht jetzt? Weil ich den Anschluss mit dem Vermieter nebenan teile (Es ist Mitternacht und man würde das Klingeln im ganzen Haus hören).
    Ich erzähle ihm von meinen Musen. Es sei, als biete Syrien nicht Dekontextualisierung, sondern Kontextualisierung . Ein gemachtes Bett: Sehen Sie hier, der Glasbläser, sein Ofen brennt vierundzwanzig Stunden, darf nicht ausgehen, und Sie setzen sich einfach mal dazu, das ist schön. Und dort und da wird man Ihnen einen Tee anbieten, Sie können ihn gerne annehmen, dadurch entsteht kein Kaufzwang. Die Bedingungen der Möglichkeit von Wahrnehmung.
    Die Verhinderung der Möglichkeit von Wahrnehmung, beharrt K., und wir lachen.
    Vielleicht passiert das sehr oft. Bei vielen. Vielleicht ist es kein Defekt.

Wohnungen. Gestern Morgen, mit Musen und nettem deutschen Praktikanten durch die Altstadt bis vors Tor eines idyllischen Altstadtgebäudes. Dunkelheit, die sich öffnet, und der Umriss einer Frau in dunklem Schleier, die uns, nach herzlicher Begrüßung, durch einen Gang ins Licht eines Innenhofs lotst. Wir stehen in einem Märchen. Zitronenbäume, ein Brunnen, Ornamente und Pracht; die Ahnung, dass sie immer hier ist und nur jetzt, vorübergehend, in flaumigem Schlaf unter Staub, Ästen und Blättern (bis ein Damaszener oder ein Ausländer das alte, traditionelle Wohnen wieder …). Die Blicke entlang an den Wänden mit luftigen Hüllen aus grünen Ranken (überkochend vom Dach herab), durchs Blätterwerk hoch zu den Galerien; dahinter die Wohnungen. Eine davon meine? Ein Junge (es kommt mir jetzt so vor, aber ich glaube, er war älter, bestimmt schon erwachsen) wird sie uns zeigen. Eine steile, schmale Treppe hoch. Dann eine Tür, die stumm bleibt, die Klinke will nicht. Muss man mit Gewalt: Der Junge wirft sich mit dem Körper dagegen, nach einigen Anläufen springt sie beleidigt auf. An den trüben Fenstern weinrote Vorhänge, nein: Fetzen, die in leises Zittern geraten; über zerschlissenen Matratzen, einem halbzertrümmerten Schrank, wirbeln Staubfunken. Es muss ein anderes Zimmer gemeint sein. Wieder zurück auf die Galerie, zur nächsten Tür, die sofort nachgibt (verständigende Blicke: Hier sind wir richtig!). Aber noch einmal dieses Zimmer, es hat sich verdoppelt. Wir schauen zur Galerie gegenüber, es gibt ja noch eine Haushälfte, da sind noch mal Türen, da muss es sein. Jemand: Man zeigt uns erst das Falsche, damit wir uns nachher umso mehr freuen!
   Im Türspalt klemmt eine Zeitung. Sonst schließt sie nicht, erklärt der Junge treuherzig. Und öffnet sie weit: Hier wurde gefegt, kein Zweifel. Gibt es eine Küche? Ein Bad? Der Junge führt uns in einen kleinen Verschlag. Herd, Kühlschrank? Gibt es nicht. Nur ein Waschbecken und ein Regal, und in der Kammer daneben das Klo.
    Aber wenn man nun ein neues Schloss davorhängt? Und eine Herdplatte bringt? Strom gibt es hier doch, oder?
   Man rät mir ab.
Ja, es ist nicht einfach, hier eine Wohnung für einen Monat zu finden .
   Vielleicht gehörte das Suchen schon mit zu meinem Aufenthalt. Ein Eindruck, wie es sein kann. (Konzept der Authentizität.)

Am Morgen ein Lichtstrahl im Gesicht.


© Ulla Lenze 2004