Tagebuch von Ulla Lenze
29. Mai.  

Vor einigen Tagen: eine erste Stimme aus dem Literaturbetriebsbeurteilungsbetrieb. Angesichts des abgeschlossenen ersten Stadtschreiberpostens in Kairo und des beginnenden in Damaskus wartet alex in der Süddeutschen Zeitung mit einer polemischen Schnellsatire auf (K. in unserem zerhackten Telefonat: Wenn ich nicht wüsste, dass das am Ende des Artikels auch auf deine Kosten geht, hätte ich hier und da vielleicht gelacht). Bedauert wird, dass man Kairo „in den drei Wochen nicht einmal klar zu sehen“ bekommen habe. Abgesehen davon, dass die meisten Tagebucheinträge José A. Olivers gerade nicht aus schwieriger Poesie, sondern aus langen, narrativen und auch für unlyrischere Naturen anschaulichen Strecken bestehen (was man in der Eile oder um des Witzes willen schon mal unterschlagen darf): Man scheint von den verschickten Autoren zu erwarten, ja, zu fordern, was man selber praktiziert: Journalismus. Jedenfalls kein poetisches Sprachgewölk.
   Vielleicht hat man Recht: Vielleicht lässt die gebotene Schnelligkeit des Internet-Tagebuchs tatsächlich nur eine Inventarisierung des Faktischen zu, und wer von uns mehr versucht, gar den ‚poetischen Mehrwert’ anstrebt, dem er sich verpflichtet weiß (sonst säße an seiner Stelle vermutlich alex), muss entweder genial sein, Glück haben, oder auf die Schnelle sein poetisches Gewissen verraten.
  Und da wir so dumm oder so mutig sind, es immer wieder darauf ankommen zu lassen, müssen wir natürlich in Kauf nehmen, auch hier als Schriftsteller behandelt zu werden. Das heißt, es gibt Noten, und (manchmal muss es eben schnell gehen) auch für Texte, die gerade erst im Entstehen sind (Aus Damaskus sendet eine Dichterin Botschaften, die von Polen handeln) – welchem Journalisten würde solche Ehre zuteil?
  Wir sitzen hier und schreiben ins Ungewisse. Wir wissen nicht, was wir morgen, ja, im nächsten Moment erleben werden, und wir können unsere Texte, einmal im Äther, nicht wieder zurückholen, nicht mehr Hand anlegen. Natürlich wussten wir das vorher. Und natürlich möchten wir gelesen werden, und, ja, wir sind uns auch im Klaren darüber, dass der Betrieb sein Urteil nicht zurückhalten wird. Soll er auch nicht. Doch zur Schnellbelustigung möchten wir nicht hergenommen werden. Wir jedenfalls gehen vorsichtig zu Werke. Vielleicht ist ja das Bewusstsein einer notwendig gewordenen Zurückhaltung in Zeiten interkultureller Schnellverurteilungen gerade der Grund, weshalb wir hier sind.
  Wenn nun diese liebevolle Begleitung so weitergeht, wird sich das Projekt Midad vielleicht den Reality-Shows der Privatsender anverwandeln. Dann hätten die Leser bald die Möglichkeit, einmal die Woche den schlechtesten Schriftsteller rauszuwählen.




© Ulla Lenze 2004