Tagebuch von Ulla Lenze
1. und 2. Juni, Aleppo  

Ich habe die zweite Klasse nicht gesehen, aber die erste, man bezahlt für die viereinhalb-Stunden-Strecke Damaskus – Aleppo umgerechnet zwei Euro, sieht so aus:
   Ausladende, mit grünem Samt bezogene Sessel im Großraumabteil, je ein einzelner auf der einen und zwei auf der anderen Fensterseite; der Weg dazwischen so breit, dass man hindurchgehen kann, ohne Fahrgäste anzurempeln. Man kann auch sitzen, ohne jemanden berühren zu müssen, ohne beim Ausstrecken der Füße an die des Vordermanns zu stoßen. Die Klimaanlage arbeitet, aber es herrscht keine Eiseskälte wie in unseren im Mövenpickdesign gehaltenen ICEs.
   Alle anderthalb Stunden läuft jemand durch den Waggon und sprüht einen dezenten Raumduft über die Köpfe, alle zwei Stunden fegt ein anderer den Gang. Nach der ersten halben Stunde Fahrt erscheinen zwei Damen (in Dienstkleidung) und verteilen an jeden Fahrgast ein kleines Lunchpakt (zwei Croissants und ein Muffin in einem Karton), dazu eine Dose Cola. Nach einer weiteren halben Stunde kommen zwei Männer mit Müllsäcken (in Arbeiterkleidung) und sammeln die Verpackungen wieder ein. Danach nehmen sie zwischen den Fahrgästen Platz und verzehren ihre Lunchpakete.
   Das einzige Problem sind die Toiletten.

Der Honorarkonsul holt uns vom Bahnhof ab und führt uns in ein vornehmes Restaurant. Er sei öfter in Köln, erfahre ich. Und als ich weiterfrage, stellt sich plötzlich heraus: Vor drei Wochen saß er dort mit meinem Bruder mittags zu Tisch; sie sind Geschäftspartner.

Am nächsten Tag haben wir (die beiden deutschen Praktikanten und ich) einen Führer, Abdallah Hadjar, der uns in Atem hält mit seinen Kenntnissen. Bis zum Nachmittag haben wir die Zitadelle, das Simeonskloster und den Suq gesehen. Dort kommt uns ein Araber entgegen: You are the best three in this Suq!

In Aleppo scheint es im Übrigen wenig Frauen zu geben. Straßenlang bin ich die einzige. Die Praktikanten melden: Man starrt dir Löcher in den Rücken.

Abends eine Lesung zusammen mit Osama Isber, dem künftigen Stadtschreiber in Köln. Ich lese aus meinem Roman (was ich mir vorher an möglichen Einwänden ausmale, fällt hier anders aus als in Deutschland oder Polen) und aus dem Tagebuch. Osama, der die arabischen Übersetzungen vorträgt, liest außerdem einige seiner Gedichte. Seine Stimme ein Gesang in dem Innenhof der ehemaligen Schule.
   Eine Dame später zu ihm: Waren das Ihre Gedichte oder die von der deutschen Schriftstellerin?




© Ulla Lenze 2004