Tagebuch von Ulla Lenze
7. Juni.  

In meinem hochgeschätzten syrischen Verkehr passiert am Nachmittag, im Taxi auf dem Weg zu einer Verabredung am Thomastor, etwas, das sich als Bild in mir festsetzt: In diesem dichten Verkehr also, der mal vierspurig, mal fünfspurig, wie es gerade auskommt, aber nicht langsam, sondern eher wie ein entschlossen zügiger Fluss von Honig dahinfließt, da sehe ich, den Blick meistens nach rechts an den Geschäften entlang mitfahrend (ach was, hier gibt es schon diese und jene Firma?) im Augenwinkel etwas hochfliegen. Grauweiß: Es könnte eine Papiertüte sein, und damit könnte ich mich zufrieden geben, aber ich muss mich schnell umdrehen.
   Ein kleiner Hund. Im Kreis der Autos, die nun einen Bogen um ihn machen, vollführt er einen Tanz, einen letzten Tanz. Die Zuckungen, die ich von den Regenwürmern kenne, die wir als Kinder in der Mitte durchtrennt haben (stimmt es, dass sie dann weiterleben?), im Lärm der Motoren, diese kleinen, rasenden Luftsprünge, im schwarzen Nebel der Abgase ein einsames Aufbäumen, eine nicht mehr zu rettende Einsamkeit.

Am Bab Tuma ein paar Minuten zu früh. Ich gehe die Treppenstufen hoch, die in eine lange, schmale Gasse münden, da kommt jemand gelaufen, ein vielleicht Zehnjähriger, der ein großes Tuch zu einem Sack gebunden über den Rücken geworfen hat. Hinter ihm ein Mann, der ihm herrisch aber kooperierend etwas zuruft; der Junge hat Panik in den Augen. Und da löst sich, während er läuft (oder flieht?), die Schlaufe des Bündels. Büstenhalter! Ein roter und ein schwarzer mit Spitze fallen heraus, doch er läuft weiter aufs Ende der Gasse zu, wo er das Bündel vielleicht absetzt oder jemandem übergibt, und dann, geduckt und zögernd, zurück zum Anfang der Treppe geht, sich mehrmals umschauend, dort die Büstenhalter einsammelt und zurückläuft mit schmerzlich zusammengezogenen Augenbrauen. Alles an ihm hat etwas zutiefst Echtes. Echt, wie ein Laienschauspieler, der sich in seinem Bemühen, einen Dieb darzustellen, plötzlich verliert.

Der Praktikant hat neulich seine Geldbörse irgendwo liegen lassen, Tage später bringt man sie ihm vorbei: Der Finder ist so lange durch Damaskus gelaufen, bis er jemanden traf, der den blonden Mann auf dem Personalausweisfoto schon mal gesehen hatte. Finderlohn wollte er keinen.




© Ulla Lenze 2004