Tagebuch von Ulla Lenze
12. Juni.  

Ein Abend. Die Fenster offen, nur die Läden zugezogen, und durch die Ritzen zieht die Straße durchs Zimmer: Kinder, Wassermelonenhändler, Kanarienvögel, Autos. Wir beschließen ein paar Schritte durch den Abend. Immer derselbe Weg, auch für K., nach einer Woche, doch immer noch ein Gefühl der Verheißung. Schaufenster mit prächtigen Kleidern, die nur als Abendgarderobe gemeint sein können (Taft, Seide, Glitzer), vorbei am neongekühlten Nobel-Imbiss, am Stefanel- und Benetton-Laden, deren Schaufenster alle paar Tage erneuert werden, vorbei an den Pistazienverkäufern und Süßigkeitenläden, an Aquarien mit Damenschuhen und dem schwarzen Duft gerösteten Kaffees, und immer auf die anderen Schlenderer aufpassen, alle haben es auf die selbe, extrem langsame Art eilig: Verhüllte Frauen, manche nur mit einem Schlitz für die Sonnenbrille oder gar ein geschlossenes schwarzes Tuch über den Kopf geworfen (sehen sie noch genug?), daneben, ja, manchmal schlendern sie gemeinsam, eine Schicke, in ihren atemraubenden Jeans und Spaghettiträgern; vielleicht die Freundin, Schwester, Tochter oder gar Mutter der Verhüllten (wie man mir erklärt hat). Niemand wundert sich. Niemand glotzt. Und niemand mehr, der am liebsten die Kamera draufhalten würde; ich habe mich längst beruhigt.
   Eistüten wie kleine Fackeln in der Dämmerung (stets kommt noch etwas drüber: Pistaziensplitter, Erdbeer- oder Schokoladensirup, am besten beides), und alle paar Meter ein junger Mann, der einen Stapel T-Shirts vor sich herträgt und plötzlich blitzschnell eins vor uns entbreitet; ein anderer hält uns ein Bündel Herrensocken in den Weg, wir lehnen dankend ab (shukran!) und gleiten vorüber. Bis Mitternacht geht das so. Und wenn die unzähligen kleinen Geschäfte (noch nie ein Kaufhaus hier gesehen) bereits ihre Rolläden heruntergelassen haben, sitzen die Straßenhändler noch auf den Bürgersteigen, ihre Waren vor sich ausgebreitet: Sonnenbrillen, Büstenhalter, Gummischlappen, Küchenmaschinen, Tagesdecken, Zigaretten. Und gekochte Maiskolben, die in großen, dampfenden Kesseln schwimmen.
   Die Autos neben und zwischen uns wie Fußgänger; ihre Minimalbewegungen in ruhigem Gespräch mit unseren. Links die große orthodoxe Kirche; noch einmal versuchen wir, hineinzukommen, und wieder ist sie geschlossen. Die Zeiten der Liturgie nur auf Arabisch. Und ein paar Schritte weiter an der Kreuzung ein Kiosk mit einem arabischen Monopoly-Spiel im Fenster. Weitergehen und bald fließen wir, als Blutkörperchen mit den Anderen, durch die Kapillaren der Altstadt. Wir meinen, schon jede Gasse zu kennen, aber wieder hat man über Nacht neue eingefügt, kommen wir an neuen Madonnen in buntbeleuchteten Nischen vorbei, finden trotzdem noch rechtzeitig den Weg zur Ananias-Kapelle. Es geht hinab in eine dunkle Grotte. Der Papst ist da und eine Karte mit den Wegen des Paulus durch die Welt. Kein Kleingeld für die Opferkerze, immer ist das Kleingeld weg! Zurück auf die Gasse, die plötzlich nicht mehr weitergeht: Sie endet vor einem Haus, dessen Bewohner draußen beim Tee sitzen, uns auf Arabisch Willkommen zurufen und dann, auf Französisch, den Weg erklären und auch noch ein Stück mitlaufen. Die engsten Gassen (das war die erste Altstadtlektion) gehören nicht mehr zur Stadt, sondern bereits zum Haus. Dort fährt kein Auto mehr, dort spielen die Kinder Murmeln. Die Türen immer weit geöffnet, immer wieder unsere verstohlenen Blicke in die Innenhöfe, auf die Ornamente, die Kacheln, die Zitronenbäume. Da möchten wir auch leben. Viel schöner als bei uns in Köln! Immer wieder nicht mehr wegwollen. Und dann zurück den Weg, diesmal umgehen wir die Einkaufsstraße und laufen durch die Wohngegend, vorbei an großen Häusern, die nichts wollen, nicht protzen, aber, mit ihren breiten Balkonen und gestreiften Markisen, ihrem Sinn für gutes Leben, einfach schön sind. Und laufen weiter, bis wir einen Park erreichen. Am Eingang schon die Popcorn- und Brombeersaft-Verkäufer, Leben. Wir lassen uns im Gras hinter einem Lavendelstrauch nieder, die Bänke schon vergeben. Alle sind da. Kinder, junge Leute, Eltern, Greise, Reiche, Arme. Es geht auf elf Uhr zu. Die Kinder auf den Schaukeln Atemzüge in der Luft. Ein Mann, er könnte Taxifahrer sein, mit seinem kleinen Sohn, sitzen unter einer Palme und unterhalten sich. Eine Gruppe Frauen im Gras vor unserem Lavendelstrauch, haben ihr Abendbrot dabei. Mit seinem Motor-Go-Cart brummt ein kleiner Junge durch die Spaziergänger, umsichtig wie jeder Autofahrer hier. Die majestätischen Häuser ringsum, Lichter überall in den Fenstern. Es ist kein Park, es ist ein Garten. Ein Garten des Friedens, fast wie auf den Broschüren der Zeugen Jehovas, die das Paradies darzustellen versuchen. Hoffentlich verirrt sich George W. Bush niemals hierher.

Goethe in seiner Italienischen Reise: „Von Innsbruck herauf wird es immer schöner, da hilft kein Beschreiben.“




© Ulla Lenze 2004