Tagebuch von Ulla Lenze
14. Juni.  
In einem Interview mit einer deutschen Journalistin wurde ich gefragt, wie ich mich als westliche Frau hier in Damaskus fühle. Die Frage, auf den ersten Blick naheliegend, hat etwas Bodenloses. Sie setzt die erkenntnistheoretisch unmöglichen Fragen voraus, wie ich mich a) als westlicher Mann und b) als syrische Frau hier fühlen würde. Oder eben, und auch das ist schwierig, wie ich mich im Vergleich zu meinem Frausein in Deutschland hier erlebe.
   Weil das alles kompliziert und sophistisch zu werden droht, die schnelle Antwort: Belästigt wurde ich hier noch nie.
   Es kann aber auch daran liegen, dass ich die Sprache nicht kann. Wer weiß, was die Männer hier so alles sagen würden, könnte ich ein wenig Arabisch? Weiß aus einem Gespräch mit einer der Musen, dass der Taxifahrer neulich sie lieber auf den romantischen Kas’Yun Berg fahren und da den Arm um sie legen wollte. Oder überhaupt, dass, nachdem das Fahrtziel geklärt ist, als erstes die Frage nach dem Familienstand kommt. (Einer, als sie zugab, ledig zu sein: „Warum, Schwester, so hässlich bist du doch gar nicht!“).
  So etwas bekomme ich nicht mit.
  Ja, ich hätte das Gefühl, berichte ich, in erster Linie als Mensch wahrgenommen zu werden, und füge an, dass generell mein Eindruck sei, die Leute betrachteten hier einander zuerst als Menschen. Natürlich gebe es Schichten, aber es scheine kein Klassendünkel zu herrschen (wie bei uns: kaschiertes Kastensystem; Mülleinsammler im Zug würden sich bei uns in ihrer Pause nie zwischen die Fahrgäste setzen). 
  Und natürlich landen auch die Journalistin und ich, wie so oft in den Gesprächen hier, schnell beim Kopftuch.
  Dass ich - was die widerliche Debatte in Deutschland angehe, die die Kopftuchträgerinnen auf unverbesserlich rückständige Menschen mit der Neigung zum Terrorismus reduziere - gegen ein Kopftuchverbot sei, da Emanzipation, falls die Komplexität der Gründe des Kopftuchtragens mit dieser westlichen Kategorie überhaupt erfasst werden könne, nicht verordnet werden dürfe. Dass mir gleichzeitig aber viele Argumente für das Kopftuch immer weniger einleuchteten: zum Beispiel die Neutralisierung des Geschlechtlichen zugunsten eines unkomplizierten und auf Menschlichkeit basierenden Umgangs durch das Verhüllen der weiblichen Reize. Mein humanistisches und spirituelles Ich kann das noch verstehen; aber mein feministisches fragt sich: Warum müssen dann nicht auch die Männer Kopftuch und lange, warme Mäntel tragen? Üben denn die vielen gutaussehenden Syrer in Jeans und Polohemd neben ihren verhüllten Frauen beim Einkaufsbummel nicht ebenfalls Reize aus? Dieser Einwand hat meine syrischen (auch muslimischen) Gesprächspartner meistens amüsiert.
  „Durch das Kopftuch wird die Frau auf ihren Körper reduziert“ sagte neulich eine junge muslimische Syrerin (tuchlos) zu mir. (Das Verhüllen weist auf das zu Verhüllende, siehe Aleppo.)
  Es gibt jedoch ein Argument, bei dem ich passe, mich wehmütig in respektvolles Schweigen zurückziehe: Weil es im Koran so steht und wir an seine Wahrheit glauben.
  An etwas glauben. Geheimnis des Glaubens (Christliche Liturgie). Das Unverfügbare, der Sprung (Kierkegaard).
  Vor einigen Tagen stieg das Thermometer in die Höhe. Der damaszener Sommer. Mittags sind es neununddreißig Grad. Wozu der Glaube befähigen kann.
© Ulla Lenze 2004