Februar 2006
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Gedicht der Körper

Von Wuppertal in die Welt: Dem Choreographen Marco Goecke steht eine große Zukunft offen
Jochen Schmidt


Den jüngsten Ballettabend des renommierten Rotterdamer Scapino-Balletts teilt sich der junge deutsche Choreograph Marco Goecke mit Ed Wubbe, dem Chef des Ensembles. Das Thema des Abends mit dem Titel "Limbo" hat Wubbe vorgegeben: Dichtung. Aber nur er selbst hat sich daran gehalten. Zu einem gehäckselten und vom Dichter selbst gesprochenen Text von Hans Magnus Enzensberger, in dem es um das Scheitern einer Beziehung nach "vierzehn Jahren, neun Monaten und zwei Wochen" geht, hat Wubbe eine exzentrische Schwarzweiß-Choreographie geschaffen, von der schon beim Fallen des Vorhangs nur noch die in ständiger Veränderung begriffene Bühne von Amber Heij im Gedächtnis ist: "Was hast du gesagt?" Deshalb ist es am Ende keine Frage, wer an diesem Abend ästhetisch das Sagen hatte.


Marco Goecke


Denn Goecke hat sich um Wubbes thematische Vorgabe keinen Deut gekümmert, sondern, wie man das von ihm seit einiger Zeit gewohnt ist, einfach seiner Phantasie die Sporen gegeben. Außer dem Titel - dem "Hamlet"-Zitat "Der Rest ist Schweigen" - hat seine 40-Minuten-Choreographie mit literarischer Dichtung nichts im Sinn. Sie ist selbst ein Gedicht: ein Gedicht der Körper.

Auf der leeren, meistens im Halbdunkel belassenen Bühne überraschen, meistens nur in der Rückenansicht zu sehen, fünf Tänzerinnen und zehn Tänzer - von Michaela Springer in raffinierte Kostüme gekleidet, die mal den Rücken, mal die Brust nackt erscheinen lassen - das Publikum mit Bewegungen, wie man sie im Ballett bislang noch nicht kannte. Ein einzelner Tänzer eröffnet das Stück mit einem Salto rückwärts. Ein anderer Tänzer beschließt es am Boden kriechend. Dazwischen aber tobt und zittert, wogt und wallt das Stück, als habe der Biß der sprichwörtlichen Tarantel die Tänzer in Bewegung gesetzt. Rhythmisch schwankt die Choreographie zwischen hohem Tempo und gelassener Ruhe. Vor allem die Arme der Tanzenden scheinen ihr eigenes, rasantes Leben zu führen. Akustisch mischt der Choreograph Ryan Lawrences hektische Mundharmonika mit schrillen Schreien und den sanften Liedern von Stephen Foster. Doch hat er auch vor ausgedehnten Passagen der Stille keine Angst, und mit einer Szene, die acht veritable Alphörner auf die Bühne bringt, setzt er einen skurrilen Akzent.




Riesenjubel danach: es ist ein Einstand nach Maß. Denn Goecke, der fließend Holländisch spricht, weil er einen Großteil seiner Ausbildung an der Rotterdamer Ballettakademie absolviert hat, soll bei Scapino in jeder der nächsten Spielzeiten ein neues Stück choreographieren, und wenn der Stuttgarter Ballettintendant Reid Anderson den Holländern nicht um ein paar Tage zuvorgekommen und Goecke für die nächsten drei Spielzeiten einen Vertrag als Haus-Choreograph angeboten hätte, wäre der wohl fest in Rotterdam gelandet. Der Vertrag mit Stuttgart - "So etwas", sagt Goecke im Gespräch, "kann man nicht ausschlagen" - verpflichtet den Choreographen zur Schaffung eines neuen, nicht abendfüllenden Stücks pro Spielzeit fürs Stuttgarter Ballett, läßt ihm aber genügend Spielraum zum Arbeiten, wo immer er möchte.

Das Stuttgarter Engagement mit einem festen Monatsgehalt gibt Goecke zum ersten Mal in seinem Leben ein bißchen finanzielle Sicherheit. Der Choreograph ist 1972 in Wuppertal geboren und in Sachen Tanz ein Spätberufener, obwohl es natürlich zu Pina Bausch, der Wuppertaler Ikone, immer schon Beziehungen gab, wenn auch, zu Beginn, eher negative: Als sie mit ihm schwanger gewesen sei, habe seine Mutter eine der frühen Bausch-Vorstellungen in Wuppertal empört und vorzeitig verlassen, und weil es Winter war und die Straßen glatt, sei sie ausgerutscht und habe sich, "mit mir im Bauch", hingelegt - ein Vorfall, für den sich Pina Bausch, als sie davon erfuhr, zwanzig Jahre später entschuldigt habe.




Die Idee, Tänzer zu werden, kam Marco Goecke, als er 14 war und den Film "A Chorus Line" sah. Daraufhin nahm er zunächst einmal Unterricht im Jazztanz bei einer privaten Wuppertaler Tanzschule. Eine richtige Ausbildung erhielt Goecke am Kölner Institut für Bühnentanz, an der Rotterdamer Ballettakademie und bei der Münchner Heinz-Bosl-Stiftung. Sein erstes Engagement als Tänzer führte ihn gleich in eine der besten deutschen Ballettkompanien: an die Berliner Staatsoper Unter den Linden. Aber da habe, im Jahre 1995 und unter dem Regime von Michael Denard, "eine ganz furchtbare Stimmung" geherrscht, so daß Goecke rasch wieder das Weite suchte und nach einem Kellner-Job mitten in der Provinz landete: in Hagen. Hier tanzte er, mehr schlecht als recht, vier Jahre, und am Ende hatte er wieder Pech: als die Intendanz wechselte und sein Vertrag auslief, fehlten ihm drei Tage zu einer Abfindung.

Es waren Fritz Hoever und die Stuttgarter John Cranko-Gesellschaft, die den Arbeitslosen mit kleinen Auftragen über Wasser hielten. Der Umschwung ins Positive kam, als Goecke, im September 2002, eine Einladung nach New York erhielt und eine Choreographie für Tänzer des New York City Ballet entwickelte. Ein zweiter Auftrag schloß sich an: Peter Boal, Solist des New York City Ballet, bestellte das Solo "Mopey", das im März 2004 im New Yorker Joyce Theatre uraufgeführt und von der New York Times als "berührende Studie der Entfremdung" gelobt wurde. Zwischendurch hatte Goecke, mal eben, in Hamburg den nicht ganz unwichtigen Prix Dom Perignon gewonnen, und als Pina Bausch - bei der er schon einmal vorgetanzt hatte und bis in die Endauswahl gekommen war - ihn 2004 mit "Mopey" und "Blushing" zu ihrem Festival einlud, sah der 33jährige sich im siebten Himmel.




Seine Anregungen schöpft Goecke weniger von Vorbildern als aus dem eigenen Inneren. Auch wenn diese Stücke nicht unbedingt dem klassischen Kanon entsprechen, sieht er sich doch als Ballett- und nicht als Tanztheater-Choreograph. Das Tanzen, so gern er es hatte, hat er ganz aufgegeben, und auch auf das tägliche Training verzichtet er mittlerweile. Natürlich hat sich das an seiner Figur in Form eines Bauchansatzes deutlich niedergeschlagen. "Ich kann", sagt er, "zwar den Tänzern immer noch gut vormachen, was ich haben möchte. Aber den Mantel ziehe ich dabei nicht mehr aus."


SCAPINO Ballet Rotterdam