Februar 2006
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Jonathan Meese

Manchmal, wenn Jonathan Meese sehr erschöpft ist, oder wenn ihm die Knochen schmerzen, weil er wieder einmal irgendwo zwischen Berlin und Südkorea nach einer stundenlangen Performance schreiend und polternd von der Bühne gekracht ist, dann fährt er nach Hause zu seiner Mutter in Ahrensburg bei Hamburg.
Peter Richter


Jonathan Meese wurde zwar, als Sohn eines Walisers, 1970 in Tokio geboren, und er arbeitet – wenn er, wie gesagt, nicht gerade irgendwo anders auf der Welt herumbeserkert – meistens in Berlin. Ahrensburg ist aber das Zuhause, die Energiequelle, das ewige Kinderzimmer, Meeses Gralsburg. Von hier aus reitet Meese in die Schlacht gegen die furchtbaren Drachen und Dämonen da draußen, watet durch den Kultur- und Popschlamm des 20. Jahrhunderts, und läßt sich bei seinem einsamen, verzweifelten Kampf von einem Publikum bestaunen, das noch nicht begriffen hat, daß es seiner eigenen Erlösung beiwohnt. Stattdessen wird Meese oft beobachtet wie ein Komet, auf dessen Verglühen alle warten. Tatsächlich hatte kaum je ein deutscher Künstler soviel Erfolg in so jungen Jahren, kaum einer hat derart viel Materialaufwand betrieben und sich selber derart verausgabt.

Der Durchbruch kam 1998 bei der Berlin-Biennale, als Meese eine unüberschaubare Müllhalde pubertärer Obsessionen in das Postfuhramt gekippt hatte - ein Horrorkabinett zwischen Porno, Charles Bronson und Slayer. Später sah man Meese Performances machen, „Stalin Erwache“ oder „Erzrichard Wagner“ auf seine Installationen schreiben, mehrere Stunden lang tatsächlich mit Schaum vor dem Mund unter anderem Dinge wie „Heil Hitler“ schreien, und zum Schluß erschöpft in den eigenen Trümmern liegen bleiben. Meese hat seitdem mehr (und größere) Leinwände bemalt als die gesamte Leipziger Schule zusammen, er hat, wie er selbst vorsichtig schätzt, 15.000 Seiten Papier handschriftlich mit gewitterumwölkter Prosa vollgeschrieben, er hat Skulpturen gemacht, Schallplatten aufgenommen, Videos gedreht und überhaupt bisher kein Medium ausgelassen, das es für einen bildenden Künstler gibt.

Aber das Medium ist, anders als bei vielen anderen, noch lange nicht die Botschaft. Was ist sie dann? Um das zu ergründen, muß man etwas guten Willen mitbringen. Denn Meeses pathetisch umhermäandernde Wortgirlanden können, wenn man es sich sehr einfach macht, schnell den Eindruck erwecken, daß er ein bißchen spinnt, um sich wichtig zu machen. In Wahrheit sind sie aber eher ein erfreulich ehrliches Eingeständnis, daß er den unaussprechlichen Wahrheiten mit unzureichenden Worten suchend hinterherjapst. Die Gedanken rasen in Gefilde, wohin die deutsche Sprache nicht folgen kann. Denn grundsätzlich ist Meese selbst nur ein Besucher in seiner eigenen Kunst, ein Forscher, der wie Indiana Jones in die Tempel des Todes geraten ist, wo dann allerdings lauter Untote herumspuken: Stalin, Wagner, Pound, Alex de Large, Hitler – das sind immer nur neue Inkarnationen für das Extreme und Ultimative, dem Meese auch in seinen sprachlichen Manövern nachjagt – etwa wenn er die bösen Namen mit der Vorsilbe „Erz-“ überhöht.

Daß Meese deshalb immer gleich mit Beuys verglichen wird, ist allerdings Unsinn, denn es sind eben keine privaten Mythologien, die hier beschworen werden, sondern sie sind eminent öffentlich und für jeden zugänglich, der lesen kann und einen Fernseher besitzt. Es sind die Dämonen vom Rande des kulturellen Bewußtseins in Deutschland, in deren Kultstätten Meese auf eigene Faust herumstromert, „weil sonst keiner dort ist“. Wenn man sein Gewühle im Schlick des Totalitären unverantwortlich nennt, sagt er: „Die Verantwortung liegt beim Gegner.“ Wer gegen die Inkarnationen des Radikalen vorgehen will, müsse noch radikaler sein. Noch ultimativer. Der müsse sie in der Kunst übertreffen, um sie im wirklichen Leben als Albdruck und Faszinosum zu entwerten. Meese ist auf der Suche nach dem radikaleren Wort als dem vom „totalen Krieg“, nach dem radikaleren „Staatsbuch“ als die „120 Tage von Sodom“. Einerseits ist das ein Verlangen nach Dosenerhöhungen, die jedem Drogenberater Angst machen müßte. Andererseits ist es auch ein rührend trotziges Glaubensbekenntnis an die Kunst als abgezirkelten Tempelbezirk und an einen Kunstbetrieb, der diese gefährliche Glut wie ein Atommeiler bebrütet.


Jonathan Meese


-- Limited Edition: HOTEL A/W 2004
-- Mutter Meese, Mutter Parzival
-- Cosima guckt schon wieder fern

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